Keuchend und triefend hetzten wir den schmalen Pfad entlang, das Heulen hinter uns beängstigend nah. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wie viele waren es wohl? Wie bald würden sie uns einholen? Konnten wir es zu sechst mit ihnen aufnehmen, ohne Verluste davonzutragen? Den anderen schien es nicht wirklich besser zu gehen. Weglaufen war im Moment das einzige, was wir tun konnten.
„Gibt es hier keine Höhlen?", japste Manila in Richtung der Zwerge. „Oder vielleicht irgendetwas, wo wir uns verstecken könnten?"
„Sie würden uns wittern.", gab Fili zurück. „Das wäre unser Tod."
„Aber wie lange soll das denn noch so weitergehen?", fragte ich, denn ich spürte, wie meine Kräfte langsam nachließen.
„So lange wie es eben geht.", antwortete Kili mir. „Lauf einfach weiter. Vielleicht fällt uns ja noch etwas ein."
Ja, natürlich, dachte ich ironisch. Eine Flucht im Dauerlauf ist auch die beste Gelegenheit, einen taktisch wertvollen Plan auszuhecken.
Wir mussten bald eine Viertelstunde rennen, als Manila aufstöhnte. Sie war schon deutlich zurückgefallen.
„Jungs, ich kann nicht mehr.", wimmerte sie. „Lauft ihr weiter. Ich schaffe es nicht mehr." Sie hielt an und lehnte sich an eine Kiefer des Hains, der sich rechts des Schotterweges erstreckte.
„Manila!", rief ich geschockt und lief zu ihr. „Du kannst jetzt nicht einfach aufgeben. Komm weiter!" Doch statt einer Antwort kreischte sie plötzlich auf, als ein schwarzer Warg um die Ecke geschossen kam. Wie auf Kommando zogen alle die Waffen. Weglaufen brachte jetzt nichts mehr. Der erste fiel Kilis Bogen zum Opfer.
„Lockt sie in die Kiefern, da können sie sich schlechter bewegen!", rief Fili uns zu. Wir befolgten den Plan und zogen uns ein Stück zurück. Immer mehr Warge kamen um die Bergflanke herum und begannen, gegen uns zu kämpfen. Schon bald hatte ich wieder dasselbe Gefühl wie im Düsterwald, nur dass mir jetzt nichts anderes übrig blieb, als zu den Waffen zu greifen. Ich beschloss, meine Kräfte vorerst zu sparen und fing an, alle dieser scheußlichen Wölfe, die mir vor den Bogen kamen, zu erschießen. Hin und wieder warf ich einen raschen Blick zu den anderen. Manila hatte mit ihrem großen Schwert ein paar Probleme zwischen den engen Bäumen, da sie nicht richtig ausholen konnte. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, die Viecher zu erstechen.
Auf einmal sah ich, wie ein Warg Anstalten machte, von hinten über meine Freundin herzufallen.
Oh nein, mein Lieber! Grollend vor Wut zog ich einen Pfeil und jagte ihm dem Biest ins Auge. Es sah wirklich eklig aus und das Gewissen, zu töten, war auch bei diesen eher unmenschlichen Wesen furchtbar schlecht.
Manila warf mir einen kurzen, dankbaren Blick zu und nahm sich den nächsten Warg vor. Ich tat es ihr gleich und erledigte noch drei weitere mit dem Bogen. So langsam wurde ich richtig nervös. Es kamen immer und immer mehr auf uns zu. Wir konnten wirklich nur von Glück reden, dass sie nicht auch noch genauso viele Orks mitbrachten, dann wären wir schon lange tot.
Ein grau-braunes Exemplar der wolfsähnlichen Kreaturen rannte mit einem Affenzahn auf mich zu und riss das Maul auf, um mich zu verschlingen. Ich spannte den Bogen und trieb ihm einen Pfeil direkt in den Rachen. Das Vieh stieß einen gurgelnden Laut aus, verdrehte die Augen und klappte die Zähne wieder zusammen, rappelte sich auf und ging erneut auf mich los.
Hastig trat ich ein paar Schritte zurück und griff in meinen Köcher – vergeblich. Er war leer! Panik kam in mir hoch, während ich versuchte, das Messer aus meinem Gürtel zu fummeln. Es wollte meinen fahrigen Fingern nicht recht gelingen.
Ein Zischen ließ mich aufschrecken und ich sah, wie der Warg vor meinen Augen in die Knie ging und reglos liegen blieb. Ein Pfeil steckte ihm im Kopf, ein Pfeil mit gelben Federn. Ich hätte Kili am liebsten eine Kusshand zugeworfen, hatte aber gerade genug damit zu tun, das blöde Messer aus dem Gürtel zu kriegen, deswegen konnte ich ihm nur kurz zunicken und weiter kämpfen.
Das nächste Tier war so dumm und rannte geradeaus in meine Klinge hinein, dem übernächsten schnitt ich die Kehle durch. Eine widerliche Angelegenheit. Über und über mit schwarzem Blut besudelt (War das etwa ein Erkennungszeichen dafür, dass man zu den Bösen gehörte?) kroch ich unter ihm hervor und schwor mir sogleich, das nicht nochmal zu machen.
Je länger ich kämpfte, desto mehr merkte ich, wie sehr ich das Töten hasste. Es kam mir nur richtig vor. Wenn man sich gewalttätige Szenen im Fernsehen ansah oder davon las, verpasste einem das immer einen richtigen Kick und normalerweise brüllte das Bewusstsein „Jawohl, weiter so, mach ihn fertig!". Aber das echte Töten fühlte sich anders, eben falsch, an. Ich mochte es nicht, mich über die Biester, seien es noch so große Feinde von uns, hinwegzusetzen und über ihr Leben oder vielmehr ihr Sterben zu richten.
Im Hinterkopf hörte ich mal wieder Gandalf rumzitieren. Wahrer Mut besteht nicht darin, ein Leben nehmen zu können, sondern es zu bewahren.
Ja sorry, Mithrandir. Mir lag aber gerade mehr daran, mein eigenes Leben zu bewahren.
Plötzlich registrierte ich, dass die kurze Unaufmerksamkeit ein Fehler gewesen war. Um mich herum standen mindestens sechs Warge und knurrten mich unheilverkündend an.
„Scheiße.", sagte ich laut, was die Viecher nicht wirklich zu beeindrucken schien.
Mist. Die Gedanken wirbelten mir nur so durch den Kopf. Wenn ich irgendeinen erstechen würde, fielen die anderen totsicher über mich her.
Es sei denn...
Brüllend sprang ich auf einen der Warge zu und stach ihm den Dolch in die Eingeweide. Gleichzeitig zog ich ein zweites Messer unter meinem Wams hervor (Meine sprichwörtliche Geheimwaffe. Merkspruch von Fili: Man kann nie genug Messer bei sich haben.) und hieb damit nach dem Wolf, der mir gerade den Kopf abreißen wollte. Zwei waren erledigt. Blieben noch-...
„Aaaahhh!" Ich kreischte gellend auf, als mich etwas am Köcher packte und durch die Luft gegen einen Baum schleuderte. Stöhnend rappelte ich mich wieder auf und keuchte vor Angst, als ich sah, wie drei Warge klischeehaft langsam auf mich zukamen und schon mit dem Blick verkündeten: „Yummy, jetzt bist du fällig, Schätzchen." Da hallte ein heller Schrei durch den Wald, der rechte Warg jaulte auf und kippte wie ein Brett zur Seite um. Ein Schweif blonder Haare wehte durch die Luft, dann fielen auch die anderen zwei. Ich blinzelte einen Moment verwirrt, doch dann erkannte ich wieder, was geschehen war. Linnea zog gerade ihre schnittige Axt aus ihrem letzten Opfer und reichte mir die Hand.
„Alles in Ordnung?" Ich nickte schnell.
„LUUUCYY!!!", hörte ich plötzlich eine verzweifelte Stimme durch die Berge rufen. „KOMM HEEER!" Ohne weiter nachzudenken, klaubte ich das Messer vom Boden auf, nahm die Beine in die Hand und stürzte Manila entgegen. Sie hockte am Rand des Weges, schien allerdings nicht wirklich in Schwierigkeiten zu sein. Erst als ich näher kam, merkte ich, dass sie schluchzte. Mit zwei Schritten nahm ich die letzten paar Meter und ging neben ihr in die Knie.
Vor ihr lag Alex, den Kopf auf seinem Seesack gebettet, sein Atem ging stoßweise und röchelnd.
„Alex! Oh Gott, was ist mit ihm?", fragte ich panisch.
„Ge-... bissen", krächzte er schwach und deutete mit dem Kinn auf seine Brust. Ich schob sein Hemd ein Stück runter... und guckte schnell wieder weg. Sie war übersäht und zerfetzt von unzähligen, blutenden Löchern, geschlagen von gierigen Wargzähnen.
„Oh nein. Das... kriegen wir bestimmt wieder hin.", wimmerte ich, zu geblendet von dem Schock, um die Wirklichkeit zu sehen. Ich schrie in den Hain nach Fili und Kili, die unverzüglich angerannt kamen. Sie sahen zerkratzt, aber recht glücklich aus. „Alle erledigt", berichtete der Ältere stolz, aber dann fielen ihre Blicke auf Alex und sie wurden aschfahl.
„Ethan...", keuchte der Verwundete, gepeinigt von grausamen Schmerzen. „Er hat es gesehen... Ich... umringt von ... Wargen ... Er ... Er hat nichts ... getan. Er hat ... sie mich ... zerreißen ... lassen... Bitte sagt ihm ... sagte ihm, dass er ... der beste Freund ... der Welt war... bis wir ... bis wir die Mondfrau getroffen haben... Ithil-..." Er konnte das Wort nicht mal zu Ende sprechen, denn ein letzter, rasselnder Hustenanfall erschütterte ihn, dann schloss er die Augen und verschied.
„Nein! Alex! Neiheiiiiin..." Linnea brach über dem Toten zusammen und schluchzte hemmungslos. Ich strich ihr beruhigend über den Rücken, obwohl auch mir die Tränen ungebremst über die Wangen liefen. Das war nicht fair... Alex ... Er war noch viel zu jung, um zu sterben...
Und an alledem war diese dämliche Fehde mit Ethan schuld. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich fühlte, wie eine unbändige Wut in mir aufstieg, eine Wut, wie ich noch nie eine verspürt hatte. Ich sprang auf und lief auf den Hain zu.
„ETHAN!", brüllte ich in die Bäume hinein. „Ethan, du ..." Mir fiel absolut kein Wort für das ein, was er getan hatte. Auch wenn er es vielleicht nicht selbst gewesen war – er hatte Alex ermordet und in mir brannte das ungewohnte, heftige Verlangen, ihn dafür bluten zu lassen.
„Lúthien! Was hast du vor?" Ich hörte Kilis Schritte hinter mir. Oh Mist. Er musste gesehen haben, wie ich das Messer zog. Unentschlossen blieb ich stehen und sah ihn an. „Nichts... Ich ... wollte ihn nur suchen gehen." Unauffällig ließ ich die Klinge wieder im Gürtel verschwinden, jedoch nicht ohne Schuldgefühle.
„Tu das nicht.", flüsterte er und fügte etwas lauter „Ich komme mit." hinzu. Wir betraten den Hain, der mittlerweile in völlige Finsternis gehüllt war. Stumm ließ ich den Blick schweifen.
„Ethan?", fragte ich noch einmal leise. Wie als Antwort ertönte ein Schniefen, schräg rechts vor mir. Der Amerikaner saß an einen Baum gelehnt auf dem Boden, das Gesicht zwischen den Knien vergraben. Er sah furchtbar aus. Seine Arme waren zerkratzt, das Hemd zerfetzt. Als er den Kopf hob, wurde eine kleine Wunde über der linken Augenbraue sichtbar – und trotzdem, er hätte schlimmer wegkommen können. Immerhin lebte er noch, im Gegensatz zu-
Nicht dran denken, schalt ich mich. Am Ende dreh ich ihm noch den Hals um. Aber in dem Augenblick, in dem ich Ethan entdeckt hatte, war mir klar geworden, dass es ihm unendlich leidtun musste. Sein Blick schien gebrochen und so verzweifelt, dass es mir Schmerzen bereitete, ihn anzusehen. Trotzdem würde ich noch lange brauchen, um ihm das zu verzeihen, wenn ich das überhaupt schaffte.
Er sah mich an und flüsterte: „Erschieß mich."
„Nein." Auch wenn ich es vielleicht bis eben, von der Wut geblendet, noch vorgehabt hatte – ich würde Blut nicht mit Blut vergelten, sonst wäre ich ja nicht besser als Ethan selbst.
„Nein, ich werde dir jetzt nicht auch noch einen Wunsch erfüllen und dich von dem Leid, das du dir selbst zugefügt hast, befreien. Es wird dir eine gerechtere Strafe sein, wenn du alles, was folgen wird, ertragen musst."
Meine Worte waren wahrscheinlich hart, aber sie sprachen exakt das aus, was ich fühlte. Hass. Wut. Und der Tod schien mir in diesem Moment für Ethan mehr eine Erlösung als eine Strafe.
Kili wuchtete das Wrack, das von dem Amerikaner noch übrig geblieben war, hoch, stützte ihn und begleitete ihn zurück zu den anderen.
„Wir haben ihn gefunden.", verkündete ich schwach. „Tut mir den Gefallen und spießt ihn nicht gleich auf. Wir haben beschlossen, dass er mit seinem Fehler leben muss." Der Rest unserer Truppe gab ein Geräusch von sich, das wie eine geschniefte Zustimmung klang.
Kili hatte Ethan mittlerweile wieder freigegeben, aber als dieser Alex' Leiche entdeckte, brach er auf dem Weg zusammen, verbarg das Gesicht mit den Händen und wimmerte aus Leibeskräften.
Der jüngere der Königsneffen klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Beruhige dich, Mann. Wer weiß, was sich hier noch so rumtreibt und ich möchte sagen, das waren genug Warge für eine Nacht."
„Wir bleiben hier bis zum Morgengrauen.", bestimmte Fili. „Es hat keinen Sinn mehr, jetzt noch weiter zu gehen, wir sind alle müde und teilweise auch verletzt. Am besten, wir tragen alle Sachen in den Hain und verstecken uns dort so gut wie möglich. Ethan, du übernimmst die Totenwache."
Wir betteten Alex auf ein paar Decken und legten ihm sein Schwert in die Hände, wie einem echten Helden. Linnea summte ein trauriges, norwegisches Lied und gab ihm noch einen letzten Kuss auf die Stirn. Dann suchten wir uns alle einen halbwegs gemütlichen Platz im Kiefernhain. Doch wer konnte in dieser Nacht schon schlafen?
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Ardatravel - Die Reise nach Mittelerde
FanfictionLucy ist siebenundzwanzig, Individualistin und der leidenschaftlichste Tolkien-Fan der Gegend, doch sie findet ihr Leben sterbenslangweilig und sehnt sich nach einem echten Abenteuer. Bei ihrer erfolglosen Suche nach der perfekten Reise landet sie a...