Taktieren

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Ich nehme hinter der Haustür Stellung und überprüfe noch einmal mein Aussehen im Spiegel. Denn wenn sich eines herausgestellt hat, dann ist das die Tatsache, dass es unter den Menschen dieses weit verbreitete Phänomen gibt, gutaussehenden Personen schneller zu vertrauen, als Hässlichen. Viele mögen das zwar sicherlich vehement abstreiten, aber es ist eine unumstößliche Tatsache, dass es Gutaussehende in der Gesellschaft um einiges leichter haben. Man traut ihnen viel weniger etwas Böses zu und man öffnet sich ihnen auch um einiges schneller. Irritierend, aber wahr. Ich selbst finde das zwar etwas paradox, da ein Großteil der Hässlichen doch eigentlich zu dem Teil der Gesellschaft gehört, der so unglaublich sozial eingestellt ist, aber gut. Ich verstehe die Menschen sowieso grundsätzlich nicht. Sie sind erbärmliche Kreaturen, die ohne einen Plan durch die Welt rennen und so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.

Falls die absurde Theorie mit dem Schützlingsding jedoch tatsächlich stimmen sollte und Amely mich so sieht, wie ich bin, muss ich mir zumindest um diese eine Sache keine Sorgen machen. Auch wenn ich es noch immer für total abwegig halte, dass das tatsächlich der Fall sein könnte. Wahrscheinlich habe ich die Zeichen nur falsch gedeutet und total überreagiert. Trotzdem muss ich dem Ganzen natürlich auf den Grund gehen. Sicher ist sicher. Und dazu bietet sich diese Gelegenheit hier ja geradezu an. Ich werde die Gunst der Stunde nutzen und herausfinden, was Amely wirklich in mir sieht, wobei ich ganz nebenbei noch ihr Vertrauen gewinne. Klingt doch easy. Eine meiner leichtesten Übungen.

Kurz streiche ich noch einmal mein Hemd glatt, atme tief durch, straffe meine Schultern und zaubere ein breites Lächeln auf meine Lippen. Heute sitzt mein Outfit im Gegensatz zu unserer letzten Begegnung wenigstens perfekt und ich sehe so gut aus, wie eh und je. Die eng geschnittene Jeans, die mir etwas zu tief hängt, lässt mich lässig wirken, das weiße T-Shirt, über dem ich offen ein rot-schwarz kariertes Hemd trage, verleiht dem Ganzen einen coolen Touch und die dazu passenden, schwarzen Nikes, die eigentlich noch gar nicht auf dem Markt erhältlich sein sollten, runden das Outfit ab. Reich zu sein hat eben doch seine Vorteile. Man kommt an Dinge, die für Normalsterbliche unerreichbar sind.

Zufrieden mit dem, was ich da sehe, warte ich darauf, dass das kleine Rumpelstilzchen endlich klingelt. Meine Güte, ist die lahm! Die Kleine sollte eindeutig mehr trainieren. Würde ihrer Figur auch nicht schaden, wenn sie sich sportlich ein wenig betätigt. An ihrer Stelle wäre ich in der gleichen Zeit bereits dreimal um das ganze Haus gelaufen. Was dauert denn da bitteschön so lange? Ist sie unterwegs eingeschlafen oder den Hang wieder hinuntergerollt? Muss ich kommen und schieben helfen?

Ungeduldig trete ich von einem Fuß auf den anderen. Wenn sie nicht gleich da ist, werde ich ihr die Tür mit den Worten vor der Nase zuschlagen:

"Lahme Schnecken haben keinen Zutritt zu Häusern von scheiß Schweinen!"

Das hätte sie nach der Aktion mit meinem Auto auf jeden Fall verdient. Sie sollte sich wohl besser um ihre Kondition und natürlich auch um ihr gesamtes Erscheinungsbild kümmern, bevor sie sich ungebeten in das Leben anderer einmischt. Bei ihrem Anblick läuft selbst der Durchschnitt schreiend davon. Ob sie wohl je einen festen Freund gehabt hat? Ich bezweifle es ja sehr. Wahrscheinlich hat es bis jetzt kein Kerl länger als einen Tag mit ihr ausgehalten, einmal abgesehen von Nicolas. Aber diesen Waschlappen kann man auch nicht wirklich mitzählen. Der ist eine solche Pussi, dass er auch als Mädchen durchgehen könnte. Der Typ hat absolut keine Eier in der Hose. Erbärmlich! Vielleicht ist er insgeheim ja sogar tatsächlich schwul? Könnte durchaus hinkommen.

Das laute Schrillen der Klingel katapultiert mich aus meinen Überlegungen zurück in die Realität. Ich versuche meine Aggressionen gegenüber der Person, die da vor meiner Tür steht, zur Seite zu schieben und warte noch kurz, um mich wieder in den Griff zu bekommen. Ich muss nett und zuvorkommend bleiben. Etwas anderes hilft mir im Moment nicht weiter. Auch, wenn ich bei dem bloßen Gedanken daran kotzen könnte.

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt