Abstecher mit Folgen

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Lucy

Grinsend stapfte ich hinter Kili her, der bestens gelaunt und pfeifend durch den Wald marschierte, geradeso, als würden wir diese Reise aus purem Vergnügen unternehmen.
Na gut, es war auch zweifelsohne ein schöner Tag. Obwohl der Winter mittlerweile vor der Tür stand und der Wind uns dementsprechend kalt entgegen wehte, zwinkerte die Sonne warm und freundlich durch die kahlen Bäume und streichelte uns die Gesichter.
Heute Morgen hatten wir uns endlich an den Abstieg aus den Nebelbergen gemacht und die östlichen Ausläufer erreicht. Eigentlich sollten wir ja ab hier zu Pferd weiter reisen, nur fehlte von denen bis jetzt jede Spur.
„Sehr zuverlässig, diese Elben.", bemerkte mein Begleiter spitz, jedoch schien das seine gute Laune in keinerlei Weise zu dämpfen.
Das liegt bestimmt daran, dass er mal wieder ein paar Stunden am Stück schlafen konnte, redete ich mir ein. Vor allem, wenn man bedenkt, wo genau er das getan hat.
Seit wir den Hohen Pass verlassen hatten, folgten wir einem Pfad, der durch Wilderland direkt auf die alte Waldstraße zuführte. Das heißt, Kili folgte dem Pfad, meinen ungeübten Augen blieb er leider verborgen. Allerdings würden wir diesen Weg nur bis zur alten Furt gehen, um den Anduin zu überqueren, danach mussten wir uns nach Norden, zum Elbentor, wenden. Vorausgesetzt, wir würden die Pferde bald finden...
Herrje, ob ich überhaupt noch reiten konnte? Mittlerweile war es schon wieder ein paar Jahre her, dass ich zuletzt auf einem Pferd gesessen hatte. Na, das konnte ja heiter werden. An dieser Stelle war ich ziemlich froh, dass wir nur zu zweit unterwegs waren, so musste ich mich wenigstens nicht vor der ganzen Truppe blamieren.
„Na endlich!", hörte ich plötzlich Kili sagen. Dann lichtete sich vor uns der Wald und wir standen am Rand einer weitläufigen, saftig grün bewachsenen Hügellandschaft – Wilderland. Und genau hier fanden wir auch die Pferde vor, die man uns versprochen hatte.
Zwei Ponys standen friedlich grasend an einen Baum gebunden da, eins schwarz und strubbelig, das andere schneeweiß. Beide trugen filigran gearbeitete Sättel und hübsch bestickte Decken – zweifellos elbische Werke. Wir näherten uns ihnen und ich ließ das weiße Pferd meine Hand beschnuppern.
„Bei Durins Bart! Sogar Proviantnachschub haben sie mitgeschickt!", rief mein Begleiter begeistert aus, nachdem er die Satteltaschen durchwühlt hatte. „Ich sollte wirklich öfter auf Elronds Befehl hin losziehen!"
Grinsend verdrehte ich die Augen. „Aber immer noch kein Fleisch, oder?"
Kili schielte ein weiteres Mal in die Taschen, schüttelte dann aber enttäuscht den Kopf.
Wir beschlossen, unseren Weg sogleich fortzusetzen, also schwang der junge Zwergenprinz sich in den Sattel und sah mir belustigt dabei zu, wie ich ebenfalls aufstieg und versuchte, mich an meine lange vergangenen Reitstunden zu erinnern. Schließlich brachte ich das gutmütige, weiße Pony aber dazu, sich in Bewegung zu setzen und wir machten uns auf.

Wir ritten ein paar Tage geradeaus Richtung Osten. Der Pfad, dem wir folgten, schien nicht sehr häufig benutzt zu werden, denn an einigen Stellen verblasste er so weit, dass man ihn kaum noch sah. Nun ja, die „vernünftigen" Leute blieben auch lieber westlich von den Nebelbergen und glaubten die Gerüchte über Wilderland, anstatt selbst zu erkunden, was sich zwischen den Hithaeglir und dem Düsterwald so herumtrieb.
Wir konnten uns allerdings wirklich nicht beschweren. Bis jetzt verlief unsere Reise problemlos und wir lagen gut in der Zeit. Das einzige, was uns nachts im wahrsten Sinne des Wortes den Schlaf raubte, waren, wie immer, meine ominösen Träume, die, seit wir Bruchtal verlassen hatten, wieder massiv zunahmen.
An einem kalten, aber sonnigen Nachmittag erreichten wir die alte Furt des Anduin. Das Wasser floss an dieser Stelle recht breit, war aber flach genug, um hindurch zu waten. Meine weiße Stute scheute erst ein bisschen vor dem gurgelnden Strom, folgte dann aber lammfromm Kili, der sein Strubbelpony energischen Schrittes durch den Fluss führte.
Nachdem wir unsere nassen Umhänge eine Weile in der Sonne getrocknet hatten, entschieden wir, für heute nicht mehr weiter zu reisen und schlugen das Lager auf.
„Ab morgen wenden wir uns gen Norden.", sagte Kili und ließ sich auf seiner Decke nieder. „Wir folgen dem Anduin-Strom noch einige Tage und gehen dann weiter nach Nordosten, direkt auf das Elbentor zu."
Ich nickte, gähnte und streckte mich ebenfalls aus. „Kili? Könnten wir nicht einen kleinen Abstecher auf den Carrock-Felsen machen? Den würde ich so gern einmal sehen..."
Mein Begleiter verzog das Gesicht zu einer unsicheren Miene. „Das ist ein Umweg.", gab er zu denken. „Außerdem dauert es eine ganze Weile, um den Felsen hoch und wieder runter zu steigen. Es würde uns mindestens einen Tag kosten. Verzeih, aber dafür ist einfach keine Zeit..."
„Bitte, Kili!", bettelte ich. „Schau, das ist für mich die letzten Möglichkeit, ihn zu sehen, ich werde nie wieder hier her zurückkehren können! Mit jedem Tag kommen wir dem Erebor und so auch meiner Abreise näher. Entweder ich sehe ihn jetzt oder ich werde es nie."
Der Königsneffe kniff die Augen zusammen. „Lúthien, ich habe geschworen, dich wegen deiner Krankheit auf dem kürzesten und schnellsten Weg zum Düsterwald zu geleiten. Diese Reise ist so schon ein großes Risiko für dich! Die Wirkung des Trankes wird nicht ewig halten, bald bist du wieder schwächer und dann kommen wir langsamer voran. Wir können es uns nicht leisten, deswegen einen ganzen Tag zu verlieren. Wenn wir dann am Elbentor ankommen, ist es vielleicht schon einen Tag zu spät und das würde ich mir nie verzeihen!"
„Aber so weit ist es doch gar nicht mehr. Mir geht es gut, ich schaffe das schon. Bitte! Meinetwegen können wir danach auch Tag und Nacht reiten."
„NEIN!"
Erschrocken fuhr ich zusammen. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir uns gerade in einen Streit hineinsteigerten und mit einem zwergischen Sturkopf streiten wollte ich lieber nicht, denn dabei stand meistens vorher schon fest, wer gewinnen würde.
„Ähm... Tut mir leid...", murmelte Kili betreten. Er schien es sofort zu bereuen, mich so angefahren zu haben. „Aber versteh doch, wir haben so wenig Zeit und ich will dein Leben unter keinen Umständen bloß für ein paar Stunden schöne Aussicht auf's Spiel setzen..."
„Das tust du doch gar nicht! Sieh mal, wir liegen super in der Zeit und wir müssen ja nicht lange auf dem Felsen bleiben. Ich möchte doch nur mal einen Blick von dort oben zum Erebor richten. Ich weiß, dass du dich sehr um mich sorgst und es schmerzt mich, dass du meinetwegen so viel Leid erfahren musst, aber du würdest mich damit sehr, sehr glücklich machen. Danach können wir von mir aus nonstop zum Düsterwald durch galoppieren, aber bitte, wenigstens dieses eine Mal!" Bei diesen Worten legte ich den Kopf schief und setzte das flehentlichste Lächeln auf, das ich zustande brachte.
Kili schlug die Hände vor's Gesicht, gluckste und nuschelte etwas, das verdächtig nach „Verfluchte Weiber!" klang. Um Himmels willen! Der Spruch hätte auch von Dwalin stammen können...
„Herrje! Ja!", entfuhr es ihm dann. „Wenn es denn überhaupt keine Möglichkeit gibt, dich umzustimmen, von mir aus. Aber wir bleiben nicht länger als unbedingt notwendig!"
„Oh, Dankeschön, Kili!", rief ich begeistert und setzte ein triumphierendes Grinsen auf. Ich hatte es tatsächlich geschafft, den Sturkopf eines Zwergs zu brechen. Saubere Leistung, Lucy!

Ardatravel - Die Reise nach MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt