Lucy
Ich verlor kein Wort über die Geschehnisse der Nacht meiner Reisegruppe gegenüber, als wir uns am nächsten Morgen trafen. Nach einem letzten köstlichen Frühstück in einer der zahlreichen Elbentavernen machten wir uns auf den Weg zu den Stallungen und nahmen die Pferde in Empfang, die Thranduil uns bis zum Erebor mitgab. Durch eines der hinteren Tore, die zum Waldfluss hinausführten, verließen wir die Hallen schließlich. Draußen verabschiedeten Manila, Kili und ich uns noch von Eldárwen und dann ging es los. Die letzte Etappe lag nun vor uns.
Die ganze Truppe schwieg. Nichts war zu hören außer dem säuselnden Wind in den Blättern und den stampfenden Hufen auf dem aufgeweichten Waldboden. Während meines langen Aufenthaltes bei den Heilern war ein großer Sturm über den Düsterwald hinweg gezogen, der viele Bäume ausgerissen und den Fluss über die Ufer treten lassen hatte. In den weitläufigen Hallen vernahm man von alldem nicht mehr als ein Knarksen des Dachgebälks, doch jetzt, als ich zum ersten Mal seit Wochen ins Freie trat, sah ich, dass der Sturm auch das Elbenreich nicht unberührt gelassen hatte. Die Verwüstung erschwerte unser Vorankommen schon bald, da wir den umgestürzten Bäumen ständig ins Unterholz ausweichen mussten. Zudem war es bitterkalt. Der Winter würde wohl noch lange kein Ende nehmen.
Ich bemühte mich, den anderen gegenüber möglichst optimistisch zu wirken und mir die Müdigkeit sowie die Sorgen, die unweigerlich wieder hochgekommen waren, nicht anmerken zu lassen. Das konnte schließlich nicht so weitergehen, ich musste endlich mit der Krankheit abschließen können! Obwohl... Würde Ardatravel darauf bestehen, dass ich doch mit heimkehrte, wenn ich mich völlig gesund gab? Und würden sie das vor den Heilern durchsetzen können? Zweifel nagten an mir... Dabei wusste ich selbst ganz genau, dass es unverantwortlich wäre, nach Hause zu fliegen, denn der Rückschlag von letzter Nacht saß mir noch in den Knochen. Kopfschmerzen plagten mich und der schneidend kalte Wind ließ mich erzittern. Nervös rutschte ich im Sattel herum und lächelte leicht unsicher zu Manila hinüber, dir mir einen fragenden Blick zuwarf. Schnell trieb ich mein Pferd voran, um mir nichts anmerken zu lassen. Doch da hatte ich die Rechnung natürlich ohne meine Freundin gemacht. Mühelos holte sie auf, drängelte sich charmant lächelnd an Fili vorbei, den ich gerade überholt hatte und ritt neben mir her.
„Lucy, stimmt irgendetwas nicht?", fragte sie und ich hörte, wieviel Sorge in ihrer Stimme mitschwang.
„Nein, nein, alles in Ordnung, mir geht es super!" Ich unterlegte meine ausweichende Antwort mit einem miserabel geschauspielerten Grinsen und wechselte betont locker in den Trab. Manila folgte mir.
„Bist du sicher? Du wirkst so erschöpft, aber gleichzeitig auch angespannt. Mach mir nichts vor. Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst..."
Ich habe schlecht geschlafen, wollte ich schon sagen, schluckte den Satz aber im letzten Moment runter, denn ich wusste, dass ich sie damit nur beunruhigt hätte und das wollte ich um jeden Preis vermeiden. Hinter schlecht schlafen steckte bei mir ja weitaus mehr als nur eine etwas schlaflose Nacht. Es war nur ein harmloser Rückschlag gewesen, etwas, was die Elben prophezeit hatten und was garantiert auch wieder weggehen würde, also kein Grund, wieder irgendjemandem damit auf den Ohren zu liegen!
„Es ist nichts...", sagte ich leise, wandte mich endgültig ab und trabte davon.Der Weg führte uns schon bald aus dem Düsterwald heraus und vor uns breitete sich der Lange See aus. Ein paar Meilen nordwärts, leicht vom Dunst verhüllt, ragten die Ruinen von Esgaroth wie schwarze Zähne aus der spiegelglatten Oberfläche hinaus. Wir bogen nach links ab auf einen Weg, der am Ufer entlang lief und sich später hoch ins Gebirge schlängelte. Kleine Eisschollen schwappten im Schild aneinander und der Wind wiegte die erfrorenen Halme.
Auch wenn die Ausläufer des Einsamen Berges zum Greifen nahe schienen, dauerte es Stunden, um den Langen See herumzureiten. Er trug seinen Namen wirklich zurecht! Ein bleicher Dunst lag über dem Wald, dem Wasser und in der Ferne über den Felsen.
Ich fröstelte. Diese Situation erinnerte mich absurderweise an einen meiner Träume, denn ich spürte, wie mir die Kälte ganz langsam immer weiter unter den Mantel kroch. Angst erfüllte mich. War sie echt oder bahnte sich noch ein Rückschlag an? Schon bald merkte ich, wie ich mit den Zähnen klapperte. Lange würde ich meine zunehmend schlechte körperliche Verfassung nicht mehr geheim halten können. Panik schwelte im Unterbewusstsein. So unauffällig wie möglich ließ ich mich immer weiter zurück fallen, bis ich schließlich ganz am Ende des Zuges ritt. Die Kapuze hatte ich mir tief ins Gesicht gezogen.
Am Mittag rasteten wir neben dem Weg und aßen etwas Elbenbrot, machten aber zu meinem Leidwesen kein Feuer. Dann ging es genauso schweigsam weiter. Die ganze Zeit über spürte ich Manilas besorgte Blicke in meinem Rücken und beobachtete beunruhigt, wie sie Kili leise etwas zuflüsterte. Ich hielt den größtmöglichen Abstand zu ihnen, obwohl ich wusste, dass ich mich damit natürlich gerade auffällig verhielt.
Wie die eisige Kälte fraßen sich auch die Sorgen immer tiefer, die Kopfschmerzen nahmen zu und ich verspürte schon bald ein beunruhigendes Schwindelgefühl. Stunden vergingen. Irgendwann war ich kaum noch in der Lage, mich aufrecht im Sattel zu halten. Mein Blick schien getrübt und von Zeit zu Zeit sah ich alles doppelt. Dunkelheit umnebelte meinen Geist, griff nach mir. Die Müdigkeit betäubte mich, nahm mir jede Möglichkeit, mich zu wehren. Und dann, mit einem Schlag, wurde alles schwarz und ich merkte, wie ich fiel, immer tiefer... und tiefer...
DU LIEST GERADE
Ardatravel - Die Reise nach Mittelerde
FanfictionLucy ist siebenundzwanzig, Individualistin und der leidenschaftlichste Tolkien-Fan der Gegend, doch sie findet ihr Leben sterbenslangweilig und sehnt sich nach einem echten Abenteuer. Bei ihrer erfolglosen Suche nach der perfekten Reise landet sie a...