Durch die wilden Lande

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Gut gelaunt wanderten wir durch die weiten Ebenen der wilden Lande Richtung Südwesten. Jetzt, wo wir uns wenigstens teilweise wiedergefunden und sogar unsere Reiseleiter zurück hatten, waren wir nicht mehr so schwarzseherisch, was den weiteren Verlauf unserer Reise betraf. Fili und Kili planten, über den Hohen Pass direkt nach Bruchtal zu laufen und dort hoffentlich die anderen wieder zu treffen. Zu Fuß würde es schon ein paar Tage dauern, bis wir das Gebirge erreichten, aber über die sanften Hügel lief es sich natürlich besser als durch den grauenhaften Wald.
An Vorräten hatten wir auch noch mehr als genug, weshalb wir viele Pausen einlegten. Vor ein paar Jahren wäre das in dieser Gegend noch unmöglich gewesen, weil es hier von Orks nur so wimmelte, aber seit der Schlacht waren alle verschwunden. Na ja, alle, bis auf die, die uns im Düsterwald erwischt hatten.
Während wir liefen, führten wir oft stundenlange Diskussionen mit den Zwergen über die scheußlichen Kreaturen. Die beiden konnten sich nicht wirklich einen Reim darauf machen, was eine so kleine Schar in der Nähe des mächtigen Elbenkönigs zu schaffen hatte. Sie mussten doch wissen, dass sie so oder so draufgehen würden. Vielleicht sollte das ja nur ein kläglicher Versuch, Rache zu nehmen, sein.
Obwohl wir am Tag absolut nichts Verdächtigem begegneten, verzichteten wir nachts darauf, ein Feuer zu machen. Die Landschaft war kaum bewachsen und unsere Lagerplätze meist von allen Seiten einsehbar. Wir wollten es einfach nicht drauf anlegen, entdeckt zu werden.
Ein Problem hatte ich allerdings immer noch: Die Albträume. Seit wir vom Wald aufgebrochen waren, hatten sie in keiner Nacht auf sich warten lassen. Ich träumte jedes Mal die gleiche Szene und jedes Mal endete sie damit, dass ich schreiend um mich schlug, die Wunde aufscheuerte und schließlich mühsam von Kili und Manila geweckt wurde. Zwar waren die Schmerzen von Nacht zu Nacht unterschiedlich stark, aber sie waren immer da. Am Tag versuchte ich meist, nicht daran zu denken, denn ich kam mir albern dabei vor. Es waren doch nur Träume, nichts weiter.
Aber auch die Stunden, in denen wir dahin wanderten, blieben nicht so fröhlich, wie am Anfang. Ethan und Alex begannen, uns fürchterlich auf die Nerven zu gehen. Erst äußerten sie ab und zu mal ihre Besorgnis darüber, den Rest der Gruppe und vor allem Ithilia verloren zu haben, aber mit der Zeit wurde es immer schlimmer und sie begannen, sich wieder zu streiten. Unsere Hoffnung, dass sie mit diesem kindlichen Disput abgeschlossen hatten, verpuffte schon bald. Trotzdem sorgten wir uns nicht allzu sehr darum, was sich schließlich als ein großer Fehler heraus stellte.

Die Nacht senkte sich längst über Mittelerde. Heute hatten wir unser Lager in einem winzigen Kiefernhain aufgeschlagen und sogar ein kleines Feuer entzündet. Manila unternahm gerade einen Versuch, das Brot von den Elben in ihrer kleinen Pfanne zu rösten, aber so richtig wollte es nicht funktionieren. Ich saß ein Stück entfernt und zeichnete heimlich ein Bild von Fili und Kili, wie sie am Feuer saßen, in mein Tagebuch.
„Wo sind eigentlich Ethan und Alex?", durchbrach Linnea die Stille.
„Die wollten Holz suchen gehen.", bemerkte Fili. „Aber sie sind schon recht lange weg..."
Plötzlich fuhren wir zusammen. Ganz in der Nähe begann jemand, wütend zu schimpfen.
„Es kann nicht sein, dass du mir immer die Schuld gibst! Da waren zig Orks um uns herum, wie hätte ich sie bitte im Auge behalten und gleichzeitig meinen Arsch retten sollen?"
„Ich gebe dir doch gar keine Schuld, Ethan! Ich meine nur-..."
„Ach, und was sollte >>Du hättest ja besser nach ihr schauen können!<< dann bitte heißen? Natürlich gibst du mir die Schuld dafür, dass wir Ithilia verloren haben! Und weißt du was? Das Gleiche könnte ich auch mit dir tun! Du hast genauso gut nicht nach ihr geguckt!"
„Ja, entschuldige bitte, in diesem Moment war ich ein bisschen zu sehr damit beschäftigt, nicht draufzugehen!"
„Siehst du? Ich nämlich auch! Fakt ist, dass wir sie verloren haben und beide dran schuld sind."
„Ich hab aber extra noch gesagt, >>Ethan, pass auf, wo Ithilia hinläuft. Wenn sie flieht, folgen wir ihr.<<, und du hast genickt! Wir hätten sie nicht verlieren müssen."
„Na siehst du? Leugne nicht noch einmal, dass du die Schuld nicht auf mich schiebst! Ach verdammt! Seit wir diese Frau getroffen haben, geht einfach nur alles den BACH RUNTER!!!" Die letzten Worte brüllte Ethan rasend vor Wut in die Wildnis, dann folgte ein Geräusch, das so klang, als hätte er voller Wucht gegen einen Baumstamm getreten. Ein Schrei gellte zu uns hinüber. Oh Mist. Der Baumstamm war wohl Alex gewesen.
Im folgenden Moment hörten wir, wie die beiden die Schwerter zogen und begannen, einen Fechtkampf auszutragen. Nur diesmal war er echt und, wenn wir nichts unternahmen, vielleicht auf Leben und Tod.
Ich sprang auf, warf das Tagebuch zur Seite, zog meinen Bogen und rannte los. Kurz darauf hörte ich Schritte hinter mir und durch einen kurzen Schulterblick registrierte ich, dass Kili mir folgte.
Dann sah ich die beiden Amerikaner. Sie schlugen sich heftig, viel brutaler als in ihren zahlreichen Angeber-Schaukämpfen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Ethan durch seine unbändige Wut Alex schon immer ein Stück überlegen gewesen war. Und das nutzte er gerade auf das Äußerste aus. In der Dunkelheit sah man, wie die Funken flogen, wenn die beiden Klingen aufeinander trafen.
Alex hatte eine recht gute Deckung, aber sein Gegner war stärker und um ein Vielfaches aufgebrachter, sodass es zwar so aussah, als würde er blind auf Alex einschlagen, aber in Wirklichkeit hatte der Mühe, die präzise gesetzten, schwächenden Schläge abzuwehren.
Auf einmal machte Ethan einen Ausfallschritt, schlug das Schwert seines Kontrahenten nach oben und ließ es ihm mit einem wuchtigen, letzten Schlag aus der Hand segeln. Dann hielt er ihm seine Klinge an die Kehle.
Das tust du nicht!, dachte ich, spannte im Bruchteil einer Sekunde meinen Bogen und ließ den Pfeil mit voller Kraft auf das Blatt des Schwertes prallen. Er war so stark, dass Ethan die Waffe aus der Hand flog. Neben mir sog Kili scharf die Luft ein, während die beiden Amerikaner verdutzt zu mir herüber sahen.
„Schluss jetzt!", brüllte ich sie an. „Wenn ihr euch ständig bekämpfen müsst, ist das euer Problem, aber erwartet nicht, dass irgendjemand von uns euch betrauert, wenn ihr euch gegenseitig UMBRINGT!" Ich spukte ihnen die Worte förmlich vor die Füße. „Ihr schlagt euch hier um eine Frau, die keiner von euch jemals kriegen wird. Ehrlich, das ist einfach nur lächerlich!!!"
Ein gekonntes Haare-über-die-Schultern-werfen-und-hocherhobenen-Hauptes-davonmarschieren wäre jetzt vielleicht angebracht gewesen, aber ich blieb stehen. Stattdessen versetzte Ethan seinem Schwert einen Tritt und verschwand fluchend in der Dunkelheit. Sein einstiger Freund sank zu Boden und fasste sich mit einem weggetretenen Blick an die Kehle. Als ich näher kam und ihn untersuchte, sah ich, dass Ethan ihm einen Schnitt verpasst hatte. Kili stützte ihn, während wir Alex zurück ins Lager geleiteten. Dort behandelte Linnea die Wunde. Sie ließ es sich nicht anmerken, aber ich wusste, dass sie sich schreckliche Sorgen um Ethan und um die Freundschaft der beiden machte. Alex sprach den ganzen Abend kein Wort mehr und legte sich bald schlafen.
Es war späte Nacht und ich hatte den Traum längst hinter mir, als Ethan endlich wiederkam.

Lúthiens Tagebuch

Mae govannen!
So, es wird dringend Zeit, dass ich mal wieder etwas berichte. In den letzten Tagen ist zwar nicht viel passiert, aber ich kann ja ein bisschen etwas zur Reiseroute erzählen.
Nach dem furchtbaren Streit zwischen Ethan und Alex wanderten wir noch zwei Tage lang durch Wilderland und fanden schließlich den Anstieg zum Hohen Pass, der uns über die Nebelberge direkt nach Bruchtal führen wird. In den Ausläufern des Hithaeglir rasteten wir zwei Nächte lang, um wieder ein bisschen zu Kräften zu kommen. Heute machten wir uns dann an den Anstieg. Es war recht schwierig, da dieser Pfad aufgrund der vielen Ork-Überfälle ewig nicht genutzt worden und total zugeschüttet ist. Fili und Kili befürchten, dass es hier in den Höhlen auch immer noch ein paar der scheußlichen Kreaturen gibt, deswegen werden wir die nächsten zwei Tage und Nächte durchlaufen, bis wir den gefährlichsten Teil des Passes hinter uns haben. Hoffen wir mal, dass wir nicht von einer Horde Steinriesen überrannt werden! Na ja, wer weiß, was hier noch so rumschleicht. Gegen Mittag haben wir heute ein seltsames Heulen gehört. So ganz geheuer war uns das allen nicht, deswegen haben wir jetzt, zur letzten Nachtrast im Gebirge, immer zwei zur Wache eingeteilt. Ich schiebe gerade mit Manila meine Schicht. Nun, eigentlich versuche ich nur, mich vor'm Schlafen zu drücken. Die Schmerzen wüten nachts nicht mehr ganz so schlimm, aber die Träume sind einfach grässlich. Immer das gleiche...
Ich werde mich in Bruchtal sofort an einen Heiler wenden, so geht das einfach nicht weiter!

Die Sonne brannte erbarmungslos auf den baumlosen Schotterpfad, den die Menschen den Hohen Pass nannten und ließ uns schwitzen. Was würde ich nur für eine Tube Sonnencreme geben! Mein Gesicht juckte fürchterlich unter der Verbrennung und die Haut auf meiner Stirn begann, sich zu lösen. Gott sei Dank gab es im Gebirge keine Spiegel. Ich musste grauenhaft aussehen.
Wieder hörten wir das Heulen, das uns mittlerweile den ganzen Tag begleitete. Es kam näher.
Die Sonne senkte sich schon herab und färbte die Nebelberge wunderschön rot und golden, doch wir hatten keine Muße, das Naturwunder zu bestaunen. Das Jaulen bereitete uns Sorgen. Wieder hallte es durch die Felsen.
Auf einmal stieß Fili einen entsetzten Schrei aus.
„Da sind Warge!", rief er und deutete wild auf eine nahe Bergflanke, an der sich der Weg entlangwand. Diese Stelle hatten wir heute Morgen passiert. Und tatsächlich, dort rannten wolfsähnliche Kreaturen, jaulten und kamen mit einem beängstigenden Tempo näher.
„Oh nein!", wimmerte Manila.
„Verdammt, sie werden uns auseinanderreißen und fressen! LAUFT!!!", schrie Kili. Und blind vor Angst rannten wir los.


Ardatravel - Die Reise nach MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt