Ein turbulentes Morgenmahl

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Das Feuer flackert lustig vor sich hin und wärmt mir die klammen Hände. Oh nein. Ich bin schon wieder hier. 

Langsam sehe ich mich um. Alles sieht aus wie immer. Das Feuer, das nasse Gras, die Decke, auf der ich sitze und rund herum nur die alles verbergende Dunkelheit. Ach, zum Balrog damit! (Diesen Fluch hatte ich neulich bei den Zwergen aufgegabelt.)
Da ich nicht weiß, was ich tun soll, bleibe ich sitzen und starre in die Flammen. Und warte. Minutenlang. Langsam brennt das Feuer herunter. Wie immer ist kein Holz da, das ich nachlegen könnte.
Ich spüre, wie die Dunkelheit und mit ihr die Kälte von hinten vorsichtig, tastend, näher kriecht. Meine Angst tut es ihr gleich – im nächsten Moment werden mich die Schmerzen überfallen. Zitternd bleibe ich sitzen und rühre mich nicht. Schon bald ist vom Lagerfeuer nur noch eine kerzengroße Flamme übrig.
Plötzlich wird es heller und die Dunkelheit weicht einem warmen Licht. Ich fange vor Erleichterung an zu weinen – es ist vorüber.

„Lucy! Was ist los? Alles in Ordnung mit dir?"
Ich schlug die Augen auf und brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Die Strahlen der aufgehenden Sonne blinzelten durch das offene Fenster hinein und ließen die Seidenvorhänge leuchten.
Ich saß in meinem Bett, schweißgebadet, mein Gesicht war tränennass.
„Geträumt.", murmelte ich nur kurz.
„Ja? Du hast gar nicht ... geschrien.", stellte Manila erstaunt fest und machte sich, wie jeden Morgen, daran, meine Wunde zu begutachten und zu reinigen. Nach wie vor schien sie überhaupt nicht zu heilen, aber sie blutete nicht mehr so stark wie in den vergangenen Nächten.
„Es wird wohl langsam besser.", sagte ich und gab mir Mühe, die Worte selbst zu glauben.
„Schau mal, die hier lag vor der Tür." Manila reichte mir eine Schriftrolle, auf der ein kurzer Text in geschwungenen Elbenrunen vermerkt war. „Ich hab schon versucht, es zu entziffern. Es ist eine Einladung zum Frühstückt."
Ich las kurz über den Text. Tatsächlich lud Herr Elrond die ganze Truppe ein, mit ihm zu frühstücken, da es etwas Wichtiges zu bereden gab.
„Lucy? Auf der Rückseite steht noch etwas. Das... das ist an dich."
„Was?" Erstaunt drehte ich den Zettel um. Jemand anders als der Fürst von Imladris hatte dort eine Notiz hinterlassen. Diese Runen waren irgendwie gerader und nicht so verschnörkelt. Ich kramte einen Bleistift heraus und begann, in lateinische Buchstaben zu übertragen:

Lucy,
ich habe einen Fehler gemacht. Bitte triff mich heute Abend bei Sonnenuntergang am Grab eures gefallenen Freundes.
Ithilia

„Einen Fehler? Wieso das denn? Und warum will sie mit dir darüber reden?", fragte Manila verständnislos.
„Weil ich dabei gewesen bin." Ich erklärte ihr kurz, was letzte Nacht geschehen war. Ithilia hatte schließlich nicht darum gebeten, es vor meiner Freundin geheim zu halten.

Wenig später eilten wir beide die vielen Treppen hoch zu dem Pavillon, wo das Frühstück stattfand. Ich hatte Mühe, nicht über den Saum des Elbenkleides, das ich mir aus unserem Kleiderschrank „lieh", zu stolpern. Herrje, wie konnte man nur dauerhaft in so langen Dingern rumlaufen? Wir waren mal wieder spät dran, denn unsere ganze Truppe saß schon versammelt um den großen Tisch und bediente sich an den köstlichen Speisen.
Elrond lächelte nachsichtig, als wir uns entschuldigten und rasch auf unsere Plätze sanken. Dann stand er auf.
„Ethail nîn!*
Es ist uns Eldar eine Ehre, eine solch außergewöhnliche Reisegruppe in unseren Hallen zu empfangen. Und wir freuen uns außerdem, dass die meisten eurer verloren gegangenen Gefährten wieder aufgetaucht sind..." Er lächelte Ithilia zu. „...doch leider eben nicht alle. Elleth en Ithil**, bitte berichtet Eurer Gemeinschaft von Euren Erlebnissen."
Die silberblonde Elbin erhob sich.
„Eldor und ich sind froh, wieder hier zu sein.", sprach sie. „Es war ein schwieriges Unterfangen, die in alle Winde verwehte Gruppe wieder zu finden und mit ihnen hier her zu wandern, doch ... vier von ihnen wandeln höchstwahrscheinlich immer noch in den dunklen Tiefen des Düsterwaldes. Wir fanden sie nicht..."
Ein entsetztes Raunen ging durch die Runde.
„Deshalb haben wir euch zusammen gerufen, um uns von unserer Entscheidung zu berichten. Wir ... als eure Anführer haben wir eine große Verantwortung zu tragen und wir können nicht zulassen, dass unsere Gefährten in der Wildnis umkommen. Es fiel uns schon schwer, die Suche nach ihnen vorerst aufzugeben und euch hier her, in Sicherheit, zu bringen. Mittlerweile ist schon viel Zeit vergangen und die Hoffnung, sie irgendwann wiederzusehen, schwindet mit jedem Tag."
Schwer getroffen saß ich da und ließ meinen Blick über die Gruppe schweifen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass wir vier zu wenig waren, als ich mit Manila hereinstürzte, aber jetzt fiel es mir auf. Die zwei Jungs aus Kanada und noch zwei andere fehlten.
„Und deswegen haben Eldor und ich entschieden, wieder loszuziehen und sie zu suchen." Einige erschrockene Ausrufe erfüllten den Pavillon.
„Ihr wisst, was das heißt.", fuhr Ithilia unbeirrt fort. „Wir können euch nicht weiter begleiten. Bis wir die Verschollenen gefunden haben, werden die Zwergenbrüder euch allein weiter führen."
Sofort brach der Tumult los.
„Was? Ist das euer Ernst? Wie sollen diese zwei Wichtel dafür sorgen, dass wir den Rest der Reise überleben?"
„Genau! Wir sind mit euch bis hier her gegangen und jetzt wollt ihr uns mit denen weiter schicken?"
„Nein! Eldor! Ithilia! Bitte bleibt bei uns! Ihr könnt doch die Zwerge die Verschollenen suchen lassen."
„Also ich gehe bestimmt nicht mit diesen Möchte-gern-Zwergen weiter. Diese Jungspunde-..."
Stopp. Das reichte. Hiermit war mein Toleranz-Limit offiziell überschritten.
„SCNHAUTZE!!!", brüllte ich und schlagartig herrschte Ruhe. Sämtliche Anwesenden sahen mich mit erschrockenen Gesichtern an. Ich hatte mich unterdessen erhoben und meinen Stuhl recht flegelhaft beiseite geschubst.
„Diese Jungspunde...", begann ich gefährlich leise zu fauchen- „...haben mir schon mehr als einmal meinen verdammten Hals gerettet und euch, wie ihr euch vielleicht erinnern könnt, auch. Wer hat denn dafür gesorgt, dass uns die Orkmeute nicht hinterher rennt und zu Hackfleisch macht? Wer ist tagelang krank vor Sorge durch den verfluchten Wald gerannt, um unsere Leben zu retten? Sie haben uns allein da raus und über die Nebelberge geführt und nebenbei auch noch eine ganze Horde Warge aus dem Weg gefegt. Und das ist euer Dank? Ihr weigert euch, mit ihnen weiter durch die Gefahren zu gehen?" Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
„Was seid ihr für Unmenschen! Wisst ihr, als ich euch am Flughafen in Wellington zum ersten Mal getroffen hab, war ich richtig glücklich, diese Reise mit so vielen, tollen Menschen antreten zu dürfen. Aber jetzt enttäuscht ihr mich bitter. Wie könnt ihr diese Helden, um deren vermeintliche Tode ihr einst haltlos geweint habt, so abwerten?"
Auf einmal fiel mir nichts mehr ein, was ich ihnen noch an die Köpfe klatschen könnte, deswegen raffte ich nur meine Elbenröcke zusammen und rauschte hoch erhobenen Hauptes aus dem Pavillon. Meine Füße trugen mich aber nicht weit und schon bald fand ich mich, an das Geländer gestützt, auf einem Balkon nahe der Haupttreppe wieder. Ich musste unbedingt meine Wut unter Kontrolle bringen. Erst langsam wurde mir bewusst, was ich da getan hatte. Dieses Geschimpfe der elbisch-gepolten unserer Truppe (welche ja anscheinend die deutliche Mehrheit ausmachten) hatte mich derart in Rage gebracht, dass ich sie vor allen Anwesenden angeschrien hatte.
Super gemacht, Lucy!, knurrte ich.. Es fiel mir schwer, mich zu beruhigen und ich zwang mich, wieder normal zu atmen.
Plötzlich hörte ich hastige Schritte näher kommen.
Oh nein. Bitte keine überschwänglich dahingeheuchelten Entschuldigungen. Wenn, dann sollten sie lieber bei den Königsneffen um Vergebung betteln. Aber ich kannte ihre Meinungen nun, hatte ihnen gesagt, wie ich dazu stand und damit basta.
„Lúthien?", fragte eine Stimme hinter mir, viel näher, als ich erwartet hatte. Ich zuckte zusammen und drehte mich überrascht um.
„Ja?"
Kili lächelte sanft.
„Ich wollte nur dringend danke sagen. Dass du uns so verteidigst, ist keine Selbstverständlichkeit."
„Das sollte es aber sein.", sprach ich leise. „Wie sie über euch hergezogen sind ... Das konnte ich nicht länger geschehen lassen. Man tut eben für seine Freunde, was man kann... Ähm, Kili? Hassen sie mich jetzt?" Der junge Zwerg lachte.
„Ich glaube, nicht. Im Gegenteil, sie schienen sehr beeindruckt, dass du das, was du denkst, so offen gesagt hast. Einige haben sich sofort entschuldigt, nachdem du gegangen warst." Daraufhin grinste ich zufrieden.
Wir blieben eine Weile stehen und ich ließ den Blick schweigend über Bruchtal schweifen.
„Lúthien?"
„Hm?"
„Hast du... na ja, hast du... Ich meine, du..."
Ich musste über sein Gestotter glucksen.
„Was ist denn?"
„Äh... Habt ihr wirklich geweint, als wir angeblich gestorben sind... in euren Geschichten?"
„Oh." Ich lachte. „Um ehrlich zu sein... Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr. Ich... ähm... Okay, das ist echt bekloppt, ich geb's zu, aber ich bin noch tagelang, nachdem ich es gesehen hatte, in Tränen ausgebrochen, wenn auch nur jemand deinen Namen gesagt hat. Und nur nebenbei, zu diesem Zeitpunkt bin ich noch der festen Überzeugung gewesen, dass ihr nichts als Fantasien seid."
„Oh weh." Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er rot wurde.
„Ich bin aber auch extrem besessen von euren Geschichten, deswegen wollte ich ja auch unbedingt hier her reisen. Also... bei Leuten wie mir sind solche Reaktionen wahrscheinlich normal.", fügte ich schnell hinzu, damit er das nicht in den falschen Hals bekam.
„Na dann.", murmelte ich schließlich. „Ich gehe dann mal. Der Hunger ist mir dank unserer tollen Truppe jetzt eh vergangen." Bevor er irgendetwas dagegen sagen konnte, verließ ich den Balkon und schritt die Treppen hinunter.

Das Licht der Abendsonne ließ das Gras seltsam dunkel aussehen, aber auf der Spitze des Hügels fing es sich wunderschön leuchtend auf dem weißen Stein und in den Blumen des Grabmals.
Keuchend wie eh und je pilgerte ich den Hang hinauf, um Ithilia zu treffen. Auch wenn Kili mir beteuert hatte, dass die Gruppe nach meinem Ausbruch nicht wirklich wütend auf mich war, hielt ich mich schon den ganzen Tag von ihnen fern. Manila war recht bald wieder zu mir gestoßen, hatte vom Rest des Essens etwas für mich mitgebracht und mir berichtet, was sich noch so zugetragen hatte. Sie fand meine Aktion, genau wie die Zwerge, ziemlich cool, aber ich zweifelte daran, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war.
Als ich endlich am Grab ankam, stand die Elbin schon da. Reglos stierte sie auf den weißen Stein, die Sonne ließ ihre Haare glänzen.
„Du wolltest etwas mit mir besprechen."
„Ja.", sagte sie leise, ohne sich umzudrehen. „Ich habe einen schweren Fehler gemacht."
„Es ist irgendwas wegen Ethan, oder?"
„Ja. Als er mir gestern gestand, dass er fast die alleinige Schuld an Alex' Tod trägt, hat er mich sehr erzürnt. Ich ... ich kann ihm unmöglich geben, was ein Herz verlangt, aber eine enttäuschte Liebe darf kein Anlass dafür sein, Verrat an seinem besten Freund zu begehen. Sein Handeln und die Tatsache, dass ich irgendwo Mitschuld trage, haben mich so entsetzt, dass ich begann, ihn zu verabscheuen. Er bat mich darum, ihn zu töten... Obwohl, ich vergaß, du warst ja dabei und weißt Bescheid."
Ich biss mir auf die Lippe. „War mein Versteck so schlecht?"
Ithilia lachte. „Nein, vermutlich hätte ich die gar nicht so schnell bemerkt, aber einen so eleganten Sprung wie du hat noch niemand in Bruchtals Beete hingelegt." Ich grinste leicht ertappt. „Na ja, ich habe mir solche Sorgen um Ethan gemacht. Er... Immerhin hat er mich auch schon darum gebeten, ihn zu erschießen..."
„Es ist doch auch gar nicht falsch gewesen. Was ich erzählen wollte... In meiner Wut habe ich etwas zu ihm gesagt, was ich unter keinen Umständen hätte sagen dürfen. Und wenn du nicht Mann genug bist, es selber zu tun, wirst du deinen Fehler bis ans Ende deines Lebens mit dir herumtragen müssen.
Er wünscht sich den Tod und die Erlösung und erbettelt ihn sich bei denen, wo er denkt, dass sie genug Hass auf ihn haben, ihn zu töten, aber sein Plan ist immer schief gelaufen. Und ich habe ihn mit meinen Worten auf die Idee gebracht, sich selbst das Leben zu nehmen..."
„Oh verdammt. Daran habe ich noch gar nichts gedacht.", flüsterte ich. „Bloß wie soll man jemanden davor schützen?"
„Es gibt einen Weg", sprach die Elbin ruhig. „Ich bin ein bisschen kundig, was gedächtnisverändernde Magie betrifft, allerdings weiß ich nicht genau, wie sie bei Menschen wirkt. Das hat noch niemand ausprobiert. Ich habe Ethan mit einem Zauber belegt, der ihm jegliche Gedanken an den Wunsch seines eigenen Todes aus dem Kopf verbannt. Er wird sich also nicht selbst töten können, da er nicht mehr weiß, dass er das einst wollte. Allerdings weiß ich nicht, wie weit dieser Zauber den einfachen Wunsch danach in ihm verschwinden lässt. Es kann immer noch sein, dass gewisse Reste dieses Wunsches noch vorhanden sind und zutage treten können. Deswegen wollte ich unbedingt mit dir sprechen. Ihr müsst um jeden Preis auf Ethan aufpassen. Zum einen dafür, dass er seine Strafe auch absitzt und zum anderen, dass euch diese Reise nicht noch mehr Tote kostet. Das ist sie nicht wert.
Sprich mit Manila und den Zwergen darüber, aber sorgt dafür, dass Ethan nie etwas davon erfährt, sonst ist der Zauber wirkungslos."
Ich versprach, zu tun, was ich konnte.
„Gut. Mehr verlange ich nicht. Ich wünsche euch allen eine gute Weiterreise, möge der Mond über euch wachen. Eldor und ich werden morgen früh bei Sonnenaufgang schon verschwunden sein. Novaer, Lúthien!"***
Ich erschauderte kurz. Was hatten nur alle mit diesem Namen?
Doch als ich das nächste Mal aufschaute, fehlte von Ithilia schon jede Spur.

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* Ethail nîn! = Meine Gäste!

** Elleth en Ithil = Mondenfrau (wörtl. „Frau des Mondes"); ein Kosename, den man Ithilia in Bruchtal gibt

*** Novaer, Lúthien! = Lebe wohl, Lúthien!

Ardatravel - Die Reise nach MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt