Die Leiden der jungen Burgherrin

67 9 0
                                    

Helles Licht fiel durch das kleine, runde Fenster herein und sorgte dafür, dass ich knurrend die Augen zusammenkniff. Mein Schädel brummte, als hätte ich eine Sauf-Orgie hinter mir. 

Moment mal... Fenster? Bett? Ähm... was war eigentlich passiert?
Widerwillig öffnete ich die Augen und setzte mich auf. Ich fand mich in unserem Gästezimmer wieder. In dem anderen Bett lag Manila und schnarchte leise.
Verwirrt kratzte ich mich am Kopf.
Ich hab doch mit Kili auf dem Bühl gesessen. Mist. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Hat er... hat er mich etwa hierher GETRAGEN?
Die Röte schoss mir ins Gesicht, als ich über die vergangene Nacht nachdachte. Hätte ich es nicht besser gewusst, würde ich jetzt, wieder bei klarem Verstand, sagen, dass ich betrunken gewesen war.
Ich könnte dich knutschen. Das hatte ich nicht wirklich gesagt, oder? Das...
Oh; Lucy, du hirnrissiges... Etwas!, schalt ich mich. Andererseits...
Es war ja nicht viel besser gewesen! Er hatte schließlich zugegeben, dass er sich um mich sorgte, mir die Kette umgelegt und mich an sich gezogen, während er mir die Sterne von Mittelerde zeigte.
Schluss damit! Wenn du einen Fehler tunlichst vermeiden solltest, dann diesen!
Kopfschüttelnd schnappte ich mein Kissen und warf es rüber zu Manila. Murrend öffnete sie ein Auge.
„Wasch'n losch?", grummelte sie und zog sich ein Haar aus dem Mund. „Wiescho-..." Plötzlich saß sie kerzengerade im Bett und sah mich forsch an.
„Du. Kili. Allein. Nachts. Auf dem Bühl."
„Öhm. Ja...", gab ich zurück und machte ein fragendes Gesicht.
„Was ist passiert? Was habt ihr gemacht? Ich will alles wissen!" Sie schien die Müdigkeit vergessen zu haben, denn im nächsten Moment sprang sie mit solcher Wucht neben mich, dass die Matratze ächzte.
„Los, jetzt spann' mich doch nicht so auf die Folter! Erzähl schon! Hat er dich..."
„Verdammt, Manila, nein! Was soll das? Er hat mir nur die Kette wiedergegeben und... äh..."
„Jaaaah?", fragte sie neugierig.
„Na wir haben gequatscht und so weiter..."
„Lucy? Du bist knallrot. Du verschweigst mir etwas."
„Hhmjaaa...", machte ich und zog den Kopf ein. Sie kannte mich mittlerweile wirklich zu gut!
„Und was? Sag schon!" Sie drängelte wie ein ungeduldiges Kind.
„Mensch! Ich bin eingeschlafen und er hat mich zurück ins Bett getragen, das ist alles.", knurrte ich ziemlich ungehalten.
„Oh Valar!", hauchte Manila und tat so, als würde sie theatralisch in Ohnmacht fallen.
„Schluss jetzt.", grummelte ich. „Lass uns das Thema wechseln." Meine Freundin zog eine Schnute und machte sich stattdessen daran, meinen Verband zu wechseln.
„Es blutet wieder stärker, Lucy.", stellte sie besorgt fest, als sie die Leinentücher von meinem Arm genommen hatte. „Ich gehe und frage Bilbo nach ein paar Kräutern." Damit verschwand sie und ließ mich seufzend auf dem Bett sitzen.

Die Tage in Beutelsend wurden mit zu den schönste unserer ganzen Reise. Das Auenland war eine so wunderbar ruhige und friedliche Gegend, dass wir bald alle unseren Kummer vergaßen und einfach die Seelen baumeln ließen.
Am ersten Tag standen wir erst ziemlich spät auf und frühstückten gemeinsam mit Bilbo, dann setzten wir uns mit den Zwergenbrüdern und ein paar anderen aus unserer Truppe auf den Bühl und lauschten ihren Geschichten.
Obwohl wir mit den Erlebnissen ihrer Reise zum Erebor schon mehr als vertraut waren, hörten wir ihnen doch sehr gerne zu. Und als Fili gerade von der Essenschlacht in Bruchtal erzählte, rief Manila dazwischen:
„Jungs, könnte ihr nicht Bofurs Lied singen? Ich will das unbedingt mal in Echt hören!"
Die beiden sahen sich einen Moment lang grinsend an, aber dann begann Fili auch schon, die erste Strophe zum Besten zu geben. Sein Bruder stimmte fröhlich mit ein und schon bald klatschten und sangen alle mit. Das Lied hatte eigentlich noch viel mehr Strophen als im Film, die wir nicht kannten, aber die Zwerge waren auch ohne uns laut genug, dass sich schon bald die ersten Hobbits über diesen „unzivilisierten Krach" beschwerten.
Ich musste furchtbar lachen. Dieses Lied stammte schließlich sogar aus der Feder eines gewissen Halblings! Tja, seit seinem Abenteuer fiel Bilbo, was auenländische Werte und Normen betraf, wohl ziemlich aus der Reihe.
Manila johlte begeistert, als Fili und Kili endeten. Der Jüngere verbeugte sich etwas albern.
„Euer Wunsch sei hiermit erfüllt, gnädige Dame. Aber mit Verlaub, nun ist es an Euch, etwas beizutragen."
„Gute Idee! Erzähl du etwas, Manila. Es müssen ja nicht immer nur wir von unseren Abenteuern berichten.", bekräftigte Fili.
„Ähm... Was wollt ihr denn da hören?", fragte sie ratlos. „Ich habe, bevor ich hierhergekommen bin, noch nie etwas wirklich Spannendes erlebt..."
„Nicht schlimm. Dann erzähl eben etwas Anderes."
„Na gut... Wollt ihr was Bestimmtes wissen?"
„Bist du verheiratet?", schoss Kili sofort dazwischen. Manila prustete los.
Kili schien verwirrt. „Was ist denn daran so lustig? Habe ich etwas Falsches gefragt?"
Zwischen ihrem stetigen Glucksen nuschelte meine Freundin etwas, was verdächtig nach „Solltest du das nicht lieber Lucy fragen?" klang, dann fing sie sich und sagte: „Männer! Das war mal wieder eine typische Frage. Also gut, Spaß beiseite. Kili, wenn du mehr über mich wissen würdest, wüsstest du, warum ich so lache."
„Na dann schieß endlich los, damit wir an deinem Insiderwitz teilhaben dürfen.", bemerkte ich und knuffte sie leicht in die Seite. Sie fluchte leise auf Französisch, aber dann begann sie schließlich doch, zu reden.
„Also, erst einmal müsst ihr wissen, dass ich ziemlich abgeschieden in der Bretagne lebe. Jungs, bevor ihr fragt, das ist ein recht verregnetes Gebiet im nordöstlichen Teil des Landes, aus dem ich komme. Ich wohne dort zusammen mit meinem Vater und meinem Bruder auf einer Burg, die ein-..."
„Eine Burg? Wirklich? Ist dein Vater ein König? Bist... bist du eine Prinzessin?", fragte Kili interessiert dazwischen. Manila begann schon wieder, zu glucksen.
„Oh nein, nein. Bei uns ist nicht zwangsläufig jeder, der auf einer Burg lebt, adelig."
„Dann bist du eine Bedienstete?", fragte Fili leicht überrascht.
„Herrje, nein, jetzt lasst mich doch mal ausreden! In Wahrheit ist es nämlich etwas komplizierter. Also, auf unserer Burg lebt weder ein König, noch eine Prinzessin, noch irgendwelche Bediensteten. Das liegt ganz einfach daran, dass sie ein Museum ist. Ähm... ihr wisst nicht zufällig darüber Bescheid, oder?" Die Zwerge schüttelten bedauernd die Köpfe und Manila erklärte es ihnen kurz.
„Gut, ihr müsst euch vorstellen, dass die Burg mitten in der Einöde steht, das nächste Dorf ist fast zwanzig Meilen entfernt und die nächste größerer Stadt fünfzig Meilen."
„Klingt eher nach australischem Outback als nach der Bretagne.", kommentierte jemand.
Meine Freundin lachte. „Dafür regnet es zu oft. Jedenfalls ist bei uns nie besonders viel los. Die meisten Besucher kommen im Sommer zum großen Mittelalter-Spektakel."
„Was ist denn das nun wieder?", fragte Kili.
„Ach je. Das... ähm, wie erklärt man das am besten? Naja, es ist ein großes Fest, das über mehrere Tage geht. Dabei verkleiden wir uns wie die Leute im Mittelalter. Eigentlich sehen wir dann fast genauso aus wie ihr und tun dann auch Dinge, die ihr so treibt, welche bei uns aber nicht mehr so unbedingt üblich sind, zum Beispiel Schaukämpfe mit Schwert und Schild austragen, Ritterturniere veranstalten oder traditionelle Tänze aufführen."
„Verzeih mir, dieses Fest klingt wirklich sehr sehenswert, aber was hat das denn mit meiner ursprünglichen Frage zu tun?", wollte Kili wissen.
„Äh... Ich wollte damit zeigen, dass dies für mich eigentlich die einzige Möglichkeit im Jahr ist, mal andere Leute kennenzulernen. Vater, Louis, also mein Bruder, und ich, wir führen ein recht einsames Leben. Klar, es kommen auch außerhalb der großen Feste Besucher zu uns, aber um die kümmert sich meistens Vater. Ich habe schlichtweg keine Möglichkeit, jemanden zu treffen, den ich heiraten könnte."
„Das ist wirklich nicht schön für eine Frau wie dich.", sprach Fili nachdenklich.
„Ja... Louis zieht mich gerne damit auf. Er heiratet auch bald. Wahrscheinlich. Vor ein paar Jahren hat er auf dem Sommer-Spektakel so ein Mädchen getroffen..."
„Wenn du es allein nicht schaffst, wieso kümmert sich dann nicht dein Vater darum, dass du jemandem findest? Es ist schließlich seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass es seiner Tochter gutgehen wird!", gab Kili zu denken.
„Ach Jungs, so funktioniert das bei uns nicht mehr. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, den zu suchen, mit dem man sein Leben verbringt und wir heiraten grundsätzlich nur aus Liebe. Die Verhältnisse in der Familie sind bei uns einfach ganz anders als hier. So. Habe ich eure Frage jetzt ausführlich genug beantwortet?"
„Eins wäre da noch...", begann Will, der Engländer. „Wie bist du zur Schule gegangen, wenn ihr so inmitten der Pampa lebt?"
„Internat.", gab Manila kurzangebunden zurück. „Unschön für jemanden, der auf einer Burg aufgewachsen ist..."
„Und was bist du von Beruf? Burgherrin?" Die Truppe brach in Gelächter aus, die Französin mit ihnen.
„Ja, das denken die meisten. Wenn ihr's genau wissen wollt, ich habe Geschichte studiert und arbeite jetzt mehr oder weniger angestellt im Museum. Insofern bin ich schon die Burgherrin."
„Und dann hast du trotzdem noch keinen Kerl an der Angel? Wer möchte denn bitte nicht mal eine französische Burglady küssen?", griente einer der Kanadier.
Manila lachte. „Mann, was soll das denn hier noch werden? Ein Verhör? Ihr könnt ruhig auch mal was erzählen!"

Lúthiens Tagebuch

Hm, um ehrlich zu sein, die Tage in Hobbingen sind viel zu schnell vorbei gegangen. Obwohl wir mittlerweile schon eine ganze Woche hier sind, kommt es mir zu kurz vor. Aber so ist es schon die ganze Reise lang.
>>Wir haben keine Zeit, wir müssen weiter, der Weg ist weit.<<
Es ist ja verständlich, schließlich wollen wir unser Abenteuer nicht jahrelang ausdehnen, aber manchmal hätte ich trotzdem gerne etwas mehr Zeit.
So langsam wird es ziemlich kalt. Der Morgentau ist jetzt meistens schon gefroren. Klar, der Sommer ist längst vergangen und wir haben tiefsten Herbst, aber ich kann kaum glauben, dass wir schon seit MONATEN hier sind. Ist unser Flieger nicht erst gestern in den weiten Ebenen am Erebor gelandet? Es fühlt sich zumindest so an. Nun ja, vielleicht liegt es auch daran, dass ich aufgehört habe, die Tage zu zählen. Ich weiß nicht mehr, welches Datum, geschweige denn welchen Tag wir haben, da verliert man schnell das Zeitgefühl.
Neulich besuchten wir hier in Hobbingen einen Markt. Das war schon sehr lustig. Manila hatte ein wunderschönes Kleid nach auenländischer Machart gefunden, aber es ist ihr zu klein gewesen, da es natürlich für Halblinge gefertigt wurde. Sie musste fast weinen deswegen! Daraufhin haben Fili und Kili versprochen, ihr ein Kleid zu schenken, sobald sich ihnen die Gelegenheit bietet.
Es ist schon seltsam, dass sich ausgerechnet zwischen uns Vieren eine solche Verbundenheit entwickelt hat. Als wir hierher kamen, waren Manila und ich ja eigentlich nichts weiter als zwei Fangirls, die sich zu den zwanzig größten Glückspilzen der Welt zählen durften und nebenbei auch noch eine ungesunde Schwäche für die Neffen des Zwergenkönigs aufwiesen, aber mittlerweile sind wir ein Team geworden, das gemeinsam durchs Feuer gegangen ist.
Tja, das wird beim Abschied nicht gerade förderlich sein.
Oh nein, bloß nicht an den Rückflug denken, nicht dran denken, nicht dran denken... Das liegt noch weiiiiit entfernt!

Zugegeben, der Weg zurück nach Bree wurde ziemlich unspektakulär. Wir brauchten natürlich länger als vorher, da wir nur tagsüber wanderten. Eins hatte uns die Gefangennahme dieser Strauchdiebe letztendlich aber gelehrt: Wir ließen nachts immer mindestens zwei Leute in verschiedenen Schichten rund um die Uhr Wache halten.
Da war ja auch noch die Unsicherheit, was mit den Verbliebenen der Ausgestoßenen passiert. Wir hatten schließlich nur circa die Hälfte von ihnen vergiften können. Achtzehn lebten aber immer noch.
Fili und Kili beschlossen, dass wir trotzdem nach Bree gehen und dort im „Tänzelnden Pony" übernachten sollten. Wir waren zu siebzehnt unterwegs – einer weniger als sie – aber sie würden es wahrscheinlich nicht wagen, uns jetzt, da wir unsere Waffen wieder hatten, anzugreifen, schon gar nicht mitten in der Öffentlichkeit. Nur auf der großen Oststraße Richtung Bruchtal galt es, vorsichtig zu sein – wer wusste schon, was sich dort noch für Gesindel herumtrieb?

Nach einem langen Abend im Schankraum des „Tänzelnden Pony", an dem mal wieder sehr viel Bier und Met geflossen waren, lagen Manila und ich schließlich in den kratzigen Gästebetten und plauderten ein bisschen.
„Oh Mann. Ich habe wohl vor versammelter Truppe meine halbe Lebensgeschichte zum Besten gegeben. Na toll", grummelte sie. „Was fällt denen eigentlich ein, derart neugierig zu sein?"
„Du erzählst dein halbes Leben auch ohne Bitte darum.", erinnerte ich sie grinsend und dachte dabei an unsere erste Begegnung auf dem Flughafen von Wellington.
„Ja, aber doch nicht solche Dinge. Sag mal, du hast dich zu diesem Thema noch überhaupt nicht geäußert. Wie steht das bei dir so? Ich weiß zwar, dass du allein lebst, aber hattest du denn überhaupt schon mal so etwas wie... naja, ein männliches Gegenstück?"
Och nein. In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Wieso mussten wir ausgerechnet hier und jetzt darüber reden? Daran wollte ich noch nicht einmal denken!
„Ich will ehrlich zu dir sein. Ich hatte jemanden, der mir wichtig war. Aber naja... Jetzt bin ich allein und du kannst dir sicher denken, dass die Geschichte demnach nicht gut ausgegangen ist. Genau genommen war es eine Tragödie. Ich erzähle dir vielleicht ein andermal davon..."
„Ist er... gestorben?", fragte sie entsetzt.
„Nein, nein, das nicht. Ich will nur jetzt nicht darüber sprechen."
„Ist schon okay... Moment mal. Was war das?" Meine Freundin sprang auf.
Im nächsten Augenblick hörte ich Lärm von der Straße, berstende Geräusche, dunkle Töne, die ich nicht definieren konnte und... Schreie! Da schrien Menschen durcheinander!
„Valar! Irgendetwas stimmt hier nicht!" Manila tapste barfuß durch unser bescheidenes Zimmer und riss ein Fenster auf. Neben der kalten Nachtluft und dem Dauerregen drangen weitere Rufe und ein volltönendes Brüllen herein.
Im gleichen Moment flog die Tür auf und Fili stürmte schwer atmend in den Raum.
„Herrje, kannst du Flegel von einem Thronfolger nicht anklopfen? Ich hab ja kaum etwas an!", schimpfte Manila (Gut, das war ein bisschen übertrieben, sie trug immerhin ein bodenlanges Elbennachthemd.).
Der junge Zwerg ging aber gar nicht auf ihren Protest ein.
„Keine Zeit für Erklärungen! Wir müssen hier weg!", schnaufte er. „Trolle... Sie greifen das Dorf an!"


Ardatravel - Die Reise nach MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt