Manila
„Da kommt etwas!", rief Linnea aufgeregt und starrte zum Himmel hinauf.
„Ja..." Ithilia wandte sich ebenfalls um und unser Trupp kam mitten auf dem Pfad zum Stehen. Alle reckten die Hälse und lauschten.
Da war es! Ein hohes, tierisches Kreischen hallte durch die Ausläufer der Nebelberge. Stätig kam es näher.
„Crebain...", flüsterte die blonde Elbin besorgt. „Rasch! Unter die Bäume! Duckt euch ein bisschen. Es ist besser, wenn sie uns nicht sehen."
Hektisch stürzten wir uns ins Unterholz und zogen die Kapuzen über. Alle redeten nervös durcheinander.
„Was... Was sind das für Wesen?", zischte Fili Ithilia entgegen.
„Späher...", murmelte sie düster und legte den Finger an die Lippen. Augenblicklich herrschte Stille.
Und dann kamen sie. Wie bei einem Gewitter verdunkelte sich plötzlich der Himmel, als der rabenartige Schwarm kreischend und fauchend über uns hinwegflog, ihre Schreie wie Blitze, der Flügelschlag wie Donnergrollen.
Ich presste mich eng an eine morsche Kiefer und verbarg mich unter einem trockenen Busch. Aus dem Augenwinkel sah ich Linnea, die flach auf dem Boden lag. Der Wind, den die Crebain verursachten, zerrte an ihren blonden Haaren.
Von einer Sekunde auf die nächste war es dann wieder ruhig. Der Himmel strahlte grau und bewölkt und außer den Vögeln des Waldes hörte man nichts.
Vorsichtig richtete ich mich auf und kroch aus meinem Versteck.
„Sie sind weg." Langsam fand unsere Gruppe wieder zusammen. Ich musste grinsen, als ich sie sah. Die meisten hatten Blätter und kleine Zweige in den Haaren und Umhängen.
Fili zupfte ein bisschen Gestrüpp aus den Locken, schüttelte sich kurz und fragte dann: „Was in Durins Namen wollen die hier? Und für wen spähen sie?"
„Da gibt es nur einen...", flüsterte Ithilia. „Offensichtlich suchen sie etwas... oder jemanden..."
„Wen? Doch nicht etwa uns, oder?", fragte irgendwer ängstlich dazwischen. Ein mulmiges Gefühl überkam mich.
„Nein, sorgt euch nicht.", beruhigte uns die Elbin. „ER würde sich nicht für eine einfache Truppe Menschen interessieren. Aber möglicherweise ist das, was sie suchen, noch viel gefährlicher... Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein."
Für einen kurzen Moment herrschte nur betroffenes Schweigen.
Niemand redete oder lachte gar mehr, als wir unseren Weg fortsetzten. Die Raben hatten uns stark verunsichert. Im Gegensatz zu Fili waren uns diese Kreaturen bekannt, wir wussten, wer sie schickte. Aber was suchte ER? Wieso schickte er seine Spione gerade dahin, wo wir uns aufhielten?
Auf einmal registrierte ich, wie dumm diese Gedanken eigentlich waren. Es gab nur eins, was IHN interessierte: Dieser kleine, unscheinbare Goldring, um den im vergangenen Zeitalter so viel Wirbel veranstaltet wurde. Aber soweit ich zu wissen glaubte, befand der sich doch gerade sicher im Auenland, oder?
Oh, Insider-Wissen!, schoss es mir durch den Kopf. ER weiß das ja gar nicht. Und es wäre wirklich besser, wenn das auch so bleibt! Also schön unauffällig weiterwandern und lieber bei der nächsten Gelegenheit aus dem Staub machen...Doch wir kamen nicht mehr weit an diesem Tag. Bald senkte sich die Sonne zum Horizont und es wurde zu dunkel zum weiter laufen, also schlugen wir uns ein Stück in die Büsche und ließen uns an einer Stelle nieder, die man vom Pfad aus nicht sah. Hinter dem Hangabbruch, den Will entdeckt hatte, konnten wir sogar ein Feuer machen und kurze Zeit später brieten zwei frisch gefangene Kaninchen darüber.
Das hob die Stimmung deutlich. Die letzten Tage waren hart und ermüdend gewesen, da der Hohe Pass sich teilweise sehr schlecht begehen ließ und wir fast nur Elbenbrot essen konnten. Die ganzen anderen Köstlichkeiten hatten nämlich die Jungs gleich am ersten Abend vertilgt.
Stöhnend ließ ich mich auf meine Decke fallen und lehnte mich an die felsige Wand. Himmel, mir taten vielleicht die Füße weh! Wir waren eindeutig zu lange in Bruchtal geblieben, in dieser Zeit musste ich fitnessmäßig ja wieder völlig eingerostet sein!
„Herrje! Du siehst ziemlich fertig aus!" Fili trat vor mich und grinste auf mich hinunter.
„Bin ich auch.", gähnte ich und genehmigte mir einen Tropfen aus meinem Wasserschlauch.
„Begleitest du mich trotzdem ein Stück?", fragte er.
„Wohin denn?" Irritiert hielt ich mitten im Schluck inne.
„Ähm..." Der Thronfolger senkte die Stimme. „Ich habe vorhin merkwürdige Geräusche gehört, aber ich möchte nicht gleich die ganze Truppe in Panik versetzen. Lass uns nur ein Stück gehen und gucken, ob wir etwas finden.
„Was hast du denn gehört?", wollte ich wissen und schwang mich auf. Der junge Zwerg zog mich ein Stück von den anderen weg, bevor er antwortete: „Ich kann es nicht beschreiben. Es klang ungefähr so..." Er machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Fauchen und Schnarchen klang.
Ich gluckste. „Was soll das denn darstellen?"
„Ich habe keinen blassen Schimmer..."
„War es denn weit weg von hier?" Wir wanderten gemächlich durchs Unterholz, flüsterten aber vorsichtshalber nur noch miteinander.
„Nein, nicht besonders. Deswegen möchte ich ja nachsehen. Nicht, dass wir wieder eine solche Überraschung erleben, wie damals kurz vor Bree..."
Oh ja, Recht hatte er. Das wollte ich auch nicht noch einmal durchmachen. Wir blieben kurz stehen und lauschten angestrengt, hörten aber nichts Verdächtiges. Fili lotste mich zum Pfad und wir gingen ihn ein Stück zurück nach Westen. Kurze Zeit später blieb er stehen.
„Hier war es vorhin." Ich hielt die Luft an und versuchte, irgendwo dieses ominöse Geräusch auszumachen, aber wieder Fehlanzeige.
Plötzlich erstarrte Fili mitten in der Bewegung und sein Blick fuhr herum. „Da!", formte er mit den Lippen und deutete hektisch in den Wald zur Rechten des Weges. So leise, wie es ein Zwerg und eine trampelige Menschenfrau nur irgendwie vermochten, stahlen wir uns durch die Büsche.
Dann hörte ich es auch. Erst war es nicht zu deuten, doch dann vernahm ich eine Stimme (Und nein, diesmal NICHT Radagast...).
Eine helle, schimpfende Stimme, oftmals unterlegt mit kehligem Fauchen und einem Ausdruck, den ich nur zu gut kannte.
„Garstige Orkse! Böse Kreaturen! Hätten sie totschlagen sollen... Mit dem Schatz hätten wir sie alle totschlagen können, ja! Gollum! Gollum!
– Lassen uns nicht rein, mein Schatz! Schlagen nach uns, werfen mit Steinen nach uns... Und der Schatz... Der Schatz ist verloren! Neeeiiin..." Das ständige Selbstgespräch wurde von einem tiefen, verzerrten Schluchzen unterbrochen.
Wie angewurzelt stand ich da. Das Schicksal wollte mich doch gerade auf den Arm nehmen, oder? Saß da... wirklich... Gollum im Gebüsch? Der Gollum?
Gut, dumme Frage, es gab ja nur einen von der Sorte. Aber wie konnte es sein, dass er ausgerechnet uns über den Weg lief? Einen Besuch bei dem hatte Ardatravel nun auf gar keinen Fall vorgesehen.
Fili schien meine grenzenlose Überraschung bemerkt zu haben. „Was in Durins Namen ist das?", hauchte er mir zu.
„Gollum.", antwortete ich schlicht.
„Ja, aber was für ein Wesen ist er? Ein gefährliches?"
„Früher war er ein Hobbit.", zischte ich ihn ins Ohr.
„Oh, na dann-..."
„Nein, halt, halt, halt! Gefährlich ist er, sehr sogar. Vor allem gerissener, als er aussieht, aber auch sehr scheu. Er wird unsere Gruppe nicht angreifen, solange wir bewaffnet sind und jemand Wache hält.
„Wir haben versaaaagt...", klagte es. „Schatzzz ist weg... Ist nicht mehr östlich von großen Bergen mit dunklen Höhlen und garstigen Orksen... Huuaaa...
- Schwwwweig ssstill! Hör auf zu heulen! Wir brauchen Plan. Guten Plan, gewieften Plan. Müssen an Orksen vorbei, müssen unter Bergen durch, eilig!
– Aber böse Orkse werden uns aufhalten, werden uns wehtun und fressen!
– Dann müssen wir eben an Orksen vorbei schleichen.
– Können wir nicht! Wir haben den Schatz verloren an den Diiiieeb. Wir... Hassen... BEUTLIN!!!
– Schweig! Können auch ohne den Schatz schleichen, ganz leise. Orkse dumm, sehr fett und dumm. Wir müssen nur schnell sein!
- Jaaa! Und dann holen wir meinen Schatz zurück vom Diiiieb!
- Du meinst unseren Schatz.
- Ja, ja! Gollum, gollum!"
Fili stand völlig verdattert da. „Er redet wirres Zeug. Was, bitte, ist sein Schatz? Und was hat er mit Bilbo zu schaffen?"
Ich stöhnte. „Das erkläre ich dir in einer ruhigen Minute. Nur so viel, der Schatz hat seinen Verstand vergiftet. Und er will ich zurückhaben, um jeden Preis."
„Aha. Und was machen wir jetzt? Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass dieses Wesen hier einfach so herumschleicht."
„Mir auch nicht. Bloß, ich denke, dass es auch nicht gut wäre, der Gruppe von ihm zu erzählen. Wir kennen ihn aus unseren Geschichten recht gut und wahrscheinlich würden alle ihn unbedingt sehen wollen. Dann würde er auf uns aufmerksam werden und ich glaube, dass sollten wir auf jeden Fall vermeiden..."
„Ja, das denke ich auch. Ähm... Du hast gesagt, er sei gefährlich..."
„Ja. Auch wenn er keine Waffen bei sich trägt, ist er sehr stark und vor allem klüger, als ihm guttut."
„Wir töten ihn jetzt gleich! So, wie ich das aus seinem Gebrabbel verstanden habe, hat Bilbo seinen Schatz, was auch immer das sein mag, gestohlen und dieser ... Gollum ist jetzt auf dem Weg ins Auenland, um ihn zurück zu holen. Außerdem könnte er uns in die Quere kommen. Ich finde, wir haben Grund genug, dem Ganzen ein Ende zu setzen..."
Gollum töten? Geschockt klappte ich den Mund auf.
Ich meine, natürlich war er böse und verbittert und würde uns nichts als Probleme bringen, aber mir schossen, im Gegensatz zu meinen Gefährten, gleich zwei Gründe durch den Kopf, dieses vom Hass getriebene, vereinsamte Häufchen Elend am Leben zu lassen.
Erstens war er genau so sehr ein Geschöpf Mittelerdes, wie Fili auch und ich maß mir als „Touristin" in dieser Welt nicht die Berechtigung an, jemanden zu töten, der in der Geschichte Ardas eine so wichtige Rolle einnahm. Bei den Orks sah ich das nicht so eng, da kam es auf ein paar mehr oder weniger auch nicht an, aber Gollum? Nein, das würde ich nicht verantworten können, selbst, wenn er noch so bösartig war. Auch er würde am Ende sicher noch eine Rolle spielen...
Und zweitens war da schlicht und ergreifend Mitleid. Ich kannte Gollums Vergangenheit einigermaßen, ich wusste, welch ein Leid dieses Wesen erfahren hatte. Er konnte nichts für sein Schicksal und das, was der Ring mit ihm gemacht hatte. Auch dieses Mitgefühl, das viele wahrscheinlich als Schwäche bezeichnen würden, hielt mich davon ab, Fili ohne Einwände zuzustimmen.
„Du ... du willst ihn umbringen? Einfach so?"
„Natürlich. Wenn er wirklich so schlau und hasserfüllt ist, wie du sagst, wird er uns nichts als Ärger machen. Es ist besser für uns alle."
Das Allgemeinwohl, schon klar. Na, das ist ja ein gängiges Totschlagargument...
„Aber Fili, denk doch mal-..." Plötzlich zuckten wir zusammen. Ein misstönender, langgezogener Klang hallte durch die Berge.
„Was... Was ist das?", stammelte ich ängstlich. Fili lauschte angestrengt, dann antwortete er: „Höhlenorks."
Im Hintergrund brabbelte Gollum aufgeregt.
„Nein! Nein, mein Schatz! Garstige Orkse... Kommen, um uns zu holen und zu fressen! Wir müssen fliehen!
- Ja, müssen wir! Schnell und leise, bevor sie uns finden. Und wir dürfen dreckigen Menschen nicht über den Weg laufen. Das kleine Weib kennt uns... Müssen aufpassen, dass wir ihnen nicht begegnen, wissen über uns Bescheid. Los, hurtig! Gollum, gollum!" Es raschelte und die helle, gebeugt schleichende Gestalt verschwand im Unterholz. Fili fluchte, da sich seine Beute gerade aus dem Staub gemacht hatte. Dann wandte er sich mir zu.
„Kehre sofort zurück zum Lager und alarmiere die anderen! Sie sollen sich darauf vorbereiten, wegzulaufen und, wenn es sein muss, ein paar Orks zur Strecke zu bringen. Schnell!" Aber ich zögerte.
„Und was ist mit dir? Du kannst doch nicht einfach hier bleiben und allein gegen was weiß ich wie viele Orks kämpfen!"
„Werde ich nicht. Ich gehe nur auskundschaften, wie viele es sind und komme dann zu euch zurück. Versprochen. Und jetzt lauf bitte, Manila. Warne die anderen!"
Ich flitzte los. Während ich den Pfad entlang hechtete, zog ich mein Schwert, nur so für alle Fälle.
Jetzt, nachdem wir Gollum getroffen hatten, wurde mir auch einiges klar. Die Crebain mussten vom IHM losgeschickt worden sein, um ihn zu suchen. Schließlich wusste nur Gollum, wo sich der Eine Ring im Moment befand. Meine Herren. Da waren wir wirklich quasi in eine Angelegenheit der Mächtigsten von Mittelerde hineingestolpert. So langsam wurde es Zeit, dass wir uns verdrückten! Ich beschloss, den anderen nichts von alledem zu erzählen, denn ich würde mich bei unserer Truppe keines Wegs gut Freund machen, wenn sie erfuhren, dass ich ihnen eine Begegnung mit Gollum verwehrt hatte.
Keuchend hetzte ich dem Lichtschein entgegen. Mit einem Hechtsprung segelte ich über die Abbruchkante und landete mitten im Lager. Die Anwesenden schreckten furchtbar zusammen.
„Orks!", krächzte ich atemringend. „Höhlenorks! Los, wir müssen hier weg, sie werden bald da sein."
„Wie viele sind es denn?", rief jemand entsetzt. „Und wo ist der Zwerg?"
„Fili kundschaftet aus. Er kommt gleich. Los, los, los, wir müssen zusammenpacken. Richtet euch auf einen kleinen Gewaltmarsch ein!", drängte ich. Dann klaubte ich meinen Seesack, wickelte meine Decken unordentlich zusammen und trat das Feuer aus.
In der Ferne ertönten Schreie, die sehr orkisch klangen. Götter, was passierte dort? War Fili in Gefahr? Unschlüssig blieb ich stehen, während alle anderen hektisch den Aufbruch vorbereiteten.
Ich hatte gerade beschlossen, seinen Befehl zu missachten und ihm zu helfen, als es über uns im Gebüsch raschelte und plötzlich besagter Zwerg den Abbruch hinunterrutschte und mit klirrenden Schwertern vor mir landete.
Er keuchte ziemlich und als er sich aufrichtete, bemerkte ich einige schwarze Spritzer an seiner Kleidung und im Gesicht. Orkblut.
„Was hast du gemacht?", fauchte ich erschrocken.
„Nur ein paar Orks massakriert. Es waren nicht viele, die konnte ich allein besiegen." Er grinste zufrieden.
„Du hättest tot sein können!", schimpfte ich weiter, während jemand aus unserer Truppe ein wehmütiges Hättest-du-uns-nicht-noch-welche-übrig-lassen-können?-Seufzen ausstieß.
„Bin ich aber nicht.", quittierte Fili fröhlich. „Wir sollten trotzdem schleunigst verschwinden. Es kann gut sein, dass noch mehr dieser Kreaturen unterwegs sind."
„Du hast Recht.", pflichtete Ithilia bei. „Los, gehen wir!"
Tja. Und damit wurde der Abend, der eigentlich so gemütlich begonnen hatte, zu einer weiteren schlaflosen Nacht.
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Ardatravel - Die Reise nach Mittelerde
FanfictionLucy ist siebenundzwanzig, Individualistin und der leidenschaftlichste Tolkien-Fan der Gegend, doch sie findet ihr Leben sterbenslangweilig und sehnt sich nach einem echten Abenteuer. Bei ihrer erfolglosen Suche nach der perfekten Reise landet sie a...