Manila
Mein Kopf dröhnte äußerst unangenehm, als ich am nächsten Morgen wieder zu mir kam. Valar – ich musste zu viel von diesem schrecklichen Wein getrunken haben, denn zu meinen post-säuferischen Haarwurzelschmerzen gesellte sich auch noch ein kurzzeitiger Filmriss. Wo war ich eigentlich? Und was war passiert?
Es kostete mich einige Anstrengung, die Augen zu öffnen, denn das helle Licht blendete erbarmungslos und trieb mir eine Schwindelwelle durch den Kopf.
Dann folgte ein Moment der Verwirrung. Moment mal...
Das Fenster befand sich doch normalerweise auf der linken Seite. Hä? Wieso glänzten die Vorhänge plötzlich grün und nicht weiß? Und wer, zur Hölle, lag dort auf der Chaiselongue? Seit wann hatten wir überhaupt eine?
Mon dieu!
Auf einmal begriff ich. Ich saß im Bett unseres Nachbarzimmers... in Filis Bett! Der schnarchte nämlich seelenruhig auf dem Elbensofa, die Decke bis unter die Nase gezogen.
Plötzlich erinnerte ich mich. Herrje, jemand musste mich hier rüber getragen haben (Déjà-vu!) – ich war mir totsicher, auf der Couch eingeschlafen zu sein.
Filis Selbstlosigkeit versetzte mir einen warmen Stich ins Herz. Er hatte mich tatsächlich in seinem Bett schlafen lassen und mit der Chaiselongue vorliebgenommen!
Na ganz toll Manila!, schimpfte ich in Gedanken. Kaum bist du gestern Abend so wunderbar über Lucys Einschlaf-Misere hergezogen, da passiert es dir selbst!
Ich blickte mich etwas genauer im Zimmer um. Obwohl der Tag längst angebrochen war, säuselte es auch in dem Bett mir gegenüber noch friedlich vor sich hin. Naja, man konnte es den beiden nicht verdenken. Die letzten Wochen hatten nicht nur uns ziemlich mitgenommen.
Als ich feststellen musste, dass ich natürlich immer noch das Nachthemd trug (Mein Umhang hing über dem Bettpfosten. Glücklicherweise war Elbenseide nicht so durchsichtig, wie sie sich anfühlte...), beschloss ich, mich davon zu schleichen und mir wieder etwas Vernünftiges anzuziehen.
Eilig hüpfte ich über den kalten Steinfußboden und wollte gerade zur Tür hinausschlüpfen, als das Sofa unüberhörbar knarckste und ein verschlafenes „Morgen, Manila. Wohin des Wegs?" verlauten ließ.
„Ähm..." Ertappt drehte ich mich um und wünschte Fili ebenfalls einen guten Morgen. Er rieb sich müde den Kopf und schlug die Decke zurück. Gott sei Dank schliefen die Zwerge in ihren untersten Hemden. Es reichte ja nun wirklich aus, wenn hier nur eine leicht bekleidet herumsprang.
„Herr Elrond hat zum Frühstück eingeladen.", informierte mich der junge Thronfolger.
„Okay...", sagte ich gedehnt. „Dann... gehe ich mich mal umziehen..." Schnell verließ ich das Zimmer und warf mir nebenan das erstbeste Kleid über.***
Hibbelig wie ein kleines Kind rutschte ich auf meinem Stuhl herum und versuchte vergebens, meine buschigen, braunen Haare, die vom Schlafen noch ganz zerzaust waren, zu glätten. Als Fili mir die Nachricht vom gemeinsamen Frühstück mit Elrond überbracht hatte, war ich sofort hier hoch zum Pavillon gehetzt, in der Hoffnung, den Herren von Bruchtal anzutreffen und ihm Neuigkeiten bezüglich Lucy zu entlocken, doch leider fehlte von ihm noch jede Spur. Mittlerweile saß unsere gesamte Truppe versammelt, doch die Elben blieben verschwunden. Bestimmt diskutierten sie in ihrem heimeligen Geheimrat herum, was man gegen die Trolle unternehmen und mit den Flüchtlingen anstellen sollte.
Ja, zugegeben, ich war ein nervöser, ungeduldiger und stark emotional beeinflusster Mensch, der längeres Warten einfach nicht ertrug. Aber warum musste Elrond sich auch ausgerechnet heute so viel Zeit lassen? Ich wollte endlich wissen, wie es Lucy ging! Ich wollte zu ihr!
„Manila!"
„Ja?" Erschrocken starrte ich Fili, der mich aus meinen Gedanken gerissen hatte, über den Tisch hinweg an.
„Du machst ganz schön Krach mit deinem Stuhl.", zischte er mir schmunzelnd zu.
„Ehrlich?" Überrascht stellte ich fest, dass die filigrane Holzskulptur, die die Elben Stuhl nannten, bei jedem Hin-und-her-rutschen vernehmlich knarckste. Peinlich berührt bemühte ich mich, still zu sitzen.
Eine halbe Ewigkeit später tauchten Elrond und Ithilia dann endlich auf. Der Halbelb sprach ein paar begrüßende Worte, wie schon vor ein paar Wochen, setzte sich dann und bat seine Begleiterin, uns von den jüngsten Ereignissen zu berichten.
„Ihr wundert euch bestimmt, mich so zeitig hier wieder anzutreffen, wo wir uns doch eigentlich für längere Zeit verabschiedeten. Nun gut, ich will euch die ganze Geschichte erzählen.", begann die blonde Frau. Obwohl sie die elbentypische ausdruckslos-undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte, machte sich in mir das Gefühl breit, dass irgendetwas nicht stimmte.
„Eldor und ich wanderten ohne Zwischenfälle über das Nebelgebirge und ritten dann, sobald wir die Berge hinter und gelassen hatten, weiter gen Osten. Wir schickten Radagast – er ist euch meines Wissens nach bekannt, nicht wahr?" Murmelnde Bestätigungen erklangen.
„Nun, wir schickten ihm eine Nachricht und trafen ihn bald darauf am Elbentor. Er half uns bei der Suche. Zusammen durchsuchten wir den Wald tagelang und wurden bald fündig, doch was wir sahen, stimmte uns sehr traurig." Sie senkte schuldbewusst den Kopf.
„Wir waren zu spät bekommen. Zwei eurer Gefährten hatte der Tod bereites zu sich genommen..."
„Nein!" Eine Welle des Wehklagens erfüllte den luftigen Pavillon und auch ich schloss schwer getroffen die Augen.
Das konnte doch nicht wahr sein! Wieder forderte diese Reise ihre Tribute – aber gleich zwei auf einmal...
Im gleichen Moment wurde mir allerdings klar, dass wir die ganze Zeit viel zu optimistisch über die Verschollenen gedacht hatten. Sie waren ganz allein durch diesen verfluchten Wald gestreift, unwissend über seine Gefahren, nicht gewohnt an die Wildnis, noch dazu ohne jegliche Orientierung.
Wie um alles in der Welt konnten wir nur so felsenfest davon ausgehen, sie überhaupt wiederzusehen? Wir hätten doch von dem Augenblick an, an dem wir von ihrem Verschwinden erfahren hatten, wissen müssen, dass sie verloren waren!
Ich zwang mich dazu, nicht zu weinen. Ich wollte nicht vor allen anderen in Tränen ausbrechen, nicht schon wieder. Sie sollten nicht denken, dass ich ohne Lucy schwächer war. Nur irgendwie einsamer...
Ithilia setzte ihren Bericht fort, ohne Gefühle zu zeigen.
„Wir sind uns nicht sicher, aber wir glauben, dass sie verdursteten. Ihre Wasserschläuche waren leer, die Lippen trocken und blutig und auch sonst wies alles darauf hin, dass sie tagelang nichts getrunken haben mussten. Bestimmt irrten sie schon seit Wochen herum. Wir fanden sie in zerschlissenen Kleidern vor, mitten im Wald, fernab des Pfades. Wir konnten sie aber nicht mit hierher nehmen. Ich hoffe, ihr verzeiht das. Wir haben sie würdig am Elbentor beerdigt. Ihr könnt ihre Ruhestätte auf dem Rückweg besuchen, wenn es euch danach verlangt.
Allerdings waren die beiden Toten nicht allein – ein dritter eurer Gefährten hatte sie gefunden. Er saß verzweifelt neben ihnen, anscheinend konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen, so sehr quälte ihn der Wald. Nicht mal seinen Namen wusste er noch. Auch er schien dem Tode nah zu sein, doch wir kümmerten uns sofort um ihn und ich beschloss, ihn sogleich hierher zu bringen, damit die Heiler ihn behandeln. Er liegt jetzt ganz in der Nähe von Lucy...
Eldor und Radagast suchen unterdessen den letzten Gefährten, doch es besteht wenig Hoffnung. Wir fanden noch nicht einmal Spuren, die darauf hinweisen, wo er sein könnte. Mittlerweile haben sie vielleicht die Waldelben um Hilfe gebeten. Gebt den Gedanken, ihn eines Tages wiederzusehen nicht leichtfertig auf, aber macht euch bewusst, dass der Düsterwald einer der gefährlichsten Orte ganz Mittelerdes für euch Menschen ist. Tückisch verdreht er euch die Sinne, viele trieb er sogar schon in den Wahnsinn.
Es tut mir leid, dass wir nicht mehr für eure Gemeinschaft tun konnten, doch die Toten zurück ins Leben zu rufen übersteigt sogar die Kräfte der Istari..."
Mit gesenktem Haupt nahm sie Platz und begann, mit Elrond ein Flüstergespräch zu führen.
Eine Weile schwiegen alle. Worüber sollten wir auch reden? Die stumme Trauer war erdrückend. Warum nur musste diese Reise einen derart hohen Preis haben?
Doch plötzlich fiel mir das wieder ein, was mir schon den ganzen Morgen auf der Seele brannte.
„Lucy!", platzte ich ohne jeden Zusammenhang heraus. „Was ist mit ihr?"
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Kili ebenfalls den Kopf hob.
Herr Elronds Gesicht blieb regungslos. „Sie ist leider noch nicht aufgewacht.", gab er zu. „Aber unsere Heiler kümmern sich um sie, also sorgt euch nicht allzu sehr. Wir haben unser Möglichstes getan, um sie von den Schmerzen zu befreien und die Vergiftung aufzuhalten. Nur..." Er machte eine unheilverkündende Pause...
„... kennen wir die Pflanze, an der sie sich verletzt hat, nicht. Sie musste über ein starkes Gift verfügen, denn die Wunde verheilt äußerst schlecht. Nicht einmal mit Athelas konnten wir groß etwas ausrichten. Alaëdor sucht noch nach einem Mittel, was das Gift vollkommen unschädlich macht, aber es geht Eurer Freundin schon besser. Wir haben ihr stärkende Tinkturen verabreicht und versucht, ihre Träume mit Magie eine Weile fernzuhalten, damit sie sich schneller erholen kann. Zerbrecht Euch nicht den Kopf, Manila. Sie wird bald erwachen und dann lasse ich es Euch natürlich unverzüglich wissen." Ich nickte ihm dankend entgegen und versuchte schließlich, mir wenigstens ein bisschen des Frühstücks in den trockenen Mund zu stopfen.Lucy
Noch immer beherrschte die Dunkelheit einen Großteil meines Bewusstseins, aber ich spürte, dass sie langsam wich. Eine ungeheure Erleichterung erfüllte mich.
Weit entfernt hörte ich leise, sanfte Stimmen diskutieren.
„Fühlst du es? Ihre Dunkelheit schwindet. Sie kommt wieder zu sich!"
„Glaubst du wirklich? Ich sehe überhaupt keine Veränderungen."
„Oh doch, ihre Hand bewegte sich eben und die Augenlieder zittern ab und zu. Die Wunde blutet auch nicht mehr so stark."
„Du hast Recht. Ihre Wärme kehrt zurück."
„Geschwind, hole Alaëdor! Er verlangte, sofort Bescheid zu bekommen, wenn sie erwacht."
„Jawohl."
Um mich herum wurde es heller und heller. Außerdem durchflutete mich ein Gefühl, dass ich schon vergessen geglaubt hatte – Wärme! Ich spürte, wie die schmerzende Eiseskälte aus meinen Gliedern verschwand und ich zunehmend die Kontrolle über meinen Körper zurück erlangte. Endlich konnte ich wieder alles um mich herum wahrnehmen – das seidig weiche Bettzeug, der Luftzug der Tür von der hinfort eilenden Heilerin, die frische Herbstluft, die zum offenen Fenster hereinwehte und den Duft von frischgebackenem Brot mit sich führte.
Ich machte einen tiefen Atemzug und genoss es, die Welt nach dieser langen Phase der Dunkelheit endlich wieder in allen Fassetten aufnehmen zu können. Dann blinzelte ich und schlug vorsichtig die Augen auf. Das unerwartet grelle Licht verursachte ein unangenehmes, dumpfes Gefühl in meinem Kopf und trieb mir Tränen in die Augen, doch ich zwang mich, sie auf zu halten.
Noch etwas benebelt sah ich, wie die Tür aufflog und zwei Personen hereinkamen: Ein hochgewachsener Elb mit rötlich-braunen Haaren, gefolgt von einer schmächtigen, blonden Frau. Beide trugen schlichte, silber-graue Kleidung, vielleicht eine Art Uniform der Heiler.
„Frau Lucy! Es freut mich, Euch endlich wach zu wissen. Mein Name ist Alaëdor, ich bin der oberste Heiler von Imladris. Wie geht es Euch?" Der Mann trat näher an mein Bett heran und betastete meine schlaffe linke Hand.
Wie es mir ging? Was sollte ich denn bitte da drauf antworten? Den Umständen entsprechend? Ach nein. Diese blöde Floskel verwarf ich sofort wieder.
„Nicht so toll.", gab ich schließlich zu. Das war nicht mal gelogen. Mein Kopf dröhnte, mein Körper fühlte sich aus unerklärlichen Gründen so an, als wäre eine Elefantenherde darüber getrampelt und die Wunde am rechten Arm brannte höllisch.
„Nun, das war ja zu erwarten. Immerhin wart Ihr seit gestern Abend nicht bei Bewusstsein. Eure Freunde haben sich schrecklich um Euch gesorgt. Mit dieser Vergiftung, die Ihr Euch zugezogen habt, sollte man nicht leichtfertig umgehen. Ihr hättet schon viel eher zu mir kommen sollen." Seine Worte klangen weniger vorwurfsvoll, als sie vielleicht schienen, aber ich senkte dennoch betreten den Blick.
„Bin ich denn jetzt geheilt?", wollte ich wissen. Alaëdor schüttelte geknickt den Kopf.
„Ich muss leider gestehen, dass uns Eure Krankheit ein Rätsel ist. Es handelt sich um eine Vergiftung, so viel ist sicher, aber wir wissen nicht, von welcher Pflanze sie stammt und was dagegen helfen könnte. Ihr erinnert Euch nicht daran, wie sie aussah, oder?"
„Nein, leider nicht. Ich bekam nur den Dorn zu Gesicht und den hat Manila im Wald gelassen. Wir wussten nicht, dass er von einer giftigen Pflanze stammte."
„Das konntet Ihr auch nicht. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass die Waldelben Euch besser helfen können, als wir. Ich habe ihnen schon eine Nachricht zukommen lassen. Wir werden sicher bald etwas finden, was Euch heilen wird.
Nun gut. Ich lasse Euch dann vorerst mit Eurem Besuch allein." Lächelnd öffnete er die Tür. Im nächsten Moment schoss die buschige Mähne meiner besten Freundin an ihm vorbei.
„LUCY!!!", quietschte sie und fiel mir um den Hals, als gäbe es kein Morgen mehr. Etwas gemesseneren Schrittes trat Kili ein und sammelte den Wildblumenstrauß, den die Französin im Eifer des Gefechts einfach fallen gelassen hatte, vom Boden auf. Er lächelte mir breit entgegen.
„Oh Gott, ich bin so froh, dass du wieder wach bist! Ich habe die ganze Nacht kein Auge zuge-..."
„Du hast geschlafen wie ein Stein!", unterbrach Kili sie und lachte.
„Okay, ja, stimmt." Manila ließ mich los und grinste ertappt. „Aber ich bin fast gestorben vor Sorge. Dein ... ähm ... Kumpel..." Sie deutete hinüber zu dem jungen Zwerg, der etwas verloren vor meinem Bett stand, „... übrigens auch." Sie machte ein anzügliches Gesicht und ich streckte ihr die Zunge raus. Ihre versteckten Seitenhiebe waren einfach nie zu überhören!
„Wie ich sehe, hast du wohl deine Nacht nicht allein verbracht.", konterte ich geschickt.
Kili gluckste. „Kann man wohl so sagen..."
„Na dann habt ihr beide mir jetzt aber etwas zu erklären!", forderte ich grinsend, zog die Beine ein und wies mit einer einladenden Geste auf mein Bett.
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Ardatravel - Die Reise nach Mittelerde
FanfictionLucy ist siebenundzwanzig, Individualistin und der leidenschaftlichste Tolkien-Fan der Gegend, doch sie findet ihr Leben sterbenslangweilig und sehnt sich nach einem echten Abenteuer. Bei ihrer erfolglosen Suche nach der perfekten Reise landet sie a...