Nachts in den Nebelbergen I

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Lucy

Anmerkung:

Für Manila.

Ich weiß, dass dich eins schon immer brennend interessierte, nur habe ich es bis jetzt noch nicht auf die Reihe gekriegt, dir davon zu erzählen: Meine „Beziehungskiste".
Auf der Schauspielschule hatte ich einen Freund, John. Wir waren wirklich glücklich miteinander und alle sagten uns, dass wir ein echtes Traumpaar seien, aber naja. Wie du dir sicher denken kannst, blieb das nicht so.
Zu seinem 22. Geburtstag hatten sich seine Freunde vorgenommen, ihn mal so richtig betrunken zu machen, weil er sonst zum Alkohol einen fast asketischen Abstand hielt. Sie fanden, er müsse auch endlich wissen, wie sich das anfühlt. Meine damalige beste Freundin Anni wollten sie damit auch nicht verschonen.
Tja, und durch einen blöden Vorfall fanden sich die beiden irgendwann zusammen im Bett wieder. Anni sieht mir sehr ähnlich und in seinem Rausch hatte John sie wohl mit mir verwechselt, während sie so weggetreten gewesen war, dass sie überhaupt nichts mehr mitbekam.
Im Nachhinein waren sie entsetzt darüber, was sie getan hatten und John bat mich so oft um Verzeihung, dass ich das Zählen irgendwann aufgab. Die beiden hätten mir das Verzeihen aber erheblich leichter machen können. Ein paar Wochen später stellte Anni nämlich fest, dass sie schwanger war und da sie selbst keinen Freund hatte, kam nur einer als Vater in Frage.
Ich habe ihnen letztendlich vergeben – was blieb mir auch anderes übrig? Sie waren beide völlig fertig deswegen und außerdem musste ich einsehen, dass sie es nicht gewollt hatten. Ich verließ John aber. Nicht nur deswegen, sondern auch, weil ich zu diesem Zeitpunkt die Schauspielschule abbrach, um Design zu studieren. Dafür musste ich umziehen und eine Fernbeziehung war das Letzte, was ich da noch wollte.
So. Das war jetzt zwar die Kurzvariante, aber das ist die Geschichte, die du schon so lange hören wolltest. Denk nicht, dass ich mit John nie glücklich gewesen bin – eigentlich war er treu wie ein Zwerg, wenn man das so sagen kann, nur unsere Beziehung hat leider ein sehr trauriges Ende genommen. Ach egal, ist mittlerweile lange her. Ich wünsche dir nur von ganzem Herzen, dass dir so etwas nie passiert.
Das war's. Es knuddelt dich

Deine Schwester Lucy

P.S.: Bitte erkläre Kili mal in einer ruhigen Minute die Bedeutung des Wortes „knutschen". Das ist mir auf den Bühl damals rausgerutscht, aber ich war dort nicht in der Lage, ihm zu sagen, was es genau bedeutet. Das hätte nur einige unangenehme Fragen aufgeworfen.

Kopfschüttelnd klappte ich das Tagebuch zu. Herrgott nochmal, diese furchtbare Seifenoper. Ich hatte es bis jetzt nicht vielen Leuten erzählt, weil ich sie selbst für ziemlich unglaubwürdig hielt. Es war nun mal wirklich so gewesen.
Mein treuer Reisebegleiter und ich pausierten gerade neben dem Weg, der durch die Nebelberge führte, an eine Felswand gelehnt. Seit drei Tagen krakselten wir jetzt schon durch dieses furchtbare, baumlose, ewig graue Gelände. Drei Tage mit kurzen, von Träumen geplagten Nächten, an denen wir uns die Füße wund gelaufen hatten. Die Sonne glitt immer weiter auf den Horizont zu und brachte für ein paar kostbare Augenblicke Farbe in die Landschaft. Es war seltsam still hier oben, still und kalt, nicht einmal der Wind wehte.
Die Ruhe wurde nur vom unermüdlichen Gekrame meines Mitreisenden in unseren Vorräten gestört, genau wie von seinem leisen Geschimpfe. Schon minutenlang durchwühlte er alles, was uns die Elben an Köstlichkeiten mit auf den Weg gegeben hatten, denn eins fehlte mal wieder: Fleisch.
„Ich glaube kaum, dass du da drin noch etwas finden wirst.", kommentierte ich amüsiert. „Elben sind größtenteils Vegetarier, da ist es recht unwahrscheinlich, dass sie uns Fleisch eingepackt haben."
„Vege-... Was?", kam es aus den Tiefen der Taschen zurück.
„Vegetarier. So nennt man bei uns Leute, die kein Fleisch essen.", erklärte ich geduldig.
Kilis dunkler Wuschelkopf tauchte aus dem Rucksack auf und schaute mich halb verwirrt, halb belustigt an. „Dafür habt ihr Menschen ein extra Wort?", fragte er.
Ich grinste. „Ja. Bei uns gibt es viele Wörter, die eigentlich überflüssig sind, wenn man so will."
„Ihr seid ein komisches Volk..." Er gab seine Suche schließlich erfolglos auf und wickelte stattdessen ein bisschen Elbenbrot aus, während ich weiter in mein Tagebuch schrieb. Es füllte sich zunehmend. Hoffentlich würde es nicht vor Ende der Reise voll sein, sonst müsste ich mich wohl nach einem Neuen umgucken.
„Was genau schreibst du da eigentlich rein?", fragte Kili kauend und rutsche neugierig näher.
„Alles, was passiert.", antwortete ich schlicht.
„Wirklich alles?"
„Ja, schau." Ich blätterte nach vorne und zeigte ihm ein paar Skizzen vom Erebor, die neben meinem Bericht über den Besuch der Schatzkammer prangten.
„Du zeichnest auch?"
„Jap. Gehört mehr oder weniger zu meinem Beruf. Ähm... Ist ein bisschen kompliziert, zu erklären, was genau ich mache...", sagte ich schnell, bevor er mich mit Fragen löcherte.
„Bei euch arbeiten auch Frauen?" Der junge Zwerg sah mich ehrlich überrascht an.
Oh nein, bitte nicht die Masche. Ich hatte im Moment wirklich keine Lust, ihm das moderne Weltbild von daheim zu erklären. Glücklicherweise kam mir ein anderer Geistesblitz:
„Bei uns funktioniert das ähnlich wie bei den Elben. Frauen und Männer können gleichermaßen alle Berufe ausüben."
„Also, das würde bei uns niemandem einfallen." Kili lachte. Gott sei Dank fand er dann ein paar Bilder von Fili und sich in meinem Buch, sodass wir das Thema Frauenarbeit und Gleichberechtigung nicht weiter ausdiskutieren mussten. Ich wollte nicht wegen so etwas mit ihm streiten.
„Du machst ja Ori richtig Konkurrenz damit!" Fasziniert betrachtete er die Zeichnung, die ich in Wilderland fabriziert hatte.
Ich grinste und dankte ihm für das Kompliment.
„Was hast du zum Beispiel hier geschrieben?", wollte Kili wissen und deutete auf einen Eintrag, der das Gefecht im Kiefernhain beschrieb. Bereitwillig nahm ich das Tagebuch wieder zurück und las ihm ein paar Seiten vor.
Er schien beeindruckt.
„Du hast ja fast nichts ausgelassen...", stellte er fest. „Aber warum genau machst du das?"
„Diese Reise bedeutet mir alles.", gab ich zu. „Ich will auf keinen Fall etwas vergessen und das geht nur, wenn ich so viel wie möglich aufschreibe."
„Ah." Der Königsneffe blätterte weiter und ließ den Blick über ein paar andere Skizzen schweifen. Ich war froh, dass er nichts zu dem Umstand sagte, dass von ihm und seinem Bruder außergewöhnlich viele Zeichnungen existierten.

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