Gesucht und gefunden

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Der Flug nach Wellington dauerte ewig und ich musste sehr oft umsteigen, weswegen ich erst am Abend des 26. Mais ziemlich erschöpft in ein Hotel in der Nähe des Flughafens eincheckte. Den Luxus hatte ich mir für die letzte Nacht in der modernen Zivilisation noch gegönnt. Ich konnte aber kaum schlafen. Während ich wach in dem ungewohnten Bett lag, musste ich mir ständig ins Gedächtnis rufen, dass ich am nächsten Morgen wahrscheinlich eine schlimme Enttäuschung erleben würde. Mein Verstand verbat mir, der Reisegesellschaft bedingungslos zu vertrauen, aber meine Liebe zu Mittelerde war so übermächtig, dass ich dieses Verbot immer wieder verdrängte und mir ausmalte, wie es dort wohl sein würde.
Am nächsten Morgen duschte ich noch ein letztes Mal ausgiebig, frühstückte so viel ich konnte und brachte meine Reisetasche zum Schließfach. Alles, was ich jetzt noch an Gepäck hatte, beschränkte sich auf einen kleinen, schwarzen Beutel, in dem ich alle Ardatravel-Briefe und ein kleines Notizbuch samt Bleistift aufbewahrte. Ich hatte beschlossen, es mit zu schmuggeln, um die Erlebnisse meiner Reise wenigstens schriftlich festhalten zu können.
Wenig später wanderte ich durch die riesigen Hallen des Flughafens in Wellington und suchte etwas verzweifelt das Terminal Nummer 26, an dem ich einchecken musste. Es schien unauffindbar. Ich blickte mich um. Überall liefen vollgepackte Menschen aus aller Welt herum.
Vollgepackt... Das war es! Ich musste nach jemandem suchen, der kein Gepäck bei sich hatte. Ich ließ mich auf einer Bank nieder und beobachtete eine ganze Weile die Leute, die an mir vorüber gingen. Irgendwann bemerkte ich eine ziemlich kleine, braunhaarige Frau, kaum älter als ich, die nichts weiter als eine Aktenmappe bei sich trug. So unauffällig wie möglich hängte ich mich an ihre Fersen. Sie schien auch nicht ganz recht zu wissen, wohin sie wollte. Ich folgte ihr in eine kleinere Nebenhalle bis zu einem Schalter, der aussah, wie ein Informationszentrum. Darüber prangte unauffällig die Nummer 26. Na toll, daran hatte es wohl gehapert. Das Terminal 26 war überhaupt kein richtiges Terminal.
Hinter der Balustrade saß eine ältere Dame mit einem Buch vor der Nase. Erst, als die Frau mit der Aktenmappe vor sie trat, hob sie den Kopf.
„Ach, noch zwei mysteriöse Reisende ohne jegliches Gepäck.", stellte sie fest und schüttelte belustigt den Kopf.
Die Aktenfrau drehte sich rum und lächelte mich schüchtern an.
„Sie sind mir eine komische Truppe.", fuhr die Terminaldame unbehelligt fort. „Für Ihren Flug sind gerade mal zwanzig Reisende eingetragen, aus der ganzen Welt. Vierundzwanzig Stunden Flug und keiner hat mehr bei sich als das, was er trägt. Aber am seltsamsten finde ich Ihr Flugziel. Erebor. Nie gehört. Und ich arbeite schon lange. Wo liegt das bitte?"
„Äh... weit im Osten.", sagte die Frau mit einem französischen Akzent und lächelte entschuldigend. Die Angestellte guckte sie irritiert an, fragte aber nicht weiter und drückte ihr die Bordkarte in die Hand.
Als ich meine schließlich auch bekommen hatte, fragte ich nach meiner Wartehalle und die Dame beschrieb mir den Weg. Ich wollte mich gerade auf die Suche machen, als plötzlich die Französin wieder vor mir stand.
„Salut. Ich bin Manila.", sagte sie auf Englisch. Ich lächelte und stellte mich ebenfalls vor.
„Weißt du, wo wir hinmüssen?", fragte sie. Ich nickte und zusammen fanden wir die Wartehalle, genaugenommen nur ein größeres Zimmer, recht schnell. Dort wurden wir sofort fröhlich von einer Gruppe völlig fremder Menschen begrüßt. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit. So war es immer, wenn ich mich unter Mittelerde-Fans bewegte. Sie sind offen und man kommt sofort ins Gespräch. Zwölf Leute waren wir schon. Vier Frauen und acht Männer, davon drei aus den USA, einer aus Brasilien, einer aus Russland, zwei aus Australien, einer aus Südafrika, noch zwei aus Norwegen, Manila aus Frankreich und schließlich ich aus Deutschland.
Alle schienen schon richtig aufgeregt zu sein, manche von ihnen zweifelten, im Gegensatz zu mir kein bisschen daran, dass die Reisegesellschaft es ernst meinte. Manila sah die Sache aber genauso wie ich. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als Mittelerde in Echt zu sehen, aber ihr gesunder Menschenverstand ließ sie noch nicht so recht glauben, dass es wirklich existierte.
Es dauerte gar nicht lange und die letzten acht Reisenden kamen hereingeschneit. Jetzt waren wir endlich komplett.

Ein bisschen irritiert stellte plötzlich jemand fest, dass auf den Bordkarten keine Abflugzeit stand und auch die Anzeigetafeln meldeten keinen Flug zum Erebor. Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl herum, während Manila ununterbrochen redete. Zweifel nagten an mir.
Nachdem wir eine Stunde gewartet hatten, wusste ich so gut wie alles über meine französische Mitreisende. Obwohl wir uns immer noch auf Englisch unterhielten, hatte sie das Tempo ihrer Muttersprache beibehalten. Sie kam aus der Bretagne, wo sie mit ihrem Vater ein Freilicht-Burgmuseum leitete. Im Sommer fanden dort große Mittelalterfestspiele statt, wo sie eine Woche lang unter originalen Bedingungen lebte. Dadurch hatte sie reiten und kämpfen gelernt, wie ein Ritter. Sie wusste nicht mehr, seit wann sie Tolkienfan war, aber an eine Zeit ohne seine Bücher und die Filme konnte sie sich nicht erinnern.
Als sie mir gerade stolz erzählte, wie sie in einem Schaukampf das erste Mal ihren älteren Bruder besiegt hatte, kam ein Mann herein.
Mir fiel ein Stein vom Herzen, als er sich als der Pilot vorstellte. Er erklärte, dass unser Flug privat wäre und deswegen nicht auf den Tafeln angezeigt wurde.
Wenig später stiegen wir die Treppe zu einem kleinen Privatjet hinauf und wurden freundlich von ein paar Flugbegleitern begrüßt, die schon in mittelerde-typischer Kleidung steckten. Ich ließ mich auf meinem Platz neben Manila fallen.
Während wir losrollten, begrüßte uns der Pilot ein zweites Mal und erklärte uns ein paar organisatorische Dinge zum Flug. Wir würden circa vierundzwanzig Stunden bis zum Erebor brauchen. Er wies außerdem darauf hin, dass die Landung dort ziemlich holperig werden könnte, da es keine Landebahn, sondern nur eine große, grasbewachsene Freifläche gab.

Sobald wir in der Luft waren, quatschten Manila und ich gleich weiter. Wir verstanden uns super.
„Welche ist deine Lieblingsfigur aus ‚Der Hobbit'?", fragte ich. Sie bekam einen knallroten Kopf.
„Fili.", sagte sie mit einer ungeheuren Inbrunst. „Oh mein Gott, Lucy, ich schätze, ich bin total in ihn verknallt. Glaubst du, wir werden ihn kennenlernen?"
Ich überlegte einen Moment. Ganz ohne Zweifel war ich immer noch nicht, aber ich merkte plötzlich, wie sehr ich ihr wünschte, ihn kennenzulernen. Wie sehr ich mir selbst wünschte, seinen Bruder zu treffen, denn ganz im Vertrauen: Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der schöner war, als Kili. Anscheinend hatten Manila und ich uns gesucht und gefunden.
„Er ist doch gestorben.", erinnerte ich sie.
„So steht es in den Geschichten.", sagte plötzlich eine Stimme von hinten. Ich fuhr herum. Einer der Flugbegleiter hatte unser Gespräch belauscht.
„In Wirklichkeit hat er überlebt, genau wie sein Bruder und sein Onkel. Thorin Eichenschild ist König unter dem Berge geworden, er ist es immer noch. Aber so etwas in einer Geschichte zu schreiben, hätte unrealistisch geklungen, deswegen mussten für den Unterhaltungswert doch ein paar Zwerge sterben."
Ich grinste Manila an. „Dann hast du ja vielleicht doch eine Chance."

Dieser Flug kam mir insgesamt nicht so lang vor, wie der nach Neuseeland. Wahrscheinlich lag es daran, dass die Flugbegleiter alle Mittelerde-Filme nacheinander durchlaufen ließen (Synchronschluchzen von mir und Manila in Filis und Kilis Sterbeszenen). Außerdem hatte ich eine neue Freundin gefunden, mit der ich nächtelang quatschen könnte, ohne dass wir uns langweilen würden.
Draußen wurde es dunkler und dunkler. Weit unten in der Ferne sah man die Lichter der Welt zu uns rauffunkeln.

Alles im Flugzeug döste vor sich hin. Plötzlich gab eseinen lauten Knall. Sämtliche Fensterläden waren auf einmal runtergefallen.Dann begann die Maschine zu schaukeln und zu ruckeln, als würden wir von einemRiesen geschüttelt werden oder durch extreme Turbulenzen fliegen.
„Bitte ruhig bleiben! Das ist ganz normal!", riefen die Flugbegleiter, alseinige von uns schon nervös wurden.
Zehn Minuten hielten die Turbulenzen noch an und dann verschwanden sie soplötzlich wie sie gekommen waren.
Die Lautsprecher knackten und der Pilot meldete sich zu Wort:
„Mein Damen und Herren. Willkommen in Mittelerde.    


Ardatravel - Die Reise nach MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt