Ein zweischneidiges Schwert

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Lucy

Eine ganze Weile lang schwiegen wir nur nachdenklich.
„Du hast die ganze Zeit nicht gewusst, was dort steht?", fragte ich schließlich. Kili schüttelte den Kopf.
„Aber wenn du's gewusst hättest..., hättest du mir den Stein trotzdem gegeben?" Ich musste es wissen. Irgendwie erschien mir die ganze Sache nämlich ziemlich rätselhaft.
„Amrâlimê" stand auf dem Stein – ein Beweis dafür, dass die Elbenfrau ihn liebte. Aber er hatte ihn mir einfach so gegeben, damals im Kerker, als wir uns kaum kannten, ohne dass es irgendetwas bedeutete.
„Ich weiß nicht.", gestand er. „Aber ... es hatte schon seinen Grund..."
Ohgottohgottohgott, was kommt jetzt?
„Ähm..." machte der Zwerg. „Es ... ist ein bisschen schwierig zu erklären ... und vielleicht für dich auch nicht ganz nachvollziehbar...
Nachdem sie gegangen ist, war ich am Boden zerstört, habe mich zurückgezogen und tagelang mit niemandem mehr ein Wort gewechselt. Dann..." Er stockte kurz. „... überkam mich irgendwann diese Wut. Ich ... ich weiß nicht, warum, aber auf einmal habe ich angefangen, alles und jeden zu hassen. Also – das tat ich natürlich nicht wirklich, aber es fühlte sich so an. Ich hasste sie, weil sie so kalt und so hoffnungslos war, weil sie aufgegeben hatte. Ich hasste den Elbenprinzen, weil er immer im Weg stand und weil sie sich ihm verpflichtet fühlte. Ich hasste den Zorn, der zwischen unseren Völkern schwelte und letztendlich hasste ich auch mich selbst, weil ich in meiner Trauer meine Familie und meine Gefährten aus den Augen verlor. Es hat Tage gedauert, bis ich meine Gefühle unter Kontrolle bekam und zu den anderen zurückkehren konnte, aber ich habe es geschafft, wieder einigermaßen glücklich zu sein.
Nur ... als wir uns gemeinsam auf den Weg ins Waldlandreich machten, fühlte ich mich plötzlich mit jedem Schritt, den ich ging, an sie und das, was passiert war, erinnert. Ich ... ich wollte den Stein loswerden, weil er mich unglücklich machte, Lúthien, und unsere Begegnung im Kerker schien die perfekte Gelegenheit dafür zu sein. Verzeih' mir, es war unüberlegt und ich habe dich ausgenutzt. Das hätte sie wahrscheinlich nicht gewollt..."
„Möchtest du ihn wiederhaben?", fragte ich bedrückt und streckte ihm die Hand entgegen.
„Nein, nein. Geschenkt ist geschenkt. Es würde eh nichts mehr ändern... Und außerdem weiß ich, dass du ihn magst." Er zwinkerte mir zu.
„Wie du meinst..." Ich strich über die Runen, die die eigentliche Inschrift des Talismans bildeten. Irgendwann musste ich das mit dem Mondzauber mal ausprobieren. Tja. Nur blöderweise würde man mich in naher Zukunft hier erstmal nicht rauslassen. Doofe Heilerkaserne.

Tatsächlich blieb ich den ganzen Tag im Bett, während man Kili nach ein paar Stunden aus meinem Gemach scheuchte, weil ich angeblich sehr viel Ruhe benötigte. Aus Langeweile schlief ich, schrieb ein bisschen ins Tagebuch und schlief wieder.
Ich fühlte mich komisch. Irgendwo in meinem Inneren brodelte es und ich spürte, wie das Gegenmittel gegen das Gift um die Oberhand kämpfte. Es ermüdete mich sehr und ich war froh, dass man mich in Ruhe ließ.
Aber nach vierundzwanzig Stunden ständigem Wechsel aus Schlafen und dämmerigen Wachphasen merkte ich, dass es wirken musste – da waren keine Schmerzen mehr im rechten Unterarm und die Träume blieben weg!
Zu gern hätte ich das in vollster Euphorie ausgelebt, Kili erzählt und mit ihm vor Freude durch das Gemach getanzt, doch ich war so träge, dass ich kaum die Augen offen halten konnte.
Zwei Tage lang schlief ich meinen Entgiftungsrausch aus, bis ich endlich wieder jemanden empfangen konnte, ohne nach fünf Minuten einzunicken.
Bei meinen Besuchern handelte es sich natürlich immer um die gleichen: Eldárwen, Tindómerel und der junge Zwergenprinz.
Aber mit dem, was sie mir an meinem vierten Tag im Waldlandreich berichteten, hätte ich im Leben nicht gerechnet...

Der Wind raschelte vernehmlich in den Blättern und das Dachgebälk knarckste. Schon seit Stunden fegte ein Sturm über den Düsterwald hinweg und pustete die weiten Hallen Thranduils mal so richtig durch. Trotz der eisigen Temperaturen und der offenen Zimmerdecke war es schön warm in meinem Raum, am allerschönsten selbstverständlich unter der Bettdecke.
Ich hatte mein Zeitgefühl im ewigen Nebel aus Schlaf und Wachsein verloren, aber nach dem Licht zu urteilen musste es früher Morgen sein.
Als ich die Augen aufschlug, war ich etwas verwirrt und fühlte ein quälendes Ziehen im Magen – Hunger! Kein Wunder, ich hatte seit Tagen nichts gegessen! Langsam sah ich mich um – das Gemach schien unverändert, nur die Chaiselongue fand ich leer vor. Niemand war hier.
Doch kaum zwei Minuten später wurde die große Tür plötzlich geöffnet und das Heilerduo samt Zwerg schritten herein, erstere beiden wie immer mit Phiolen und Kristallkolben bewaffnet.
„Lúthien!" Kili bemerkte gleich, dass ich aufgewacht war. „Mahal sei Dank!" Er eilte zu mir herüber und grinste mir breit ins Gesicht.
„Wie fühlt Ihr Euch?", fragte die Herrin Tindómerel und betastete (wie die Elben das alle machten) meine Stirn. Sie schien zufrieden zu sein.
„Hungrig", rutschte es mir sofort heraus und ich quittierte das verräterische Knurren meines Magens mit einem Stöhnen.
Die Heilerin lächelte. „Nun, wir werden sogleich etwas zu Essen herbringen lassen. Eldárwen?" Sie sah die jüngere Elbin nur an, welche darauf lächelnd nickte und zur Tür hinaus verschwand.
„Aber bevor Ihr speist, muss ich Euch noch eine Sache sagen, Fräulein Lucy."
„Was denn?", fragte ich irritier. „Stimmt etwas nicht? Wirkt das Zeug nicht? Ich fühle mich doch schon viel besser! Oder kann ich gar nicht vollständig geheilt werden? Liegt es daran, dass ich ein Mensch bin?", plapperte ich nervös drauflos.
„Nein, nein, ruhig, es ist alles in Ordnung." Die großgewachsene Frau lächelte fast amüsiert. „Eure Genesung schreitet recht gut voran, genau wie wir es erhofften. Aber Lucy, Ihr habt sicher gemerkt, dass Euch das Gegenmittel sehr geschwächt und ermüdet hat, mehr, als es das bei uns Eldar normalerweise tut. Außerdem sagte ich Euch bereits, dass die vollständige Heilung sehr lange dauert und Ihr deshalb einige Rückschläge Eurer Krankheit erleben könntet und auch werdet. Dieses Gift ist hartnäckig und es nimmt einige Zeit in Anspruch, bis das Gegenmittel es vollkommen unschädlich gemacht hat.
Lucy – was ich sagen will, ist: Wir können Euch unmöglich die ganze Zeit hier in den Hallen der Heilung behalten, aber wir können Euch auch auf gar keinen Fall zurück in Eure eigene Heimat schicken. Ich habe in den letzten Tagen schon mit den Menschen gesprochen, die für Eure Reisegemeinschaft zuständig sind. Sie berichteten mir, dass die Bekämpfung von Krankheiten in Eurer Welt wohl sehr fortgeschritten ist, man aber all die Dinge, die hier entstehen, dort nicht behandeln kann. Wenn wir Euch gehen lassen, würdet Ihr höchstwahrscheinlich irgendwann an Eurer Vergiftung sterben und niemand könnte Euch helfen. Die Menschen im Außenpunkt der Reisegesellschaft waren nicht sehr erfreut über meine Kunde, aber sie haben meinem Vorschlag, Euch hierzubehalten, letztendlich zugestimmt. Ihr werdet nicht heimkehren können, solange ihr nicht vollends gesund seid. Ich hoffe, es macht Euch nicht allzu viel aus..."
Ich hatte gar nicht gemerkt, wie mir der Kiefer herunter geklappt war, aber jetzt sah ich die dunkelhaarige Elbin perplex an.
„Ich ... ich darf ...hierbleiben?", fragte ich ungläubig.
„Für's Erste ja..."
Völlig überrumpelt drehte ich mich zu Kili, der mich wie ein Honigkuchenpferd angrinste.
„Es ist wahr, Lúthien. Sie behalten dich die nächsten Monate hier."
Den Freudenschrei, den ich dann losließ, hörte bestimmt sogar Radagast in Rosgobel noch mit Moos auf den Ohren.
Das... das konnte nicht stimmen! Das war doch viel zu schön, um wahr zu sein! Ich durfte in Mittelerde bleiben! Ich durfte hierbleiben!
Gerade wollte ich aus dem Bett springen und einen Freudentanz aufführen, aber der Königsneffe hielt mich lachend zurück und umarmte mich stattdessen.
Oh. Mein. Gott. Das konnte doch wirklich alles nicht wahr sein!
Doch plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, der meiner überschwänglichen Freude einen ziemlichen Dämpfer versetzte:
„Manila!", keuchte ich erschrocken.
„Wir ... werden es ihr schonend beibringen müssen.", sagte Kili leise.
Entsetzt fuhr ich zu ihm herum. „Schonend beibringen? Bist du des Wahnsinns? Wir können ihr doch nicht einfach sagen, dass ich hierbleiben darf, sie zurückfliegen muss und gefälligst damit klar zu kommen hat! Wenn ich bleibe, tut sie es auch. Das könnte ich ihr niemals antun!"
Der junge Zwerg hatte meine flammende Rede mit einem sorgenvollen Gesicht verfolgt.
„Lúthien." Jede Spur von Übermut und Freude war von einer Sekunde auf die nächste verflogen. „Wie soll das gehen? Sie ist nicht krank oder dergleichen, sie hat keinerlei Anspruch darauf, hierzubleiben."
„Trotzdem, wir können sie doch nicht einfach wegschicken! Kili, bitte, versteh' doch, das ... das würde mir das Herz brechen! Sie ist wie eine Schwester für mich!"
„Ich weiß." Er blickte mich traurig an.
„Gibt es denn gar keine Möglichkeit, sie hierzubehalten?"
„Nur, wenn wir bereit wären, etwas Verbotenes zu tun..."
„Das wäre ich! Uns wird schon etwas einfallen. Wir brauchen einen Plan, einen guten Plan, aber ich bin mir sicher, dass wir die Reisegesellschaft irgendwie hinter's Licht führen können! Lass uns bald darüber nachdenken!"
„Fräulein Lucy." Die Herrin Tindómerel sah mich eindringlich an. „Ihr seid verletzt und geschwächt, so könnt Ihr doch nicht einfach anfangen, einen Betrug zu planen. Ihr müsst hier noch eine Weile bleiben. Ruht Euch ein bisschen aus. Mit einem so erhitzten Gemüt kann man sowie so keinen klaren Gedanken fassen." Sanft hielt sie mich zurück, bevor ich einen zweiten Versuch starten konnte, aus meinem Bett auszubrechen.
Und damit war das Gespräch auch erstmal beendet. Deprimiert blieb ich sitzen, während die Elben verschwanden und Kili mit sich schleiften, weil sie der Meinung waren, etwas Ruhe und Zeit zum Nachdenken täte mir sicher gut.

Die nächsten Tage wurden wieder besser. Dadurch, dass ich plötzlich einen gesegneten Appetit hatte, kam ich schnell wieder zu Kräften und durfte endlich meine „Koje" verlassen. Kili und ich unternahmen lange Spaziergänge durch Thranduils Hallen, tingelten durch die Elbentavernen, erleichterten meine Goldvorräte und führten in zahlreichen Pausen auf der Bank, die wir wegen mir zwangsweise einlegen mussten, endlose Gespräche darüber, wie man Manila hierbehalten konnte.
Ich musste bald feststellen, dass Einen-illegalen-„Rettungsplan"-gegen-die-Reisegesellschaft-aushecken gar nicht so einfach war. Auch wenn Fili und Kili uns unterstützten, stand uns immer noch der Rest der Zwerge vom Erebor im Weg, die Ardatravel verpflichtet waren und uns somit bestimmt nicht helfen würden.
Ich hätte wetten können, dass mittlerweile sogar mein Heilerteam von mir genervt war, denn ich lag ihnen ständig mit der Frage in den Ohren, ob es schon Neuigkeiten vom Rest unserer Reisetruppe gab. Ich musste endlich wieder mit Manila reden. Obwohl ich mir durchaus bewusst war, dass meine Erlaubnis, hierzubleiben sie wahrscheinlich erstmal ziemlich schocken würde, drängte es mich danach, ihr die Wahrheit zu sagen.
Und ich vermisste sie schrecklich. Allein der Gedanke, wieder mit ihr zu blödeln, zu lachen und nächtelang über Gott und Welt zu dieskutieren ließ mich lächeln. Meine Schwester. Ich brauchte sie, unbedingt.

Und dieses Mal schien das Schicksal mir tatsächlich gewogen zu sein. Kaum eine Woche nach meiner Heilung kam nämlich Eldárwen aufgeregt in mein Gemach gestürzt und teilte mir und Kili (dem ich gerade mühsam das lateinische Schriftsystem beibrachte) mit, dass die Reisetruppe vor kurzer Zeit eingetroffen war.
„Endlich!" Übermütig warf ich das Notizbuch zur Seite und wollte hinaus auf den Gang stürmen, doch da wurde die Tür ein zweites Mal aufgestoßen, ein grün-brauner Blitz schoss kreischend auf mich zu und landete keuchend und lachend auf mir.
„Luuucyyyyyy!!!", quietschte Manila begeistert und drückte mich so fest, dass ich die blauen Flecken davon noch tagelang spürte.
„Mani-..." Nach Luft schnappend schlang ich die Arme um sie und lachte aus vollem Herzen. Wir blieben bestimmt ganze fünf Minuten so liegen, bis sie mich endlich wieder freigab und mich breit angrinste.
„Götter, was bin ich froh, dass es dir so gut geht! Ich bin fast gestorben vor Sorge."
„Dafür scheinst du mir aber noch ziemlich lebendig.", kommentierte ich grinsend.
„Hörst du mir nicht zu? Ich sagte ‚fast'!" Manila lachte ausgelassen. „Naja, ich hatte auch ein bisschen Unterstützung, was das Nicht-wahnsinnig-werden betrifft." Sie drehte sich um und zwinkerte Fili zu, der gerade das Zimmer betrat. „Hallo, ihr zwei!" Er lächelte uns breit entgegen, während sein Bruder aufsprang und den Thronfolger in die Arme schloss.
Ich saß unterdessen überglücklich auf meinem Bett, versuchte, Manilas schnellem Geplapper zu folgen und ließ mich von einem warmen Gefühl durchfluten, eine Wärme, die kein Zaubertrank der Welt erzeugen konnte.
Meine Schwester und ich waren wieder vereint.

Ardatravel - Die Reise nach MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt