Nächtliche Verwirrung

104 18 9
                                    

Im Schlafzimmer ist es dunkel. Ich brauche einige Zeit, um etwas erkennen zu können. Dann kann ich jedoch tatsächlich alles im Raum gestochen scharf ausmachen. Ich sehe jedes noch so kleine Staubkorn, jede Falte in Amelys Bettdecke und kleine Schweißperlen, die ihr auf der Stirn stehen. Ich vergewissere mich sicherheitshalber, ob sie auch wirklich schläft, doch ihr Atem geht gleichmäßig und ihr Herzschlag klingt ruhig. Also beginne ich, mich genauer im Raum umzusehen.

Dort, rechts von mir, ist ein großer, weißer Kleiderschrank mit verspiegelter Front, vor dem sich ein Berg Klamotten häuft. Zwei weiße Teppiche liegen rechts und links neben dem Bett. Jedoch sind diese ebenfalls unter einer Schicht Klamotten begraben. Auf dem Nachttisch, der links neben dem schwarzen Boxspringbett steht, stapeln sich Bücher aller Art und Blätter, die sie wohl für ihr Studium benötigt. Das riesige Bett, das beinahe den ganzen Raum ausfüllt, ist dabei das einzige Möbelstück in der ganzen Wohnung, das zumindest etwas hochwertiger wirkt. Bei dem Kauf ihres Bettes hat sie also nicht gespart.

"Wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, dass sie es so gemütlicher hat, wenn sie es mit Nicolas treibt", streut meine innere Stimme Salz in die offene Wunde. Ja, das gefällt ihr!

Ich fühle, dass sich ein Taubheitsgefühl von meinen Fingerspitzen aus in meinem ganzen Körper auszubreiten beginnt. Dies ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass ich bald explodiere, wenn es so weiter geht. Ich bin ein schlafender Vulkan, der bei der nächstbesten Gelegenheit ausbrechen kann. Dann werde ich Amelys erbärmliche Existenz ausradieren, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und sollte es so weit kommen, gibt es für mich kein Halten mehr. Auch nicht vor ihrer Seele.

Ich atme tief durch und versuche meine durcheinanderwirbelnden Gefühle unter Kontrolle zu bringen, was nicht gerade von Erfolg gekrönt ist. Meine Nasenflügel blähen sich heftig auf und mein Mund ist zu einer schmalen Linie verkniffen.

"Reiß dich gefälligst zusammen, Thomas!", weise ich mich innerlich selbst zurecht. Aber auch das verfehlt den gewünschten Effekt. Vor mir sehe ich Amely und Nicolas, wie sie sich lusterfüllt stöhnend in den Laken wälzen und ich kann sogar deutlich ihre Stimme hören, wie sie seinen Namen schreit. Angewidert schüttelt es mich und ich muss einen Würgereiz unterdrücken.

Hastig wende ich mich dem Bett zu und mein Blick wird sofort wie magisch von einem Bündel roter Locken angezogen, das sich deutlich von dem weißen Bettbezug abhebt. Ich folge ihm bis zu dem Kopf, der beinahe in dem riesigen Kissen versinkt. Das kleine Rumpelstilzchen sieht so unschuldig aus, wenn es schläft. Ganz friedlich, als könne sie keiner Fliege etwas zu Leide tun.

Amely liegt auf der Seite, den Mund leicht geöffnet, etwas Speichel läuft ihr aus dem Mundwinkel und tropft auf ihren Arm hinab. Eigentlich hasse ich es, wenn Kinder oder Erwachsene im Schlaf sabbern, aber bei meinem kleinen, menschlichen Schützling sieht das irgendwie beinahe süß aus. Aber nur beinahe. Ihre Augenlider flattern leicht und sie murmelt im Schlaf leise vor sich hin. Ich kann jedoch beim besten Willen nicht verstehen, was sie da vor sich hinbrabbelt.

Ich muss unwillkürlich schmunzeln, als das kleine Rumpelstilzchen sich auf die andere Seite dreht und dabei beinahe aus dem Bett fällt. Es braucht einen Augenblick, bis ich mich wieder daran erinnere, warum ich überhaupt hergekommen bin. Ich bin schließlich nicht zum Spaß hier.

Entschlossen straffe ich meine Schultern, mache einen großen Schritt nach vorne und konzentriere mich auf mein Vorhaben. Das altbekannte Kribbeln beginnt durch meine Glieder hindurchzufließen und hinterlässt das berauschende Gefühl der Stärke, das ich schon viel zu lange nicht mehr zugelassen habe. Ich genieße es ausgiebig in vollen Zügen und ein wohliger Schauer durchläuft mich. Erleichtert atme ich tief durch. Ahhh! Ja! So muss es sein! Ich habe eindeutig das Richtige getan. Es war die richtige Entscheidung herzukommen. Das hier muss ein Ende finden. So schnell wie möglich. Ich halte das keine Sekunde länger aus. Es zerreißt mich zwar innerlich bei der Vorstellung, nie mehr Streitereien mit dem kleinen Rumpelstilzchen austragen zu können, nie mehr ihre genervte Stimme zu hören und nie mehr ihr glockenhelles Lachen zu vernehmen, wenn ich sie necke, aber das werde ich schon verkraften. Schließlich habe ich immer noch die Option alles zu vergessen, wenn ich von hier verschwinde und nie wieder nach Santaville zurückkehre. Und von dieser werde ich höchst wahrscheinlich auch Gebrauch machen.

Die Schatten beginnen um meinen Körper herumzuwirbeln und vollführen einen eigentümlichen Tanz, als würden sie einer einstudierten Choreographie folgen. Ich gebe mich dem Schauspiel für einen Moment voll und ganz hin und vergesse alles andere um mich herum. Es ist jedes Mal wieder faszinierend diesem Spektakel beiwohnen zu können. Und egal, wie oft ich es schon erlebt habe, es übt eine Anziehungskraft aus, die nie verloren geht. Wenn das kleine Rumpelstilzchen das sehen könnte...

Erschrocken über meine eigenen Gedanken konzentriere ich mich erneut auf Amely, die noch immer an derselben Stelle des riesigen Bettes liegt und weiterhin friedlich träumt. Ohne zu ahnen, dass ihr Ende kurz bevorsteht.

"Irgendwelche letzten Worte?", hake ich im Stillen nach und überlege mir, was das kleine Rumpelstilzchen wohl geantwortet hätte, wenn sie wüsste, was gleich auf sie zukommt. Wahrscheinlich würde sie mit fester Stimme etwas in der Art erwidern:

"Ich habe nichts in meinem Leben bereut. Es war ein wunderbares Geschenk, egal wie viel Schlechtes mir auch widerfahren ist. Ich bin so dankbar dafür. Bitte sag meiner Schwester, wie sehr ich sie liebe. Und Tommy, pass auf dich auf, du alter Pessimist!"

Ein winziges Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Ja, dieses Mädchen ist schon ein Fall für sich. Sie ist mit Nichts und Niemandem zu vergleichen, dem ich je begegnet bin. Und das muss etwas heißen. Im Laufe der Jahre bin ich schließlich bereits so einigen Personen über den Weg gelaufen.

Seltsamerweise kommt mir gerade in diesem Moment das Aufeinandertreffen mit Larissa in den Sinn, die sich mit ihren letzten Worten gewünscht hat, dass Amely mich fertig macht. Und irgendwie ist ihr Wunsch ja sogar in Erfüllung gegangen. Sie hat ihren letzten Willen bekommen, auch wenn das kleine Rumpelstilzchen es zum Glück nicht geschafft hat, mich ganz zu vernichten. Das konnte ich gerade noch so verhindern.

Ich forme aus den Schatten ein langes, spitzes Messer und richte es genau auf die Stelle, wo Amelys Herz noch immer gleichmäßig schlägt. Ihr Herz, das ich gestern Mittag noch so deutlich an meiner Brust gespürt habe. Tja, das war es jetzt wohl. Ein für allemal aus und vorbei.

"Mach's gut. Lebe wohl, kleines Rumpelstilzchen. Du warst etwas wirklich... Besonderes für mich und wirst es auch immer bleiben. Hoffe ich zumindest. Noch einmal mache ich so etwas nämlich garantiert nicht mit."

Ich lache leise auf. Nein, bestimmt nicht. Nie wieder so ein Scheiß.

"Ich weiß ganz genau, dass es keinen zweiten, menschlichen Schützling, wie dich auf dieser Welt gab, gibt und geben wird. Von daher bin ich froh, dass ich bei all dem Übel, wenigstens an dich geraten bin. Naja. Ich hoffe einfach, dass du es bis in den Himmel schaffen wirst. Denn wenn es jemand verdient hat dort reinzukommen, dann bist es du. Auch, wenn das, was du gestern abgezogen hast, nicht gerade die feine, englische Art war. Aber ich vergebe dir. Du bist mir ähnlicher, als gedacht. Alle Achtung! Ich bin beinahe stolz auf dich. Und wer bin ich schon, dass ich über dich urteilen kann? Ich mag dich. Wirklich. Du bist so anders, als alle anderen, aber das durchaus nicht im negativen Sinne. Wären mehr Menschen, wie du, wäre die Erde auf jeden Fall ein besserer Ort. Daher überlasse ich dir auch deine Seele, obwohl ich weiß, dass ich damit den Leckerbissen des Jahrhunderts versäume. Aber egal. Ich werde schon noch genügend schmackhaftes Essen bekommen. Schließlich habe ich noch ein paar Jahrtausende vor mir. Also lebe wohl, Kleines. Ich werde dich auf eine seltsame Art und Weise vermissen. Und das meine ich genau so, wie ich es sage", beende ich tonlos meinen Monolog. Warum auch immer ich das überhaupt getan habe, es fühlt sich nach dem richtigen Abschluss an.

Mit einer gewissen Endgültigkeit senke ich die schwarze Klinge nach unten, die vom Farbton her perfekt in die Wohnung des kleinen Rumpelstilzchens passt. So sieht also Amely Heiß' Ende aus. Kein großer Abgang als professionelle Kriminologin, wie sie es sich eigentlich gewünscht hat. Aber naja. Man kann eben nicht alles haben. Das muss wohl oder übel jeder irgendwann einsehen.

Plötzlich erregt da ein leises Rascheln meine Aufmerksamkeit. Amely stöhnt auf, als würde ihr etwas große Schmerzen verursachen und wälzt sich auf die andere Seite. Ich halte den Atem an und warte lauernd, wie ein Raubtier. Ich habe Zeit, muss nur den richtigen Augenblick abwarten. Gleich wird es vorbei sein.

Gerade, als ich aushole, um endlich zuzustechen, erklingt ein Wort, so klar und deutlich, dass es keinen Zweifel daran gibt, was es bedeutet. Es sind nur fünf winzige Buchstaben und doch treffen sie mich so unvorbereitet, dass ich erschrocken zurücktaumle:

"TOMMY!!!"

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt