Kurz halte ich noch einmal vor dem kleinen Gartentürchen inne und drehe mich etwas unschlüssig zu Amely um. Die hat sich mit verschränkten Armen im Türrahmen aufgebaut und sieht mich an, als hätte ich etwas verbrochen. Ich kann ihren Ausdruck nicht genau deuten, aber wahrscheinlich ist sie einfach nur sauer, dass ich so lange geblieben bin und froh, wenn sie mich endlich los wird. Dann kann sie schließlich ungestört über Nicolas herfallen. Das wird es wohl sein. Ich scheine hier nicht mehr erwünscht zu sein.
"Also dann... euch noch viel Spaß", druckse ich etwas unsicher herum. Meine Güte! Ich höre mich gerade tatsächlich fast an, wie ein kleines, eingeschnapptes Mädchen.
"Habe ich doch gesagt!", triumphiert meine innere Stimme. Toll! Soll sie sich doch freuen, wenn es ihr dann besser geht.
"Dankeschön. Aber wird sowieso nicht mehr allzu lange dauern. Ich muss bald ins Bett", nickt Amely und schaut in den Hausflur zurück. Ja, genau. Ins Bett mit dem Idioten Nicolas. Ich verstehe schon.
"Sollte ich wahrscheinlich auch", erwidere ich trotz des brennenden Stechens, das ihre Worte bei mir verursachen, ganz ruhig.
"Dann komm gut heim und schlaf gut. Vielleicht kann man das hier ja bald mal wiederholen."
"Vielleicht", gebe ich knapp von mir, doch in Wahrheit verspüre ich nicht auch nur das geringste Bedürfnis, diesen Abend jemals zu wiederholen. Nicht heute, nicht morgen und auch nicht übermorgen. Nein, ganz gewiss nicht.
"Ähm... ja... okay. Ich melde mich dann bei dir. Bis bald, Tommy", druckst Amely herum und schiebt sich eine Strähne ihrer roten Locken hinter's Ohr.
Mir gelingt es nicht einmal, mich über die Verwendung dieses Kosenamens aufzuregen. Es ändert ja sowieso nichts. Dennoch bleibe ich an Ort und Stelle stehen. Irgendetwas in ihrer Stimme veranlasst mich dazu, nicht fluchtartig das Weite zu suchen.
Mein Blick wird sofort wie magisch von zwei grünen, runden Seen angezogen, die so tief sind, dass man sich in ihnen verlieren kann. Das weiß ich mittlerweile aus eigener Erfahrung nur zu gut. Und ich kann absolut nichts dagegen tun. Ich bin ihnen hilflos ausgeliefert. Dieses ungewöhnliche Augenpaar, das mich vom ersten Moment an fasziniert hat, lässt mich unwillkürlich den Atem anhalten. Ich will mich umdrehen und einfach weggehen, aber ich kann es nicht. Es geht nicht. Da ist etwas, das mich hier gefangen hält und stattdessen einen Schritt nach vorne stolpern lässt.
Ein Bildfetzen blitzt plötzlich vor meinem geistigen Auge auf. Ich stehe wieder in diesem Club, in dem ich mich eigentlich mit Hannah hätte treffen sollen. Ein leichtes, wehrloses Opfer, das ich verspeisen kann, nachdem ich meinen Spaß mit ihm gehabt habe. Die schöne, naive Hannah. Doch sie ist nicht aufgetaucht. An ihrer Stelle ist das kleine Rumpelstilzchen erschienen, total gereizt und unbeeindruckt von meiner Erscheinung. Sie war von Anfang an anders, als alles andere, was ich je zuvor gesehen habe. Unberechenbar, wild, zielstrebig, direkt und stur. Oh ja, unglaublich stur! Und auf der anderen Seite doch wieder so verletzlich, weich, ehrlich und... rein. Ich kann bei ihr nie so genau sagen, woran ich bin. Sie verwirrt mich einfach nur mit allem, was sie tut. Ich kann nicht deuten, was in ihr vorgeht, geschweige denn, wie sie wirklich tickt. Denn immer dann, wenn ich gerade denke, ich habe sie durchschaut, taucht ein neues Geheimnis auf und verändert alles.
Amely öffnet den Mund und schließt ihn wieder. Sie scheint genausowenig wie ich zu wissen, was sie als nächstes tun soll. Zögernd macht sie dann jedoch ebenfalls einen Schritt auf mich zu, sodass uns nun nur noch knapp zwei Meter trennen. Dort bleibt sie regungslos stehen und starrt mich an, als würde sie eine Wahrheit aus mir herauslesen können, die sich nur ihr offenbart.
Ich ziehe scharf die Luft ein und kann Amelys einzigartigen, besonderen Geruch bis hierhin wahrnehmen. Er ist frisch und herb, jedoch nicht zu aufdringlich, sodass ich mir sicher bin, dass, wenn man ihn einfangen und zu einem Parfüm verarbeiten würde, jeder morden würde, um dieses tragen zu dürfen.
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Faceless - Ewige Verdammnis
FantasyEin Verlangen, das dein Leben beherrscht. Ein Treffen, das dein Leben verändert. Ein Ende, das ein Anfang ist. ~ ~ ~ Thomas ist ein Dämon. Oder zumindest nennt er sich selbst so. Eigentlich gibt es keine genaue Bezeichnung für das, was er ist. Ande...