Nächtliches Kaffeekränzchen

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Manila

„Lucy!" Entsetzt ließ ich meine Tasche fallen und sprintete über den Platz zu meiner Freundin. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und bleich, die Augenlieder flatterten und der Verband färbte sich zunehmend rot.
„Bei Mahal!" Kili kniete ebenfalls neben der zierlichen Frau nieder und befreite sie aus den Schlaufen ihres Seesacks.
„Holt einen Heiler, schnell!", rief er Ithilia entgegen. Diese eilte sofort die Stufen der breiten Treppe hinauf und verschwand zwischen den Häusern.
„Oh, wir hätten es wissen müssen!", jammerte ich unterdessen und strich ihr über die eiskalte Stirn. „Ihr war schon den ganzen Tag schwindlig und sie ist andauernd gestolpert..."
„Sie atmet kaum noch!" Kilis Stimme klang fast panisch.
Du kannst es ja mal mit Mund-zu-Mund-Beatmung versuchen!, schoss es mir durch den Kopf und ich musste, obwohl die Situation eigentlich furchtbar war, leicht grinsen.
Doch kaum hatte ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, kam Ithilia auch schon wieder, gefolgt von einem großen Elben mit herbstbraunen Haaren.
„Alaëdor, rasch!" Ithilia ging neben Lucy in die Hocke und betastete ihre schlaffe Hand.
„Was ist mit ihr? Hat sie eine Vergiftung erlitten?", fragte der Elb und begutachtete meine Freundin, die verkrampft auf dem Steinfußboden lag, fachmännisch.
„Das ist anzunehmen. Ihre Freundin Manila..." Sie deutete mit dem Kopf auf mich, „berichtete, dass sie sich im Düsterwald an einem Dorn verletzte. Seitdem leidet sie des Nachts regelmäßig an Krämpfen."
Der Heiler mit dem komplizierten Namen nickte mir kurz zu und hob Lucy dann kommentarlos vom Boden auf, wobei er sich ein empörtes Schnauben von Kili einfing.
Schweigend verschwanden die beiden Elben in Richtung der höheren Terrassen von Bruchtal. Unsere Gruppe blieb ziemlich betroffen auf dem Vorplatz stehen. Ich spürte, wie Linnea mir eine Hand auf die Schulter legte.
„Sie wird schon durchkommen.", flüsterte sie mir beruhigend zu. Ich nickte und merkte, dass mir schon wieder eine Träne über die Wange lief. Was sollte ich jetzt tun? Sie würden sie totsicher einige Tage bei sich behalten.
Auf einmal fühlte ich die Einsamkeit heranschleichen. Seit wir hier in Mittelerde waren, hatte Lucy mich nie, niemals für längere Zeit allein gelassen. Und jetzt lag sie schwerkrank in einem Bett und ich konnte nicht zu ihr.
Ach, zum Balrog! Hoffentlich hielten sie sie nicht zu lange dort fest. Ich kannte die junge Frau aus Deutschland mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass längere Untätigkeit sie verrückt machte. Naja, aber wozu gab es schließlich Athelas?

Wenig später hatte ich das Gepäck von Lucy und mir auf unser gemeinsames Zimmer gebracht, Stiefel und Umhang abgelegt und mich kraftlos auf mein Himmelbett fallen gelassen.
Ausgelaugt beobachtete ich die seidenen, weißen Vorhänge, die sich bei jedem meiner Atemzüge bewegten.
Ob sie mittlerweile aufgewacht war? Konnten die Elben gegen die Vergiftung überhaupt etwas ausrichten oder entstammte diese vielleicht von einer bisher unbekannten Pflanze und ließ sich gar nicht behandeln? Schwebte sie unter Umständen sogar in Lebensgefahr?
Manila, silence!, herrschte ich mich selbst an. Herrje! Seit wann brach ich eigentlich derart in Panik aus? Normalerweise sorgte ich mich doch nicht so sehr und versuchte, stets positiv zu denken. Naja, normalerweise lag meine beste Freundin auch nicht ohnmächtig in den Händen einiger mittelalterlicher Heiler.
Dabei waren meine Bedenken wirklich unbegründet. Die Elben galten schließlich nicht als abergläubische Scharlatane in der Heilkunst, die Magenschmerzen mit Krötenaugen oder ähnlichem behandelten, sondern als die begabtesten „Ärzte" in ganz Mittelerde. Und dass Elbenmagie durchaus seine Wirkung zeigt, hatten wir ja bereits erfahren.
Also, kein Grund zum Ausflippen, die kriegen sie schon wieder hin!
Entschlossen, nicht mehr darüber nachzugrübeln, sprang ich aus dem Bett und tauschte Wams, Hemd und Hose gegen ein bodenlanges Nachthemd. Dann kroch ich wieder unter die Decke, zog sie bis zur Nase (es war schon recht kalt geworden...) und verbannte jegliche pessimistischen Hirngespinste aus meinem Kopf.
Doch das Einschlafen wollte mir trotzdem nicht gelingen. Ich musste mich bestimmt schon eine geschlagene Stunde hin und her gewälzt haben, als ich die Decke ärgerlich wieder wegschleuderte und seufzend die Füße auf den kühlen Steinboden drückte. Ich kannte zwar viele Tricks, die angeblich müde machen sollten, aber ich wusste gleichzeitig, dass die in diesem Moment sowie so nicht helfen würden. Nicht, so lange Lucy, geplagt von Krämpfen, in den elbischen Heilerhäusern lag.
Grummelnd tapste ich durch das Gästezimmer und klaubte meinen grünen Umhang. Ich brauchte dringend frische Luft.
Die kalte Nachtluft schlug mir unbarmherzig entgegen, als ich die Tür öffnete und verstohlen hinauslugte. Der offene Flur unseres flachen Gästehauses lag ausgestorben da, erleuchtet von ein paar Elbenlaternen.
Ich trat hinaus und warf einen Blick zum Mond. Unterbewusst war es mir schon öfter aufgefallen, aber jetzt entdeckte ich zum ersten Mal wirklich, dass er ganz anders aussah, als zu Hause in der Bretagne. Nicht grau-weiß, sondern strahlend silbern und weniger fleckig und uneben als der Unsrige. Nun ja, hier handelte es sich ja auch nicht unser langweiliger, irdischer Mond, sondern der der Valar, dessen Wagen laut der Sage von dem Maia Tilion über den Himmel gezogen wurde.
Lächelnd lehnte ich mich auf das Geländer zu den Gärten hin und betrachtete weiter den Sternenhimmel.
Plötzlich stutzte ich – da waren Stimmen. Direkt hinter mir!
Leise wie eine Indian-... nein, wie eine Elbin, schlich ich über den Flur, legte mein Ohr an die Tür unseres Nachbarzimmers... und musste auf einmal grinsen. Ich hätte es wissen müssen! Wer, wenn nicht die zwei, würde genau neben uns einziehen?
Ohne zu zögern, klopfte ich und steckte auf ein fröhliches „Herein!" den Kopf durch die Tür.
„Jungs? Seid ihr noch wach?"
„Manila!" Die Zwergenbrüder schienen überrascht. Kili saß Pfeife rauchend auf der Fensterbank und sein Bruder bediente sich gerade an einer Karaffe Elbenwein. „Was führt dich denn zu so später Stunde hierher?", wollte er wissen.
Während ich die Tür schloss und ihnen barfuß entgegen tapste, kam ich mir plötzlich mäßig dämlich vor. Mein Problem war streng genommen ziemlich banal – Ich hatte nicht schlafen können und deswegen machte ich gerade Anstalten, mich bei meinen zwei Lieblingszwergen auszuheulen.
Herrgott nochmal!
„Ich..." Etwas unentschlossen blieb ich in der Mitte des Raumes stehen. „Ach, ich mache mir so furchtbare Sorgen um Lucy, dass ich nicht schlafen kann...", gab ich nuschelnd zu.
„Da bist du nicht die Einzige.", murmelte Kili zwischen zwei Rauchringen und wies einladend auf die elegante Chaiselongue unter dem Fenster. „Setz dich doch."
„Danke." Ich pflanzte mich auf die wunderbar weichen Polster und kuschelte mich unter die Wolldecke, die Fili mir reichte.
„Glaubt ihr, dieser Alaëdor schafft es, ihre Vergiftung zu heilen?", fragte ich unsicher.
„Ach, bestimmt." Der junge Thronfolger drängelte mir ein Glas Wein auf und ließ sich am Fußende seines Bettes nieder. „Nur weil wir mit dieser Art von Krankheit nichts anzufangen wussten, heißt das nicht, dass dagegen kein Kraut gewachsen ist."
Ich lächelte, weil er diese Redensart so selbstverständlich wörtlich nahm.
„Wahrscheinlich habt ihr Recht. Ich... ich habe nur vor Lucy noch nie eine Freundin gehabt, die mir so wichtig geworden ist und ich würde es nicht ertragen, sie zu verlieren. Die Sorge macht mich noch krank! Ich frage mich, womit sie dieses Schicksal verdient hat. Sie ist ein so wunderbarer Mensch..."
Ein zustimmendes Brummen ertönte vom Fensterbrett hinter mir.
Daraufhin drehte ich mich grinsend um.
„Jetzt verrate mir doch endlich mal, was da zwischen dir und Lucy..., also für dich Lúthien, ist!"
Kili sah mich einen Moment lang zugleich belustigt und verwirrt an.
„Wie kann sich eigentlich eine Frau wie du solch eine Frage überhaupt erlauben?", fragte der jüngere Bruder und lachte. „Das muss dich doch nun wirklich nicht kümmern."
„Eine Frau wie ich? Neulich hat es dich noch brennend interessiert, ob ich eine Prinzessin bin.", grummelte ich zurück. „Aber Lucy ist für mich... naja, das, was Fili für dich ist, nur eben nicht durch das Blut verbunden. Natürlich hat mich das zu kümmern!
Also los, erzähl' schon! Lucy selbst ist viel zu verschwiegen, was das Thema betrifft..."
„Aber was willst du denn da wissen?" Jetzt schien Kili sichtlich verwirrt. „Wir sind Freunde... Oder nennt man das bei euch anders?"
„Nein..." Zerknirscht guckte ich in eine andere Richtung. „Ihr... ihr verhaltet euch nur nicht wie „Freunde"."
„Wie dann?", fragte er verwundert.
Okay, Schluss damit, Manila! Jetzt bist du echt zu weit gegangen!
„Äh... ähm... naja...", stotterte ich. Mist! Ich konnte ihm doch nicht das auf die Nase binden, was ich dachte...
„Ach, weißt du, vergiss es einfach wieder. Du hast nämlich Recht, es geht mich überhaupt nichts an. Das ist eine Sache zwischen dir und Lu...thien, ich hänge mich da nicht rein..." Betreten senkte ich den Kopf.
„Hat sie... eigentlich jemanden?" Die Stimme des jungen Zwerges stockte und innerlich grinste ich plötzlich wieder triumphierend.
„Hatte... Sie spricht nie darüber. Ich weiß nicht, was, aber es muss etwas Schlimmes dabei passiert sein... Sag mal, was kümmert dich das überhaupt?", schoss ich zurück und lachte.
„Die allgemeine Sorge um jemanden, der mir wichtig ist." Kili zog schmunzelnd an seiner Pfeife, doch sogar durch die Dunkelheit erkannte ich die verräterische Röte, die sich ihm ins Gesicht stahl.
„Hm, schon klar." Grinsend kippte ich meinen Rest Wein auf Ex. Himmel, dieses Zeug machte verdammt schnell beschwipst! Diese Elben...
„Also gut, wenn du mir schon nichts über eure... äh... nicht rein zwischenmenschliche Beziehung berichten willst, dann sag mir wenigstens, was ihr neulich nachts auf dem Bühl veranstaltet habt. Sie kann mir nicht erzählen, dass du ihr nur die-..."
„Ich hab ihr nur die Kette wieder gegeben.", unterbrach Kili mich und setzte eine leicht scheinheilige Miene auf.
„Nein, das glaube ich euch nicht!", fauchte ich. „So etwas kann doch nicht derart lange dauern, dass sie einschläft und du sie zurück ins Bett tragen musst!"
„Ähm..." Der jüngere der beiden Brüder druckste ertappt herum. „Also, wir haben uns ... unterhalten..."
„Und worüber?"
„Findest du das nicht ein bisschen zu persönlich?", knurrte Kili und sein Bruder lachte schallend.
„Hm... Ja, schon, aber du bist ja schließlich nicht verpflichtet, mir zu antworten. Versteh doch, ich bin eben schrecklich neugierig! Und außerdem muss ich als Lucys beste Freundin auf sie aufpassen!"
„Nicht verpflichtet, zu antworten? Du kriegst sowie so aus jedem eine Antwort raus!" Der Thronfolger schenkte mir amüsiert Wein nach.
„Deine Sorge ist rührend, Manila.", sprach Kili ohne ein Anzeichen von Spott. „Aber keine Angst, ich würde ihr nie etwas zuleide tun. Sie... sie hat sich lediglich für die Sterne interessiert und ich habe ihr erzählt, was ich darüber weiß. Dann ist sie nach einer Weile eingeschlafen..."
„Oh..." Enttäuscht biss ich mir auf die Lippe. Kili lachte schon wieder.
„Was glaubtest du denn, würden wir dort machen?"
„Ach, keine Ahnung. Ich finde es nur verdächtig, weil ihr zwei ja doch recht... vertraut miteinander seid..."
„Bist du etwa eifersüchtig?" Die beiden Zwerge starrten mich erwartungsvoll an.
„Ich weiß nicht. Vielleicht schon ein bisschen..." Ich lächelte reuevoll. „Die Hauptschuld trägt allerdings meine unstillbare Neugier!"
„Na, da wird dir bestimmt niemand widersprechen!"

Lucy

Dunkelheit umfing mich. Ich fühlte, wie mein Körper sich zitternd gegen die alles verschlingende Kälte wehrte, doch er war noch zu schwach, um sie zu bezwingen. Unterbewusst nahm ich Stimmen wahr, sie schienen weit entfernt.
„Seid Ihr schon einmal einer solch seltsamen Verletzung begegnet, Alaëdor? Einer, die nicht verheilen will?"
„Nun ja, mein Herr Elrond, das bin ich in der Tat. Sie treten nur bei besonders schweren Vergiftungen auf. Allerdings scheint mir diese hier anders zu sein, als alle, die ich bisher behandelte. Normalerweise lassen sich alle Arten von Vergiftungen wunderbar mit Athelas heilen, doch hier zeigt es überhaupt keine Wirkung. Die Wunde sieht immer noch aus, als wäre sie frisch..."
„Versucht es weiter. Auch wenn sie nicht zu unserem Volk gehört, wir haben uns verpflichtet, allen zu helfen, die unserer Hilfe bedürfen. Außerdem gibt es in ihrer Gemeinschaft einige, denen diese Frau viel bedeutet. Wir können nicht zulassen, sie an die Dunkelheit zu verlieren..."
„Mae, hîr nîn.*"

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* "Mae, hîr nîn." = "Ja, mein Herr."

Ardatravel - Die Reise nach MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt