Überraschung

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"Es ist wirklich süß, wie du dich freust. Erinnert mich ein wenig an meine kleine Cousine Nancy. Die ist vor kurzem gerade vier geworden. Vielleicht noch eine kleine Pirouette oder wie wäre es mit einem Spagatsprung? Ein Tütü wäre auch ganz nett. Dann wäre die Performance endgültig zirkusreif. Vielleicht würdest du mit der Nummer ja sogar berühmt werden."

Entsetzt halte ich mitten in der Bewegung inne. Woher weiß diese vorlaute Göre, was ich tue? Eilig will ich zum Rand des Balkons hasten, stolpere jedoch über die leere Bacardiflasche, die ich eben auf dem Boden abgestellt habe, rudere wild mit den Armen, verliere das Gleichgewicht und schlage mit einem erstickten Aufschrei der Länge nach auf dem Boden auf. Heute ist wirklich nicht mein Tag. Oder besser gesagt ist das hier nicht gerade meine Woche, das trifft es wohl eher.

"Was machst du denn da? Knutschst du vor Dankbarkeit den Boden ab oder betest du seit neustem zu Allah? Das ist aber übrigens die falsche Himmelsrichtung. Nach Osten geht es dort lang", lacht Amely belustigt auf.

Ich stutze. Ihre Stimme kommt nun nicht mehr aus dem Lautsprecher meines Handys, sondern von irgendwo unter mir, aus meinem eigenen Garten. Schnell rapple ich mich wieder auf, klopfe mir den Dreck von der Hose, fahre mir mit den Fingern durch die Haare und trete ans Geländer heran. Und tatsächlich. Dort, direkt unter mir, steht das kleine Rumpelstilzchen und feixt. Wie ist die denn bitte da hingekommen?

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fährt sie fort:

"Ach, da bist du ja wieder! Du fragst dich sicherlich, was ich hier zu suchen habe? Nun, als du dich nicht gemeldet hast, habe ich bei der Polizei nachgefragt, auf wen das Auto gemeldet ist, das da im Parkverbot vor dem Hundehimmel steht und mit ein paar Tricks habe ich ihnen die Adresse des Halters entlockt. Ich bin eben gut, was? Nun kannst du dein Auto beim Abschleppdienst abholen. Ups! Dumm gelaufen würde ich sagen."

Gespielt erschrocken schlägt sie sich die Hand vor den Mund, wobei ihre Augen freudig aufblitzen. Ihr scheint das Ganze sichtlich Spaß zu machen. Ich schnappe empört nach Luft, doch sie ist noch immer nicht fertig:

"Weißt du, Tommy, ich habe mir nur Sorgen um dich gemacht. Nicht, dass du dich nachher noch selbst umbringst, bevor ich es tun kann."

Nun ist es an mir verächtlich aufzuschnauben. Wenn ich mich umbringen könnte, hätte ich es schon längst getan:

"Das ist so liebreizend von dir! Dann komm doch hoch und tu, weshalb du hergekommen bist. Du wirst es sowieso nicht schaffen."

Das kleine Rumpelstilzchen verdreht nur die Augen und versteht natürlich nicht, was ich eigentlich damit sagen will:

"Glaube mir, ich würde das hinbekommen. Unterschätze ja nicht mein Verlangen dich tot zu sehen. Außerdem weiß ich genau, wie man den perfekten Mord begeht, ohne dass man mich schnappen wird. Ich studiere Kriminologie, schon vergessen?"

Ein Schmunzeln lässt meine Mundwinkel unwillkürlich nach oben zucken:

"Ja. Natürlich. Dann nehme ich meine Aussage selbstverständlich zurück. Dass du so ein Genie bist, habe ich voll und ganz verdrängt. Wie kann ich das nur wieder gutmachen?"

Das kleine Rumpelstilzchen legt den Kopf etwas schief und überlegt. Es sieht irgendwie beinahe süß aus, wie sie so angestrengt vor sich hin grübelt. Zumindest, wenn man in ihrem Zusammenhang das Wort süß überhaupt verwenden kann. Ihr Gesichtsausdruck wirkt dann um einiges härter, irgendwie stoisch. Sie legt die Stirn in Falten, kneift die Augen fest zusammen, sodass nur noch zwei grüne Schlitze übrig bleiben und ihre Lippen verwandeln sich plötzlich zu einer schmalen Linie, noch schmaler, als sie es sonst schon sind.

Halt! Stopp! Sie ist nicht süß, sondern lästig. Sie ist nur ein weiteres, gewöhnliches Opfer. Ich will sie nicht flach legen, sondern nur fressen.

Sofort höre ich auf zu grinsen und stelle mich aufrechter hin. Ich muss aufpassen, wie ich mich verhalte. Gerade bin ich, dank den neusten Ereignissen, zu euphorisiert, um klar denken zu können. Ich muss auf der Hut sein. Nicht, dass ich noch etwas tue, was ich später bereuen werde.

"Wie wäre es, wenn du mich zu dir in die Wohnung kommen lässt, mir auf Knien sagst, wie toll ich bin und anschließend noch eine heiße Schokolade spendierst? Das bist du mir, wie ich finde, auf jeden Fall schuldig. Hm... und eine Entschuldigung wäre wohl auch angebracht. Das wäre das Mindeste, was du tun kannst", schlägt das kleine Rumpelstilzchen vor. Sie blickt mich herausfordernd an und zieht fragend eine Augenbraue in die Höhe.

Kurz wäge ich ihr Angebot ab. Das hier ist die einmalige Chance wieder alles gerade zu biegen. Ich könnte alles wieder gutmachen, was ich gestern bei meinem Ausbruch verbockt habe. Damit würde ich meinem Wunsch, ihre Seele zu bekommen, wieder einen Schritt näher kommen. Ich weiß zwar, dass ich unter normalen Umständen niemals jemanden in mein Haus lassen würde, der am Ende des Tages noch lebt, aber was soll's. Amely wird auch bald unter der Erde liegen. Wenn nicht morgen, dann übermorgen.

Daher nicke ich zögernd. Es scheint im Moment das Beste zu sein, ihr den netten, reumütigen Freund vorzuspielen. Wenn es hilft, gut. Ich habe nämlich schon wieder einen riesengroßen Hunger auf eine Seele. Vor allem auf die Seele des Mädchens, das dort unten in meinem Garten steht und mich mehr als jede andere Person aufregt. Das Verlangen ist gewaltig. Größer, als bei einem Alkoholiker, der an einer Bar vorbeigeht.

Ein Lächeln erscheint nach dieser Antwort auf Amelys Lippen und sie nickt zufrieden:

"Dann bis gleich vorne an der Haustür. Bin gespannt, wie das Haus eines scheiß Schweins von innen aussieht."

Ich lache laut und herzhaft auf und gehe dann kopfschüttelnd vom Geländer weg nach drinnen. Dieses Mädchen! Wirklich unglaublich. Noch nie ist mir so jemand, wie sie, untergekommen. Das kleine Rumpelstilzchen ist verrückt, das muss es sein. Irgendetwas scheint mit ihrem Gehirn nicht zu stimmen. Anders kann ich mir das alles nicht erklären.

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt