Ruf der Vergangenheit

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~ Sommer 158 v. Chr. ~

Ich bin hundert. Um genau zu sein hundert Jahre, fünf Stunden und elf Minuten. Endlich! Nach so langer Zeit ist der Tag tatsächlich gekommen. Ich freue mich schon seit ich denken kann auf dieses große Ereignis. Vor allem darauf, dass ich nun wirklich volljährig geworden bin. Schwer zu glauben, aber wahr. Es ist noch besser, als ich es mir vorgestellt habe. Denn diese Tatsache bedeutet wiederum, dass meine lästigen Eltern mir von nun an nichts mehr zu sagen haben. Wobei sie das ja sowieso nie wirklich getan haben. Es ging ihnen schließlich immer nur um sich selbst. Sie kümmern sich so sehr um mich, wie zwei Raubtiere um ein Stück Brot. Nur wenn ihnen etwas nicht passt, mischen sie sich ein, um mir eine Predigt über dies und das zu halten. Ansonsten lassen sie mich weitestgehend in Frieden. Zum Glück. Ich will gar nichts mit ihnen zu tun haben. Am liebsten würde ich abstreiten, dass ich sie überhaupt kenne. Sie sind Abschaum.

Eigentlich haben meine Eltern noch nie Interesse an mir gezeigt. Ich war gut genug, um im Haushalt zu helfen, Besorgungen zu machen, Geld und Essen aufzutreiben, aber das war es dann auch schon. Warum sie mich überhaupt bekommen haben, ist mir noch immer ein Rätsel. Wie auch immer. Ab heute hat mich das nicht mehr zu interessieren. Ich bin ein freier Faceless. Von nun an kann ich tun und lassen, was ich will. Und das werde ich ausnutzen. Nie wieder langweilige, gezwungene Abende mit diesen... diesen verabscheuungswürdigen Personen!

Ich schiebe die bedrückenden Gedanken an meine Eltern genervt beiseite. Sie gehören sowieso nicht zu einem Geburtstag. An diesem großen Tag vergisst man für kurze Zeit all seine Sorgen und Probleme, um glücklich zu sein. Und genau das werde ich jetzt auch tun. Einfach abschalten und genießen. Und ich weiß auch schon ganz genau, wie ich das anstellen werde. Denn was wäre ein Geburtstag ohne eine Feier mit seinen besten Freunden? Daher habe ich für heute Abend auch alle zu unserem eigenen Wasserloch eingeladen, das gar nicht weit von unserem großen, gemütlichen Zelt entfernt liegt. Es wird bestimmt lustig werden. Auf jeden Fall besser, als den Tag daheim zu verbringen.

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Die Sonne beschließt gerade unterzugehen, als ich mit einem Kamel, das mit Essen und Trinken beladen ist, zu dem vereinbarten Treffpunkt aufbreche. Es ist schwül und drückend heiß. Aber das macht mir nichts. Hitze hat mich noch nie gestört, genauso wenig wie die Kälte. Wobei ich die Schwüle irgendwie lieber mag. Diese wohlige, kuschlige Wärme, die einem eine gewisse Geborgenheit gibt. Vor allem hier, am Rande der Wüste, ist sie immer zu spüren. Das genieße ich sehr.

Mir gefällt unsere kleine Oase. Ich lebe gerne hier. Ab und zu kommen ein paar Nomaden vorbei und berichten Geschichten aus fernen Ländern, aber ich will gar nicht weg. Ich habe hier mein Zuhause. Zwar behaupten meine Eltern immer, wir Faceless hätten kein Zuhause, schließlich müssten wir sowieso wieder von hier verschwinden, wenn die Leute Verdacht schöpfen und ich würde das alles bald verstehen, aber ich habe hier meine Freunde und daher werde und will ich das gar nicht einsehen. Auch wenn ich im Gegensatz zu allen anderen uralt bin, fühle ich mich noch immer, als wäre ich gerade erst zwanzig geworden. Oder neunzehn. Mir wurde erklärt, dass wir Faceless ein anderes Zeitverständnis haben und erst mit unserer Volljährigkeit wissen, wer wir sind, was ich auch nicht so ganz begreife, aber was soll's. So schnell werde ich meine Freunde hier nicht zurücklassen, auch wenn ich es irgendwann natürlich muss. Schließlich verändere ich mich nicht mehr. Trotzdem sind sie alles, was ich habe. Meine Familie. Auch wenn sie Menschen sind. Was das Problem daran ist, habe ich auch noch nicht so ganz kapiert. Meine Eltern hassen jeden Menschen von vornherein abgrundtief. Warum auch immer. Sie sind uns doch im Grunde genommen gar nicht so unähnlich.

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt