Schreckensbotschaft

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"Der Schützling

Menschen sind für uns Faceless normalerweise nichts anderes, als unser Essen und ein netter Zeitvertreib. So war es schon von Anbeginn der Zeit an und wird es auch immer bleiben. Jedoch gibt es immer wieder Fälle, in denen sich dies ganz plötzlich ändert. Warum das genau passiert, kann man bis heute noch immer nicht genau sagen. Möglicherweise handelt es sich hierbei um ein Phänomen, das immer dann auftritt, wenn ein Faceless zu lange allein unter Menschen gelebt hat und den Kontakt zu Seinesgleichen meidet. Dies ist jedoch noch nicht bewiesen, da wir Faceless von Natur aus eher Einzelgänger sind. Sicher ist nur, dass es meist bei älteren Faceless auftritt.

Der betroffene Faceless empfindet plötzlich eine gewisse Anziehungskraft zu einem oder mehreren, bestimmten Menschen. Dies kann eine Form von Freundschaft oder eine Art tiefe Zuneigung sein. Wie wir in den vorigen Kapiteln bereits geklärt haben, ist es jedoch keine Liebe, sondern wird nur mit dieser verwechselt. Faceless besitzen kein Licht, wie das bei den Menschen der Fall ist. Sie haben keine Seele und sind somit auch nicht im Stande dieses Gefühl zu empfinden. Sie können nur kurz daran teilhaben, indem sie den Menschen ihr Licht rauben. Eigene Liebe existiert bei uns nicht. Dieses Empfinden ist unserer Spezies fremd.

Aber zurück zu dem Faceless, der sich plötzlich für einen oder mehrere Menschen interessiert. Er hat auf einmal das Bedürfnis die Wesen zu beschützen, die er davor immer wieder ermordet hat und kümmert sich nun um sie. Damit legt er eine Art Schutzschild über seine/n Schützling/e, was diese/n vor anderen Faceless abschirmt. Im Endeffekt bedeutet das also, dass die Menschen den Zauber der Faceless nicht mehr wahrnehmen können. Sie sehen in einem Faceless nun nicht mehr die Person, die sie vor sich haben wollen, sondern sein eigentliches Ich und ebenso wirken die Vergessenssprüche und anderen, sonst hilfreichen Mechanismen zum erfolgreichen Seelenraub nicht mehr.

In der Geschichte gab es bisher genau sieben bekannte Fälle, in denen sich Faceless Menschen als ihre Schützlinge gesucht haben. Diese endeten alle in blutigen Kriegen:

- 390-387 v. Chr. Abwehrkrieg gegen die Kelten

- 561-613 n. Chr. Merowingischer Bruderkrieg

- 1509-1513 n. Chr. Osmanischer Bürgerkrieg

- 1580-1583 n. Chr. Portugiesischer Bürgerkrieg

- 1914-1918 n. Chr. Erster Weltkrieg

- 1939-1945 n. Chr. Zweiter Weltkrieg

- 1950-1953 n. Chr. Koreakrieg

Um zu vertuschen, dass es tatsächlich Faceless gibt, wurden vom Rat der Ältesten Kriege angezettelt, die für Aufruhr und Verwirrung sorgen sollten. Dadurch vergaßen die Menschen, was sie durch die Unachtsamkeit eines einzelnen Faceless erfahren hatten. Zudem wurden die Übeltäter während einer großen Zeremonie hingerichtet und ihre Schützlinge ebenfalls beseitigt. Somit wurden Nachahmer gewarnt und die Sicherheit unserer Spezies konnte weiterhin gewährleistet bleiben."

Geschockt starre ich auf die zwei Seiten hinunter, die mir gerade eine unglaubliche Geschichte auftischen wollen. Ich kann nicht glauben, was dort steht. Das ist einfach zu ungeheuerlich.

Haareraufend greife ich nach einer Chipstüte und stecke mir so viel wie möglich davon in den Mund. Meine Finger zittern leicht, was ich zu vertuschen versuche, mir jedoch nicht so recht gelingen will. Mit trockener Kehle zwinge ich den Bissen hinunter und schiebe die Tüte wieder von mir.

Einmal angenommen, das Ganze, was ich gerade gelesen habe, würde tatsächlich stimmen, dann hieße das schlussendlich, dass das kleine Rumpelstilzchen unter dem Schutz von irgendjemandem stehen würde, wodurch keiner meiner Zauber wirken kann. Aber wie kann so etwas möglich sein? Wer beschützt sie? Ist hier irgendwo noch ein Faceless in der Nähe? Oder merkt man es gar nicht, wenn man sich einen Schützling sucht? Gibt es da nicht dieses altbekannte Kribbeln der Macht, wie es sonst auch geschieht, wenn ich meine Kräfte einsetze? Habe ich das kleine Rumpelstilzchen womöglich am Ende unbeabsichtigt selbst in Schutz genommen?

Vehement schüttle ich den Kopf. Nein! Nein, das ist einfach unmöglich. Ich würde so etwas niemals tun. Das hört sich selbst nach dieser abenteuerlichen Geschichte über menschliche Schützlinge noch immer total gestört an. Es muss an etwas anderem liegen, dass das kleine Rumpelstilzchen mir nicht sofort verfallen ist. Ich werde schon noch herausfinden, was hier gespielt wird, aber eines steht schonmal fest:

Ich habe mir garantiert keinen menschlichen Schützling gesucht! Da muss ein Irrtum vorliegen.

▪ ▪ ▪

Ich stelle das Buch angewidert ins Küchenregal zurück und schenke mir ein Glas Whisky ein. Schnell kippe ich dieses hinunter und gieße erneut nach. Das altbekannte Brennen füllt meinen Mund ganz aus und ich ziehe stark die Luft ein, um dieses noch zu verstärken. Das beruhigt mich zumindest wieder so weit, dass ich meine durcheinanderwirbelnden Gedanken einigermaßen sortieren kann.

Nach vier weiteren Gläsern nehme ich kurzerhand einfach die ganze Flasche und lasse mich mit ihr auf einen Stuhl sinken. Das darf doch wohl alles nicht wahr sein! Was geschieht hier nur? So habe ich mir meinen Besuch in Santaville eigentlich nicht vorgestellt gehabt. Das hier war absolut nicht geplant gewesen. Ich wollte eigentlich schlicht eine widerspenstige Seele finden und keine Geschichten über verweichlichte Faceless hören, die Menschen zu ihren Schützlingen machen. Wo kommen wir denn da hin?

Das Aufeinandertreffen mit dem kleinen Rumpelstilzchen beginnt mich mehr und mehr zu verwirren. Eigentlich hatte ich es zu Beginn noch ganz unterhaltsam gefunden, mich mit ihr zu verabreden und sie ein wenig aufzuziehen. So als Belustigung und zum Näherkommen an ihre Seele, ist es ja auch ganz hilfreich gewesen. Aber nun... Warum hat sie mich gesehen, wie ich mich auch sehe? Warum widersetzt sie sich mir, egal was ich auch tue? Und wenn das alles tatsächlich stimmen sollte, was ich da gerade erfahren habe, warum sollte ich einen menschlichen Schützling wählen? Das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn! Kann ich dieses Schutzschild vielleicht tatsächlich aus Versehen irgendwie verursacht haben? Aber das wäre doch vollkommen hirnrissig.

"Alzheimer lässt grüßen!", stichelt eine leise Stimme in meinem Kopf. Seufzend nehme ich erneut einen großen Schluck aus der Flasche und es schüttelt mich. Das alles ist total absurd. Nie im Leben kann ich das kleine Rumpelstilzchen zu meinem Schützling gemacht haben, egal wie das Ganze auch wirken mag. Das geht einfach nicht. So bescheuert bin ich dann auch wieder nicht, dass ich solch eine bedeutungsvolle Entscheidung nicht peile. Es muss eine ganz andere Erklärung für den Schlamassel geben, in dem ich gerade stecke. Vielleicht sieht das kleine Rumpelstilzchen in mir nur einen Bekannten, der mir zufällig ähnlich sieht? Ich werde der Sache auf jeden Fall auf den Grund gehen müssen. Aber nicht jetzt. Für den heutigen Tag habe ich genug Überraschungen erlebt. Um diese Angelegenheit kann ich mich auch noch morgen kümmern. Das kleine Rumpelstilzchen wird mir schon nicht weglaufen.

Ich stelle die leere Flasche zurück auf die Küchenzeile und beschließe noch eine Bar in der Nähe aufzusuchen. Ich muss mich ein wenig ablenken, sonst drehe ich am Ende noch völlig durch. Und das würde Keinem weiterhelfen.

Faceless - Ewige Verdammnis Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt