Willkommen in Mittelerde!

212 18 4
                                    


Der ganze Flieger jubelte und klatschte. Gleichzeitig machten sich alle daran, die Fensterläden wieder zu öffnen, aber wir wurden enttäuscht: Draußen herrschte tiefste Nacht. Nichts war zu sehen, keine Lichter am Boden. Ob das wirklich Mittelerde war? Dem Ruckeln zufolge musste ja irgendetwas passiert sein. Fühlte es sich so an, wenn man die Grenze zweier Welten passierte? Vom Piloten kam darauf jedenfalls keine Antwort, der meldete nur zum Unmut aller, dass wir noch gut drei Stunden fliegen mussten.
Während alle, plötzlich hellwach, aufgeregt miteinander redeten, wurde es langsam hell in Arda. Nachdem wir eine halbe Stunde weitergeflogen waren, schob sich ein heller Streifen über den Horizont und noch eine halbe Stunde später enthüllte das sanfte Morgenrot atemberaubende Landschaften. Alle klebten an den Fenstern und ich vermisste meinen Fotoapparat schmerzlich (es sollte nicht das letzte Mal sein!).

Lucys Tagebuch

Eine Kette Berge zieht unter unseren Flugzeug entlang. Manila, meine neue Freundin aus Frankreich, drückt sich gerade die Nase am Fenster platt und versucht, zu erraten, welches Gebirge das sein könnte.
In diesem (mitgeschmuggelten) Notizbuch werde ich schriftlich festhalten, was mir auf meiner Reise nach Mittelerde so passiert. Ich bin mir jetzt auch ziemlich sicher, dass die Reisegesellschaft uns nicht betrogen hat, denn seit wir durch die Turbulenzen geflogen sind, zeigen die Bildschirme über uns keine Kartengrafik mehr an. Wahrscheinlich gibt es für Mittelerde noch kein...
Meine Reisegruppe scheint ziemlich nett zu sein. Alle sind schon ganz aufgeregt, weil der Pilot eben durchgesagt hat, dass er in weiter Ferne schon den Einsamen Berg sieht.
Oh, wir sinken schon, bestimmt werden wir bald landen. Mal sehen, wie sich das auf Gras anfühlt. Ich melde mich heute Abend wieder, bis dann!

Die Landung war erstaunlich sanft, aber als wir auf dem Boden rollten, wurden wie ordentlich durchgeschüttelt. Mehr denn je drängelten sich alle um die Fenster, um einen Blick auf die grünen Landschaften zu erhaschen. Ein großes Steinhaus kam in Sicht, aber ansonsten sah man nichts als die weiten Ebenen.
Schließlich kam der Flieger zum Stehen und alle stürzten zum Ausgang. Vor dem Haus wurden wir von ein paar Menschen begrüßt, die das Flugzeug mit tellergroßen Augen bestaunten. Ich musste grinsen. Was bei uns ein alltägliches Bild war, galt hier bestimmt als Attraktion.
Während einer der Männer uns willkommen hieß, schloss ich für einen Moment die Augen, sog die Luft ein und konzentrierte mich auf die Geräusche um mich herum. Ich hatte es geschafft. Ich war wirklich in Mittelerde. In mir wuchs das Verlangen, diese Welt zu spüren, sie mit allen Sinnen aufzusaugen und nie wieder loszulassen. Ein Traum war wahr geworden.

Die Menschen, die uns begrüßt hatten, erklärten uns, dass dieses Haus ein Außenpunkt von Ardatravel war. Hier würden wir erst einmal alles bekommen, was wir zum Leben benötigten. Gegen Mittag sollten unsere Reiseleiter eintreffen und uns zum Einsamen Berg begleiten.
Alle waren ganz hibbelig, weil es hieß, dass unter den Leitern oft auch jemand aus den Geschichten dabei war, besonders die Zwerge galten wohl als besonders abenteuerlich. Die meisten Ardatravel-Gruppen waren aber von Waldläufern geführt worden, berichtete einer der Menschen.

Wenig später hatte jeder von uns einen schweren Seesack bekommen und wir durften uns in einem Nebenzimmer umziehen. Meine moderne Kleidung war nicht besonders mittelerde-tauglich, also tauschte ich sie gegen Hosen, Lederstiefel, eine grüne Tunika, einen Wams und einen Reiseumhang. Als ich tiefer im Sack wühlte, staunte ich nicht schlecht: Eingewickelt in Decken lag dort ein Köcher mit filigran gearbeiteten Pfeilen und einem Kurzbogen. Ehrfürchtig nahm ich ihn heraus und strich über die Federn. So wertvollen Waffen hatte ich noch nie gesehen. Die Sportbögen, die wir im Verein benutzten, waren doch eher zweckmäßig gestaltet.
„Wow.", hörte ich auch Manila neben mir hauchen. Sie zog ein Langschwert aus ihrem Beutel.
Ich machte große Augen. „Mit so etwas kannst du umgehen?"
Sie nickte. „Glaubst du, das sind zwergische Waffen, Lucy?"
„Ich denke schon. Elbenwaffen sehen anders aus und die Menschen benutzen ebenfalls längere Bögen. Und dein Schwert... das können nur die Zwerge geschmiedet haben."
Außer Sachen und Waffen hatte jeder von uns noch ein Messer, eine Karte, eine Zunderbüchse, ein Seil und jeder Menge Decken bekommen. Wir waren also bestens gerüstet. Das Abenteuer konnte losgehen!

Zur Freude aller bekamen wir hier im Außenpunkt noch ein wunderbares Frühstück aufgetischt. Die ganze Gruppe war aufgeregter denn je, alle diskutierten ausgelassen über ihre Waffen, die Route, welche Reiseleiter sie gerne hätten und was sie am meisten interessierte.
Irgendwann fragte ich neugierig, welches Jahr wir denn hier hätten. Eine der Menschenfrauen nannte mir das Jahr 2943 des Dritten Zeitalters.
„Die Schlacht der fünf Heere ist gerademal zwei Jahr her", raunte mir Manila zu.
„Oh, wie toll. Dann ist ja alles hier noch ähnlich wie in den Filmen.", stellte ich begeistert fest.

Nach dem Essen gingen wir nach draußen, um auf die Ankunft unserer Reiseleiter zu warten. Das Steinhaus war weit und breit das einzige Haus, um uns herum erstreckte sich eine grasige Ebene, die gen Süden bis zum Horizont reicht. Nicht weit entfernt, im Westen, lag der Erebor mit ein paar kleineren Hügeln, im Norden türmte sich das Graue Gebirge auf und weit im Osten erstreckten sich die Eisenberge, Heimat von Dáin Eisenfuß und seinem Volk.
Wir warteten lange. Die Sonne hatte schon bald ihren Zenit erreicht, aber noch immer gab es keine Spur von unseren Anführern. Manila nutzte die Zeit, um von Fili zu schwärmen. Seit wir begonnen hatten, über die Neffen von Thorin Eichenschild zu reden, gab es für sie kein anderes Thema mehr.
„Manila, jetzt mach' mal halblang.", unterbrach ich ihren Worteschwall. „Wir können wirklich nur von Glück reden, wenn wir die beiden wirklich treffen. Ich sehe unsere Chancen nicht besonders hoch, ehrlich."
„Och komm, Lucy, jetzt lass doch die reale Welt endlich hinter dir. Wir sind hier in Mittelerde, alles ist möglich!" Ich verdrehte die Augen.
„Da kommt etwas!!!", rief plötzlich jemand aufgeregt. Er hatte Recht. Weit in der Ferne konnte ich etwas ausmachen, was Ähnlichkeit mit zwei Kutschen hatte. „Ah, das wird wohl der Shuttle-Service zum Einsamen Berg sein.", witzelte jemand. Vorfreude und Nervosität schwang durch die Gruppe und wir reckten die Hälse, doch die Wagen waren noch zu weit weg, als dass man erkennen konnte, wer sie lenkte.
Die Ebene war so weit, dass es nochmal eine halbe Ewigkeit zu dauern schien, bis die Kutschen sichtlich näher kamen. Schließlich konnten wir sehen, dass auf einer der beiden zwei kleine Personen und auf dem anderen zwei große saßen.
„Oh Lucy, es sind Zwerge!", rief Manila aufgeregt. „Ob sie zu Thorins Gemeinschaft gehören? Und wer sind die anderen?"
„Manila!", knurrte ich. „Warte es doch erstmal ab. Sie werden noch früh genug hier sein." Aber sie ignorierte meine Worte und sprang aufgedreht auf und ab. Irgendwie erinnerte sie mich an mich selbst, als ich fünfzehn gewesen war und eine Autogrammstunde besucht hatte.
Zehn Minuten später hielten die Wagen endlich vor uns. Auf dem ersten saßen ein Mensch und eine wunderschöne Frau, ihren Gesichtszügen nach war sie eine Elbin! Beide lächelten uns an, doch ihr Erscheinen löste nicht so eine Überraschung aus, wie das ihrer beiden Gefährten.
Die beiden jungen Zwerge sprangen von der Kutsche, verbeugten sich gleichzeitig und sagten:
„Fili..." „...und Kili. Willkommen in Mittelerde!"
Mir klappte die Kinnlade herunter und Manila kippte um.


Ardatravel - Die Reise nach MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt