Ungeschönte Wahrheit

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"Meine Eltern haben lange bevor sie mich zu sich geholt haben, versucht ein Kind zu bekommen. Jedoch ohne Erfolg. Egal, was meine Mutter auch getan hat, um schwanger zu werden, es hat einfach nicht funktioniert. Und wer meine Eltern kennt, der weiß, dass sie das beide ganz schön belastet hat. Bei ihnen muss nämlich alles und jeder perfekt sein und huch! Plötzlich sind sie diejenigen, die diesem Ideal nicht entsprechen", Amely schnaubt verächtlich auf, bevor sie fortfährt, "all ihre Freunde und Bekannte wurden Eltern, nur ihnen fehlte das große Babyglück. Also beschlossen sie irgendwann schweren Herzens, ein Kind zu adoptieren und tatatataaa, das war ich. Damals lebte ich noch in einem Heim. Ich kann mich zwar nicht mehr richtig daran erinnern, da ich erst ein halbes Jahr alt war, als ich dorthin kam, aber ich weiß noch, dass es schrecklich war. Die Angestellten waren furchtbar und die Kinder gemein. Einmal habe ich an meinem Geburtstag zum Beispiel eine Puppe von meinen leiblichen Eltern geschenkt bekommen. Es war zwar nur eine Alte, Billige, doch es war alles, was ich von ihnen besaß. Ich war so glücklich. Doch schon am nächsten Tag hat sie mir ein älteres Kind weggenommen und ihr den Kopf abgerissen. Es war keine schöne Zeit."

Das kleine Rumpelstilzchen stockt und sieht aus dem Fenster. Ihr Blick ist abwesend und ich erkenne in ihren grünen Augen eine tiefe Zerrissenheit. Behutsam lege ich ihr meine Hand auf den Arm und warte, bis sie sich wieder gefasst hat. Sie lächelt mich schwach an, strafft die Schultern und räuspert sich:

"Somit hatte ich wieder nichts mehr, was mich an meine eigentliche Herkunft erinnert. Ich habe stundenlang geweint. Meine leiblichen Eltern waren nämlich beide drogenabhängig und einfach überfordert mit mir und meinem Bruder. Wir wurden kurz nach der Geburt aus der Familie geholt und bevor du fragst, ja, eigentlich habe ich auch noch einen Bruder, der jedoch irgendwann ebenfalls abgerutscht und auf die schiefe Bahn geraten ist. Er wurde nämlich nicht da herausgeholt. Aber was will man erwarten bei den Vorbildern. Schlechte Gene oder sowas wurde mir gesagt. Haha! Es ist schon ein Wunder, dass wir beide überhaupt gesund zur Welt gekommen sind und keine bleibenden Schäden davongetragen haben. Naja.... Ich habe meinen Bruder bisher nur ein einziges Mal kurz getroffen, aber keine Ahnung, wo er sich im Moment herumtreibt. Ich habe keinen Kontakt zu ihm. Er ist neun Jahre älter, als ich. Hm... auch egal."

Ich weiß genau, dass es nicht egal ist, aber ich lasse es so stehen.

"Nun zurück zu meinen Eltern. Zu Beginn war alles noch schön und gut. Ich war ein kleines, süßes Kind, das tat, was sie von ihm verlangten. Und zu dem perfekten Glück kam dann auch noch Hannah zur Welt, obwohl sie schon gar nicht mehr damit gerechnet hatten, ein eigenes Kind zu bekommen. Die wunderschöne, perfekte Hannah, die ihre eigenen, besseren Gene in sich trug. Verstehe mich nicht falsch, ich liebe meine Schwester abgöttisch und ich würde wirklich alles für sie tun. Aber in den Augen meiner Eltern war eben immer sie diejenige, die alles richtig gemacht hat und ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Es passte ihnen sowieso nicht. Ich war schließlich nur die adoptierte Tochter mit den Abschaumeltern, die es nicht einmal geschafft hatten mich großzuziehen und sie selbst standen als die großen Retter auf dem weißen Ross da. Das hatten sie wirklich gut eingefädelt. Einmal, nach einem heftigen Streit, haben sie mir das sogar tatsächlich vorgeworfen. Sie haben mir gesagt, ich solle glücklich sein, dass sie mich überhaupt aufgenommen haben, denn ohne sie würde ich ja noch immer in einem Heim stecken. Glaub mir, so etwas kann eine Kindheit voll und ganz zerstören. Ich habe immer wieder versucht sie stolz zu machen, aber sie haben doch nur Hannah gesehen. Die wunderbare Hannah... Irgendwann hat mir das dann gereicht und ich habe begonnen grundsätzlich das Gegenteil von dem zu tun, was sie von mir wollten. Und außerdem habe ich dem Moment entgegengefiebert, an dem ich endlich ausziehen kann. Diese Wohnung hier mag dir zwar nicht wie der Himmel auf Erden erscheinen, für mich ist sie das jedoch. Endlich bin ich allein und kann tun und lassen, was ich will, ohne gleich bewertet und abgestempelt zu werden. An den Wochenenden besuche ich meine Familie zwar noch, aber nur ein paar Stunden, länger halte ich das wirklich nicht aus. Nur meine Schwester sehe ich öfter. Sie ist zum Glück nicht abgehoben."

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt