Lucy
Nach Kilis Besuch musste ich noch weitere vier Tage in der Heilerkaserne verbringen, aber sie wurden nicht ganz so schlimm, wie die letzten. Alaëdor erlaubte mir, dass Bett zu verlassen und so holten mich Kili und Manila jeden Tag zu einem Spaziergang durch die Gärten von Imladris ab. Ich merkte, dass mir die Vergiftung zugesetzt hatte – nach der langen Zeit, die ich liegend verbringen musste, war ich schwach und bekam oft leichte Schwindelanfälle. Doch irgendetwas schien in Bruchtal in der Luft zu liegen. Mir ging es nämlich mit jedem Tag, den ich mit meinen Freunden draußen verbrachte, besser.
Nachdem ich (und Manila übrigens auch) dem obersten Heiler stundenlang auf den Ohren gelegen hatte, dass meine „Gefangenschaft" in den Heilerhäusern nicht gerade zu meiner Genesung beitrug und sie mich, wenn es denn sein musste, auch anderswo behandeln konnten, ließ er mich endlich – nach sieben Tagen – zurück in mein altes Zimmer ziehen. Er bestand aber darauf, mir eine Eskorte mitzuschicken. Seine schmächtige, blonde Kollegin begleitete mich unter dem Vorwand, dass mein Zustand noch zu instabil wäre, als dass ich alle meine Sachen allein tragen konnte. Also schritt die Elbin vollgeladen mit Seesack, Köcher, Messern und diversen anderen persönlichen Gegenständen hinter mir her, bis wir das Gästehaus erreichten. Ich schnaufte, als ich die letzte Treppenstufe erklomm und ärgerte mich darüber, so viel von meiner über die Monate schwer erkämpften Ausdauer in der Heilerkaserne wieder eingebüßt zu haben.
Wir betraten den Flur und ich wollte gerade die Hand zum Klopfen erheben, da wurde die erste Zimmertür aufgerissen und ein Freudenschrei schallte uns entgegen. Im nächsten Moment würgte Manila mir die Luft ab.
„Lucy!", quietschte sie begeistert. „Oh Mann, noch eine Nacht länger allein und ich wäre verrückt geworden!"
„Du hättest doch wieder nach nebenan ziehen können.", keuchte ich mit dem Bisschen Luft, was sie mir ließ. „Vielleicht hätten die Elben dir ja Ohrstöpsel geliehen..."
Grummelnd ließ sie mich los. „Woher weißt du denn das schon wieder?"
„Tja, ich bekam neulich frühmorgendlichen Besuch, der mir sehr bereitwillig über deine nächtlichen Problemchen berichtete." Ich grinste anzüglich.
„Was?" Manila machte ein entgeistertes Gesicht. „Dieser Mistkerl! Oh, ich zerhacke ihm seinen feinen Bogen zu Kleinholz! Wie hat er es geschafft, dich außerhalb der erlaubten Zeiten zu besuchen? Und warum zum Teufel hat er mich nicht mitgenommen?" Sie schien verärgert.
„Ich weiß nicht, wie Kili ins Haus gekommen ist.", antwortete ich wahrheitsgemäß und versuchte, ihre zweite Frage geschickt zu übergehen. „Er ist eben einfach irgendwann durch die Tür spaziert. Und Alaëdor hat ihn recht bald hochkant wieder rausgeworfen."
„Geschieht ihm recht. Na, den werde ich mir heute Abend in einer ruhigen Minute nochmal vorknöpfen!"
„Heute Abend?", fragte ich verwirrt.
„Ähm ja. Die Zwerge planen ein Üb- Hm hm hhhmmmm!", machte Manila empört und zappelte. Kili war gerade aus seinem Zimmer getreten und hatte meiner Freundin blitzschnell die Hand auf den Mund gepresst.
„Du bist nicht nur der neugierigste Mensch unter der Sonne, sondern auch ein schreckliches Tratschweib!", knurrte er ihr ins Ohr. „Kann man dich wirklich nicht allein gehen lassen, ohne jemanden mitzuschicken, der aufpasst, dass du dich nicht verplapperst?"
„Hmmm... Hey!" Manila kämpfte sich tapfer aus seinen Fängen und funkelte ihn mit einem Hauch Spott im Blick an. „Woher sollte ich denn wissen, dass es geheim ist?"
„Äh... weil das der Sinn einer Überraschung ist?" Der junge Zwerg legte den Kopf schief und die Französin grummelte betreten etwas in ihren nicht vorhandenen Bart hinein.
„Schön, dass ihr das in meiner Anwesenheit klärt.", warf ich schmunzelnd ein. „Da könnt ihr mir eigentlich auch gleich alles erzählen."
„Tja, das hättest du wohl gern." Manila grinste. „Aber nein, dein ehrenwerter Herr Besucher hat Recht, es ist ja eben nicht der Sinn einer Überraschung, dass du schon alles vorher weißt."
„Nur Geduld, Lúthien. Du wirst es schon noch erfahren." Kili lächelte mir noch einmal entgegen, dann verschwand er wieder hinter seiner Tür.
„Frau Lucy?", unterbrach die Heilerin, die die ganze Zeit vollbepackt hinter mir auf dem Flur gestanden hatte, uns. „Sollen Eure Sachen in diesen Raum?" Ich nickte schnell und dankte ihr für die Hilfe, dann verschwand sie lautlos.
Ich folgte Manila in unser Zimmer und begann, meine wenigen Habseligkeiten auszupacken. Als ich gerade mein Nachthemd unter dem Kopfkissen verstaute, sagte sie: „Ithilia, Linnea und die Zwerge wollen heute Nachmittag zu Alex' Grab gehen. Ich würde sie gerne begleiten. Traust du es dir schon wieder zu, auf den Berg zu steigen?"
Ich schluckte bei dem Gedanken, den steilen Grashang hochschnaufen zu müssen, aber allein hier unten bleiben wollte ich auf keinen Fall.
„Wird schon gehen.", antwortete ich ihr und lächelte tapfer.
„Danke... Ähm ... Lucy?"
„Hm?"
„Ich bin froh, dass du wieder bei uns bist. Irgendwie war ich in den letzten Tagen ein bisschen einsam..."
„Ehrlich?" Dieses Bekenntnis erstaunte mich. Es bewies mir einmal mehr, dass zwischen uns ein unzertrennliches Band gewachsen war, eine Freundschaft, an die ich mich noch erinnern würde, wenn ich alt und klapprig in einem Schaukelstuhl saß und Wollsocken strickte.
„Ich habe dich auch vermisst.", gab ich schließlich grinsend zu. Das war die Wahrheit.
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Ardatravel - Die Reise nach Mittelerde
Fiksi PenggemarLucy ist siebenundzwanzig, Individualistin und der leidenschaftlichste Tolkien-Fan der Gegend, doch sie findet ihr Leben sterbenslangweilig und sehnt sich nach einem echten Abenteuer. Bei ihrer erfolglosen Suche nach der perfekten Reise landet sie a...