Manila
Ich saß auf dem Bett und starrte die graue Wand an. Jetzt ging es zu Ende. Meine größte Befürchtung bewahrheitete sich.
Fili hatte mir versprochen, dass sie eine Möglichkeit finden würden, mich hierzubehalten, aber in all dem Chaos wegen Lucy hatten sie vergessen, einen Plan zu entwerfen. Jetzt war es zu spät, in ein paar Stunden ging der Flieger vom Ardatravel-Außenpunkt zurück nach Wellington. Und ich würde darin sitzen und nie wieder nach Mittelerde zurückkehren können. Vielleicht würde ich auch Lucy nie wieder sehen.
Oh nein, wo war nur mein Optimismus geblieben? Normalerweise schaffte ich es immer, solche schwarzen Gedanken zu vertreiben, aber heute wollte es einfach nicht klappen.
Träge stand ich auf und verstaute die letzten Sachen, die noch in meinem kurzfristig bezogenen Zimmer verstreut lagen, im Seesack. Viele waren es nicht. Ich hatte gehofft, dass sie mich bald zurück zu Lucy ließen und deshalb nicht viel ausgepackt, aber Oín untersagte jedem, das Zimmer, in dem sie lag, auch nur zu betreten, weil sie angeblich sehr viel Ruhe benötigte. Diese Auffassung konnte ich zwar nicht teilen, weil ich der Meinung war, dass man gute Freunde in solchen Situationen am besten gebrauchen konnte, aber der alte Heiler bewachte das Zimmer wie ein Schießhund. Ich wusste allerdings, dass Kili trotzdem immer wieder einen Weg hineinfinden musste, denn der blieb oft stundenlang verschwunden. Lustlos ließ ich mich wieder auf's Bett fallen und betrachtete die graue Decke.
Valar, wie würde ich das alles nur vermissen. Nach fast einem Jahr wusste ich schon fast gar nicht mehr, wie es sich anfühlte, mit all dem Komfort, den unsere Welt bat, zu leben.
Vielleicht sollte ich zum Eingewöhnen erstmal ein paar Wochen im Wald leben, schoss es mir durch den Kopf und plötzlich musste ich doch ein bisschen lächeln, als mir ein Bild von meinem Bruder, der täglich das Essen an meinem Zelt vorbeibrachte, während ich zwischen den Bäumen kampierte, in den Sinn kam.
Ein stürmisches Türklopfen riss mich aus meinem Tagtraum und ehe ich den Besucher hereinbitten konnte, kamen die beiden Zwergenbrüder aufgeregt auf mich zu geeilt.
„Manila!", riefen sie gleichzeitig.
„Um Himmels Willen, Jungs, was ist denn los?", fragte ich irritiert und warf einen Blick auf das Lumpenbündel, welches Fili bei sich trug.
„Eure Flugmaschine geht in ein paar Stunden und die Leute von Ardatravel werden bald hier sein. Höchste Zeit, dich endlich aus der Schusslinie zu bekommen.", erklärte der Ältere.
„Oh Mann, danke!!!" Ich fiel den Beiden um den Hals. „Ich dachte schon, ihr würdet es total vergessen, weil hier gerade so ein Trubel wegen Lucy herrscht..."
„Kili hatte im letzten Moment die zündende Idee...", grinste dessen Bruder.
„...auf die mich allerdings Lúthien gebracht hat.", beendete Kili.
„Ist sie... ist sie wieder wach?", rief ich erleichtert und der Thronfolger nickte. „Oh jey!" Ich führte einen kleinen Freudentanz auf. Vielleicht würde sich also doch noch alles zum Guten wenden...
„Nun komm, wir müssen uns beeilen.", sagte Kili. „Fili erklärt dir alles nötige auf dem Weg. Ich gehe zum Tor, um die Stellung halten. Die Ardatravel-Menschen werden bald hier sein..." Mit diesen Worten verschwand er.
„Hier, zieh die schnell über.", sagte Fili und hielt mir die Lumpen hin. Ich zögerte einen Moment, tat aber schließlich, was er verlangte. Jetzt galt es, ihnen zu vertrauen und nichts zu hinterfragen.
„Was genau haben wir denn vor?", fragte ich, während der Thronfolger mich zur Tür hinaus zog, sich kurz vergewisserte, dass niemand in der Nähe war und dann zielstrebig loslief.
„Also, pass auf.", begann er. „In ein paar Stunden sind die Leute von Ardatravel hier, die euch abholen. Auf dem Weg hierher haben sie uns Reiseleitern anvertraut, euch zu holen, aber zurück wollen oder besser gesagt müssen sie kontrollieren, dass auch ja alle mitkommen und das trauen sie niemandem vom uns zu, weil wir ja auf eurer Seite stehen und euch zum Hierbleiben verhelfen könnten – was genau das ist, was wir gerade vorhaben."
Wir liefen über lange Flure und Gänge, aber der Großteil des Weges bestand aus Treppen, breiten wie schmalen, die uns immer tiefer in den Berg hineinführten.
„Diesen Leuten hat Thorin seine Hilfe zugesichert, sollten sie diese benötigen – und in diesem Fall werden sie es, denn wenn sie nachher deine Truppe abholen wollen, wirst du diejenige sein, die fehlt. Folglich ist schon bald fast die gesamte Bevölkerung des Erebors damit beschäftigt, dich zu suchen und es gibt kaum einen Ort, an den sie nicht gelangen. Nur die Kerker werden sie nicht durchsuchen, weil es nur sehr wenigen Zwergen gestattet ist, sie zu betreten. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass du dort bist, warum sollten wir dich auch einsperren? Thorin wird nicht erlauben, dass dort unten gesucht wird. Die meisten Zwerge kennen noch nicht einmal den Weg dorthin.
Hierbei ist es sehr praktisch, dass du so klein bist. Wir verkleiden dich als Zwergin und sperren dich für eine Weile in eine Zelle. Du musst nichts weiter tun als dich ein bisschen dagegen zu wehren, dass ich dich hinter Gitter bringe – denn natürlich gibt es dort unten Wachen, die schnell misstrauisch werden – und dann warten, bis ich dich wieder raushole. Keine Sorge, die Suchaktion wird nicht ewig dauern, schließlich muss das Flugzeug irgendwann starten. Sie werden also genötigt sein, nach gewisser Zeit aufzugeben und ohne dich zu fliegen.
Dann hole ich dich da auf jeden Fall wieder raus. Ich denke, länger als bis heute Abend dauert es nicht."
„Genial!", entfuhr es mir. „Wirklich, das... ist ein guter Plan. Das könnte klappen!"
„Muss es. Denn sonst wüsste ich wirklich nicht, was wir noch tun können..." erwiderte Fili und zog eine Fackel aus einer Wandhalterung. Wir bogen auf einer breiten Treppe nach links ab und stiegen Stufe für Stufe in einen unbeleuchteten Tunnel hinab. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Gut, dass ich mehr oder weniger nur zu Besuch im Kerker saß. Hier unten würde ich es kaum länger als ein paar Tage aushalten, denn man spürte die unvorstellbar dicken Steinschichten förmlich über sich. Obwohl der Gang recht breit war, überkam mich ein beklemmendes Gefühl, gegen das auch Filis beruhigende Anwesenheit nichts ausrichten konnte.
„Für welches Verbrechen genau willst du mich denn überhaupt einkerkern?", fragte ich beiläufig. „Ich meine, die Wachen da unten werden doch sicherlich nicht schlecht staunen, wenn der Prinz persönlich bei ihnen hineinspaziert..."
„Nun ja..." Fili zögerte ein wenig. „Ich hatte mir schon etwas ausgedacht... Nimm es bitte nicht persönlich, ja? Ich wollte den Wachen sagen, dass du deinen Ehemann vergiftet hast... Für so etwas ist Kerker noch die geringste Strafe, aber diese Tat bietet mir die Möglichkeit, dich hier schnell wieder rauszuholen, indem ich den Wachen einfach sage, dass es ein Irrtum war und dein Mann einen Unfall erlitten hat."
„Ui... Gattenmord." Ich schluckte. „Nicht schlecht. Na Hauptsache, du bekommst mich schnell wieder raus..."
„Versprochen."
Wir verließen den dunklen Gang und betraten einen erstaunlich hellen, hohen Flur. Der Thronfolger zog mich schnell um die nächste Ecke.
„Dahinter ist der Eingang zu den Kerkern, dort stehen auch die ersten Wachen.", erklärte er. „Wehre dich einfach gegen alles, was ich mit dir mache. Schrei ein bisschen rum, wenn du kannst und streite jedes Wort ab, was ich sage. Dann sollten sie keinen Verdacht schöpfen."
„Aber werden sie nicht sehen, dass ich keine Zwergin bin?", fragte ich besorgt.
„Hmmm..." Fili legte den Kopf schief und betrachtete mich. Dann wuschelte er mir einmal kräftig durch die ohnehin schon zerzausten Haare und zog mir die Kapuze des Lumpenkleides tief ins Gesicht.
„So." Er drapierte sorgfältig noch ein paar Locken, dann trat er einen Schritt zurück und lächelte zufrieden. „Für eine Zwergin bist du zwar etwas dünn, aber ich denke, das wird diesen Haudegen sowie so nicht auffallen, die sehen jeden Tag weitaus schlimmere Gestalten."
„Na du machst mir ja Hoffnung!", schimpfte ich nervös.
„Tut mir leid." Der junge Zwerg grinste. „Na dann... Auf geht's!" Er umarmte mich einmal kurz und dann, ohne Vorwarnung, packte er mich hart am Arm und zerrte mich so ruckartig hinter der Ecke hervor, dass ich stolperte und vor ihm auf die Knie fiel.
„Beweg dich, Weib!!!", donnerte er in einer Heftigkeit, die ich zuvor noch nie bei ihm gehört hatte. „Los, steh auf!"
Ich hörte schwere Schritte und sah im nächsten Moment metallverstärkte Zwergenstiefel herannahen. „Benötigt Ihr Hilfe, mein Herr?", fragte einer der zwei Wachen.
„Allerdings." Fili zerrte mich grob auf die Füße. Ich ruderte mit den Armen und bemühte mich, möglichst verstört zu gucken, was aufgrund des Schrecks, den der Thronfolger mir eingejagt hatte, gar nicht so schwierig war.
„Der König hat mir befohlen, diese Mörderin persönlich nach hier unten zu geleiten. Sie wird beschuldigt, ihren Mann aus Habgier vergiftet zu haben."
Einen Moment lang stand ich noch verdutzt da, doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich nicht aus der Rolle fallen durfte.
„LÜGNER!", kreischte ich, wand mich in Filis Schraubstockgriff und tat so, als würde ich mich losreißen wollen. „Lügner! Ich habe ihn nicht vergiftet! Ihr elenden Hochwohlgeborenen! Das nennt ihr Rechtsprechung? Niemand hört eine arme Witwe an, niemand glaubt uns, niemand erbarmt sich dazu, dem niederen Volk Gehör zu sch-..."
„SCHWEIG, Hexe!", donnerte einer der Wachen. Hart packte er mich am anderen Arm und schleifte mich in Richtung einer gedrungenen, dicken Eisentür. Sie quietschte erbärmlich, als einige weitere Zwerge in Rüstung sie aufzogen. Dahinter tat sich ein düsterer Gang auf, spärlich mit ein paar Öllampen beleuchtet, die ein kaltes Licht warfen und so schnurgerade und lang, dass sich das Ende, wenn er denn eins hatte, in der Dunkelheit verlor.
„Nein, aufhören! HILFEE!!!", gellte ich durch den Kerker. „Ich habe nichts getan, ich bin unschuldig! Es war ein Unfall! LASST MICH LOS!!!"
„HÜTE DEINE ZUNGE, Weib!", zischte der Wachmann an meinem rechten Arm. „Hilfe wirst du hier unten keine mehr bekommen, niemand wird dich hören. Und wenn du weiterhin so einen Krach machst, wirst du vom Kerker bald mehr zu spüren bekommen als nur Kälte und Dunkelheit..." Mit seinem freien Arm fasste er sich an den Gürtel und ich entdeckte mit Schrecken eine lederne Peitsche.
Auch wenn meine Rolle nur gespielt war, merkte ich, wie der Kerl mich plötzlich wütend machte. Sprangen die hier mit allen Inhaftierten so um? Das musste ja der reinste Albtraum sein!
Ich nahm all meinen Mut zusammen und spuckte dem Ekelpacket vor die Füße. Einen Moment lang herrschte Stille, doch dann sah ich, wie er hinter seinem krausen Bart das Gesicht zu einer zornigen Miene verzog. Seine Augen sprühten vor Ärger. Dann holte er plötzlich aus und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht.
Ich sackte zusammen und hörte, wie Fili scharf die Luft einsog. Valar, die Situation lief so langsam aus dem Ruder!
„Es reicht jetzt!", fauchte der Zwergenprinz und obwohl er es in meine Richtung gesagt hatte, wusste ich, dass es mehr dem Wachmann galt. „Lasst sie mich einsperren! Ich habe die Anweisung vom König, ihr noch eine Frage zu stellen."
„Wie Ihr wünscht." Der Zwerg neigte respektvoll den Kopf und schloss eine der Zellen, die den gesamten Gang auf der rechten Seite säumten, auf.
Hinter der schweren Tür klaffte völlige Dunkelheit. Unsanft schubste Fili mich hinein und zog die Tür hinter sich zu. Dann entzündete er eine Kerze.
„Bei Mahal, Manila, es tut mir so leid!", stieß er aus. „Ich hätte wissen sollen, dass die Wachen hier alles andere als zimperlich mit dir umgehen werden. Bitte verzeih, dass ich dich ebenfalls so behandeln musste... Hat er dich schlimm erwischt?"
„Nein, nein, es geht schon", nuschelte ich und hielt mir die brennende Wange. „Du musstest es ja tun, sonst wären wir wohlmöglich noch aufgeflogen. Und... die Ohrfeige hab ich mir selbst zuzuschreiben. Ich hätte diesen Widerling nicht provozieren dürfen..."
„Stimmt, das war nicht sehr klug. Wir Zwerge fühlen uns sehr schnell angegriffen..."
Ich musste ein bisschen lachen.
„Wie auch immer...", fuhr Fili fort. „Ich lasse dir die Kerze hier und sage ihnen, sie sollen dich völlig ignorieren und dir nichts zu essen geben. Den Kerker-Fraß will ich dir ersparen. Hier..." Er zog einen Wasserschlauch und zwei eingewickelte Päckchen unter seinem Umhang hervor. „Damit solltest du über den Tag kommen. Was auch kommen mag, ich werde auf jeden Fall spätestens heute Abend wiederkommen..."
„Danke, Fili.", schnaufte ich und umarmte ihn fest. „Für alles... Du bist ein wahrer Freund!" Ich spürte, wie er lächelte.
„Na los, geh jetzt lieber. Ich komme schon klar. Pass bloß auf, dass niemand Verdacht schöpft!"
„Mach ich." Der junge Zwerg wandte sich zum Gehen.
„Ach, Fili? Könntest du... dich vielleicht darum kümmern, dass jemand nach Lucy sieht, während alle nach mir suchen? Ich fürchte, dass sie sich schreckliche Sorgen macht und das schadet ihrem Zustand bestimmt nur..."
„Natürlich." Er zwinkerte mir noch einmal zu, dann klopfte er gegen die Tür und schlüpfte hinaus, als die Wachen ihm öffneten.
Ich blieb allein in der Dunkelheit sitzen.
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Ardatravel - Die Reise nach Mittelerde
FanfictionLucy ist siebenundzwanzig, Individualistin und der leidenschaftlichste Tolkien-Fan der Gegend, doch sie findet ihr Leben sterbenslangweilig und sehnt sich nach einem echten Abenteuer. Bei ihrer erfolglosen Suche nach der perfekten Reise landet sie a...