Lucy
Keuchend und zitternd trieb ich mein weißes Pony an, um nicht hinter Kili zurück zu bleiben. In Gedanken fluchte ich. Mittlerweile waren es nicht nur der Wind und die Kälte, die mir zusetzten. Seit vorgestern spürte ich nämlich, wie Kraft und Elan langsam, aber stetig, aus meinem Körper wichen, die Wunde ziepte und die Vergiftung wieder die Oberhand gewann. Im Moment konnte ich es noch erfolgreich vor meinem Gefährten verbergen, aber ich wusste, dass das auf Dauer nicht klappen würde. Er machte sich furchtbare Sorgen, da ihm natürlich nicht entging, wie schrecklich meine Träume wieder waren. Jede Nacht schrie ich, schlug um mich, weinte, jammerte, schimpfte ... und ließ mich doch nicht wecken.
Doofer Stachel. Wie konnte so ein kleines Mistding nur solche Probleme hervorrufen? Na gut, die Frage war eigentlich überflüssig. Kleine Dinge, die großen Ärger machten, gehörten hier in Mittelerde ja zum Inventar, wenn man mal an diesen Ring dachte, auf den alle so scharf waren.
Ich schüttelte den Kopf und biss die Zähne aufeinander, damit sie nicht so unkontrolliert klapperten.
Ja, so langsam hielt der Winter doch tatsächlich Einzug. Schnee gab es hier unten im Flachland noch keinen, aber das hinderte den Wind natürlich nicht daran, uns hässlich kalt um die Ohren zu pfeifen. Und dunkel wurde es auch sehr schnell. Obwohl, wenn ich recht überlegte, war es heute nicht einmal richtig hell gewesen. Ständig hing ein trüber, grauer Schleier am Himmel, der uns auf das Gemüt drückte.
Die letzten Tage waren öde und ereignislos an uns vorüber gezogen, genau wie die Landschaft. Nur Hügel, Gras und ab und zu mal ein Wäldchen, ansonsten ein paar Tiere hier und da, aber zum Glück keine Crebain.
Mittlerweile war auch Kilis gute Laune wieder in den Keller gesunken, sodass sich dieser Teil unserer gemeinsamen Reise als sehr schweigsam herausstellte. Seit ich wieder um nächtlichen Anfälle bangte, hatte ich die Lust zum Reden sowie so verloren.
Für eine Weile lauschte ich nur dem Rhythmus meines Ponys. Ich fühlte, wie ich unter meinem Umhang bibberte und gleichzeitig verschwamm mir die ewig grau-grüne Welt vor den Augen immer mehr. Ich war müde. Und krank. Und müüüüde...
Ruckartig fuhr mein Kopf wieder nach oben. Beinahe wäre ich eingenickt. Die Wunde brannte.
Ich muss es ihm sagen. Irgendwann falle ich garantiert vom Pferd.
Aber ... Ich wollte Kili nicht damit beunruhigen. So wie ich seinen stürmischen Sturkopf einschätzte, würde er wahrscheinlich sofort zu drastischeren Maßnahmen greifen, wie zum Beispiel allein die Wacheschichten zu übernehmen oder mehr Pausen einzulegen.
Kam gar nicht in die Tüte! Wir hatten es eilig. Da konnte ich einen schlafenden Zwerg zu Pferd auch nicht gebrauchen, zumal ich den Weg nicht kannte.„Lass uns..." Ich gähnte laut. „Lass uns endlich mal Pause machen. Ich komme heute nicht mehr sehr weit, ohne einzuschlafen..."
Mein Gefährte war bei den ersten Worten regelrecht zusammengezuckt. Kein Wunder – seit der letzten Rast, die schon Stunden zurücklag, hatte keiner von uns mehr ein Wort gesagt. Er nickte nur, sah sich kurz um und hielt dann Kurs auf eine kleine Nadelbaumgruppe, die unweit des Pfades wuchs.
Wir trieben die Pferde ein Stück zwischen Büsche des kleinen Wäldchens, bis wir eine winzige Freifläche fanden, gerade groß genug, um zwei dicke Ponys und ihre müden Reisenden zu beherbergen.
Ich spürte Kilis besorgten Blick auf mir, als ich ungelenk aus dem Sattel rutschte. Dabei schwankte ich und krallte mich am Pony fest. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen.
Uiuiui. Ruhig bleiben, nicht umkippen, bloß nicht umkippen! Einatmen. Ausatmen.
Langsam beruhigte sich mein hochgeschossener Puls wieder und mein Gleichgewicht kehrte zurück. Erleichtert stieß ich die Luft aus und drehte mich um. Kili starrte mich immer noch an.
„Geht schon wieder.", nuschelte ich nur und ließ mich auf die Decke fallen. Das Starren blieb.
„Es ist wieder da, nicht wahr?" Seine Stimme klang ruhig, gefasst, doch ich wusste, dass dies nur eine Fassade war.
Plan dahin. Er hatte es gemerkt. Na, dann konnte ich jetzt auch reinen Tisch machen.
Langsam nickte ich.
„Der Trank lässt nach.", gab ich mit rauer Stimme zu. „Seit gestern... Ich bin müde... und da ist ständig dieses Schwindel-Gefühl. Wahrscheinlich werde ich bald wieder einen Anfall bekommen."
Angespannt verzog Kili den Mund. „Zeig mir die Wunde.", bat er dann. Wortlos reichte ich ihm meinen Arm und er machte sich daran, den Verband zu entfernen. Das Bild hatte sich nicht verändert, seit ich sie mir im Düsterwald zugezogen hatte. Ein kleiner, ungefähr bleistiftdicker Kreis, drei Finger breit unter dem Handgelenk, der leicht, aber beständig blutete. Unverheilt, seit Monaten. Die kalte Winterluft brannte darauf.
Kili betrachtete erst das Loch und dann den alten Verband fachmännisch. „Du hast Recht. Es blutet stärker als noch vor ein paar Tagen.", stellte er dann fest.
Ich gab eine Paste darauf, die Alaëdor mir mitgegeben hatte und ließ Kili neue Tücher darum wickeln (Der Oberste Heiler hatte ihm eingebläut, das jeden Tag mindestens zweimal zu tun.).
Mein Begleiter und ich vertilgten schweigend eine kalte Mahlzeit, da uns Feuer in diesen gut einsehbaren Ebenen zu gefährlich war, dann rollte ich mein Deckensammelsurium auseinander, hängte mir eine davon um die Schultern und setzte mich wieder hin.
„Du solltest schlafen gehen.", riet Kili mir. Ich zog eine Schnute. Schlafen bedeutete Träume und Träume bedeuteten Schmerz. Nicht gerade rosige Aussichten. Der junge Zwergenprinz schien meine Gedanken erraten zu haben.
„Es ist nicht mehr weit bis zum Düsterwald.", setzte er hinzu. „Wenn wir gut vorankommen, schaffen wir es bis morgen Abend dorthin und dann wirst du geheilt werden, Lúthien. Aber du musst schlafen, so erledigt, wie du bist. Ich bin hier, es kann nichts passieren. Und ich gebe mein Bestes, dich zu wecken, sobald du Schmerzen hast, versprochen."
Ich glaubte ihm und doch hatte ich immer noch Angst.
Kurze Zeit später hatte ich mich auf meinem Lager zusammengerollt und die Augen geschlossen. Außer dem leisen Rauschen des Windes in den Ästen war nichts zu hören. Ich rümpfte die Nase, als eine Rauchwolke von hinten zu mir hinüber wehte. Wieso mussten eigentlich alle Zwerge rauchen? Wusste hier denn niemand um die Gefahren darum? Ich beschloss sofort, Kili demnächst eine Moralpredigt dazu zu halten. Aber heute nicht mehr, ich war viel zu müde.
Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.
Gefühlte Stunden später. Wieso wälzte ich mich hin und her, anstatt zu schlafen? Ich meine, gut, ja, es war kalt, hart und stank immer noch nach Pfeifenrauch, aber gleichzeitig fühlte ich mich hundemüde. Warum schlief ich dann nicht?
Irgendwo in der Ferne schrie ein Käuzchen. Grrr.
Nach ein paar Minuten weiteren sinnlosen Auf-den-Decken-herumkugelns spielte ich mit dem Gedanken, in Alaëdors Notfall-Heil-Sortiment nach einer Alternative für Schlaftabletten zu suchen, aber dann fiel mir ein, dass Elben überhaupt nicht schliefen und er mir so etwas deswegen sicher nicht mitgegeben hatte.
Wieder eine Drehung auf die andere Seite. Hinter mir raschelte es sehr Kili-mäßig.
„Lúthien?", zischte er.
„Hm?", grunzte ich zurück.
„Warum schläfst du noch nicht?"
„Kann nicht. Weiß nicht. Geht nicht..." Na toll. Das müsste man glatt zur geistreichsten Antwort des ganzen Zeitalters küren. Aber dann fiel mir doch etwas ein: „'s ist ganz schön kalt hier. Vielleicht hätten wir doch lieber ein Feuer machen sollen..."
Kili brummte etwas Ablehnendes. Es klapperte und raschelte erneut.
Ich drehte mich auf die andere Seite, öffnete die Augen und stellte überrascht fest, dass Kili gerade dabei war, sich selbst ein Lager neben mir zu errichten.
„Was machst du da?", fragte ich irritiert. Schwungvoll breitete der Zwerg eine weitere Decke aus.
„Dafür sorgen, dass du nicht erfrierst.", kam die geschäftige Antwort zurück.
„Hä?" Ich verstand gar nichts. Doch anstatt seine Idee mit mir zu teilen, verdrehte mein Mitreisender leicht die Augen und kroch unter seine Decken.
Was sollte das denn jetzt bitte werden? Er hatte noch einige Stunden Wachdienst zu schieben, da konnte er doch jetzt nicht so mir nichts, dir nichts schlafen gehen. Ich wollte gerade etwas sagen, da sah er mich plötzlich eindringlich an, streckte einen Arm nach mir aus und sagte: „Komm her."
„Äh ... was?" Mein Gehirn schien sich gerade in den Standby-Modus verabschiedet zu haben.
„Du sagtest doch, dir sei kalt.", setzte Kili noch einmal an. „Und Feuer machen können wir nicht, das ist zu gefährlich. Also..." Er ließ unausgesprochen, was er dachte, bedeutete mir jedoch mit einer Geste, dass ich näher rutschen sollte. Ach, du liebe Güte.
Ich spürte förmlich, wie mir die Hitze mit jedem Zentimeter, mit dem ich umständlich zu ihm hinüber kroch, weiter ins Gesicht schoss. Ich war knallrot, doch davon merkte der Königsneffen, den Valar sei Dank, gar nichts.
Er zog mich ganz nah an sich heran, sodass ich seine ofenhafte Wärme überall fühlen konnte. Dann betastete er prüfend meine Stirn.
„Du bist eiskalt. Ist das schon öfter passiert? Hängt das mit der Vergiftung zusammen?"
„Ich fürchte, ja.", gähnte ich.
„Hm.", brummte Kili. „Schlaf jetzt, Lúthien. Morgen nehmen wir die letzte Etappe und dann wird alles gut." Er legte einen Arm um mich.
Schlafen? Na, du hast gut reden!
Sollte das ein Witz sein? Er konnte doch nicht ernsthaft von mir verlangen, so neben ihm schlafen zu können. Außerdem brachte er sich damit bloß selbst in Gefahr. Schließlich riskierte er mindestens ein blaues Auge, für den Fall, dass ich im Traum wieder um mich schlagen würde.
Angespannt lag ich da, die Arme ganz nah an den Körper gezogen und rot wie eine Tomate. Ich versuchte, meinen Atem zu beruhigen.
Wieder einmal geisterten mir Elronds Worte im Kopf herum.
Wer könnte sie schon besser beschützen, als der, für den sie so viel mehr als nur eine Freundin ist?
Nein, nein, nein, aus! Weg mit diesen dummen Gedanken. Schluss damit! Warum kamen mir nur immer solch blöde Sachen in den Sinn?
Naja gut, in einer derart dummen Situation schienen sie aber gar nicht sooo abwegig.
Ich rutschte ein bisschen hin und her, um bequemer liegen zu können. Da schnaubte Kili plötzlich, doch es klang nicht genervt.
„Du schläfst ja immer noch nicht.", stellte er fast belustigt fest.
„Hmja... Nee.", machte ich.
„Warum nicht?" Eine warme Hand streichelte durch meine Haare.
Weil du Depp die Finger nicht von mir lässt! Mein Puls schoss mit der Beschleunigung einer Rakete nach oben und gleichzeitig merkte ich, wie angespannt ich schon wieder war.
„Weiß nicht recht... Ich habe Angst. Angst vorm Träumen.", murmelte ich verlegen.
„Ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun, um sie dir zu nehmen.", antwortete Kili. „Aber ich kann dir nur versprechen, dass ich alles daran setzen werde, dich zu wecken, wenn es soweit ist." Erneutes Streicheln.
„Versuch es.", flüsterte er. „Versuch, zu schlafen." Und dann spürte ich etwas. Einen leichten, warmen Druck auf der Stirn, kitzelnde, fast kratzende Haare und einen zitternden Luftzug. Doch so schnell, wie es gekommen war, verschwand es auch wieder.
Mein Gehirn brauchte ganze zehn Sekunden, um zu begreifen, dass Kili mich gerade geküsst hatte. Nur auf die Stirn, aber er hatte es getan.
Ach, du heilige Sch... Okay, Lucy, ruhig bleiben, er hat dich bloß gern, alles ist gut. Jaja, schon klar.
Die ganze Sache wandte sich gerade in eine Richtung, die wir tunlichst meiden sollten. Obwohl, wenn ich es mir recht überlegte, war es schon längst zu spät. Ich hätte viel früher etwas dagegen unternehmen müssen, hätte nichts zulassen dürfen. Mittlerweile hing ich viel zu tief drin, was mein Puls mir einmal mehr bestätigte. Jetzt konnte ich auch nichts mehr dagegen unternehmen.
Na, herzlichen Glückwunsch, Kili. Du hast es gerade geschafft, deine Menschenfrau voll und ganz weich zu kriegen.***
Sterbend flackert das Feuer vor sich hin, jedoch, ohne jegliche Wärme zu verbreiten. Es ist das Licht im ewigen Dunkel und es ist dem Untergang geweiht, wie in jedem Traum.
Starr vor Angst sitze ich auf der nassen Decke und kann mich nicht rühren. Nur ein Wort entweicht meinen Lippen.
„Nein!"
Nein, bitte kein Traum, nicht die Dunkelheit, nicht die Schmerzen!
Als ob man mein Stoßgebet hören würde, wird es plötzlich heller. Ein stetiges, weißes Strahlen steigt über den Horizont, den bis eben die Finsternis noch verschluckte. Ich fühle, wie mein panischer Geist sich danach sehnt, wie der Frieden nach mir ruft. Langsam gleite ich aus meinem Körper.
„Nein! NEIN!" Mein Überlebenswille schaltet sich ein und wie von selbst greife ich danach.
Das Feuer ist längst ausgegangen, doch ich fühle die Schmerzen und die Kälte nicht. Ein schlechtes Zeichen. Es bedeutet, dass ich schon fast tot bin.
Wieder kralle ich nach mir selbst, doch ich entgleite mir wie Wasser.
Unterbewusst höre ich Schreie und merke, wie man mich schüttelt.
„Lúthien!", ruft die angstverzerrte Stimme immer wieder, „Lúthien, wach auf, bitte!". Kili.
Ich muss es schaffen. Es muss doch irgendeinen Weg geben, diesem vermaledeiten Licht zu entkommen und in meinen Körper zurück zu gelangen.
Komm zu mir, scheint das Strahlen zu flüstern. Hier wird es dir besser gehen, du musst nie wieder Schmerzen erleiden. Bei uns findest du Frieden! Du musst nicht mehr kämpfen.
„Nein!", zische ich, obwohl das Licht eigentlich kein Wort zu mir gesagt hat. „Dazu bin ich noch nicht bereit! Lieber lasse ich mich ein Leben lang von den Krämpfen foltern, als jetzt aufzugeben. Da ist so viel, für das sich das Kämpfen lohnt." Meine Stimme klingt wie eine Schlange, wütend und kalt.
„Ich werde die, die mich lieben und die ich liebe, nicht im Stich lassen. Ich werde das Gift besiegen und alles Leid in Kauf nehmen, das man mir auferlegt, denn ich habe einen Eid geschworen, mein Leben niemals aufzugeben! Ich. Werde. Nicht. Sterben!"
Im nächsten Moment hole ich so tief Luft, als wäre ich gerade dem Ertrinken entronnen. Ich habe es geschafft. Ich bin wieder in meinem Körper!
Lieber Schmerzen als Tod.
Doch der erwartete Schmerz kommt nicht, nein. Stattdessen weicht das Traumbild und ich sehe wieder durch meine richtigen Augen.Gleichzeitig vor Glück und vor Angst weinend fuhr ich hoch und fiel Kili in die Arme.
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Ardatravel - Die Reise nach Mittelerde
FanficLucy ist siebenundzwanzig, Individualistin und der leidenschaftlichste Tolkien-Fan der Gegend, doch sie findet ihr Leben sterbenslangweilig und sehnt sich nach einem echten Abenteuer. Bei ihrer erfolglosen Suche nach der perfekten Reise landet sie a...