Seine letzte Bitte

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Der nächste Morgen erschien so blass und grau, als wollte der Himmel selbst zum Leichentuch werden. Doch das war nichts gegen die Stimmung, die in unserem kleinen Lager herrschte. Ethan saß herum wie ein lebendiger Toter, Linnea hatte ständig Tränen in den Augen und vermied es tunlichst, in Alex' Richtung zu schauen, die Zwerge verbargen ihre Gefühle hinter undurchdringlichen Eismienen und Manila sprach kein Wort.
Wir versuchten alle, wenigstens ein bisschen Normalität beizubehalten und bereiteten das Frühstück vor, doch kaum jemand aß etwas.
„Wir können es uns nicht leisten, noch einen Tag hier zu bleiben und vor uns hin zu lamentieren.", durchbrach ich schließlich die Stille, während ich versuchte, ein Stück Brot durch meinen staubtrockenen Mund zu befördern.
„Auch wenn ich nicht weiß, was l-... lamentieren bedeutet; du hast recht, wir müssen weiter.", pflichtete Fili mir bei.
„Aber was machen wir mit Alex?", fragte Manila. Ihre Stimme krächzte leicht. „Wir können ihn doch nicht einfach hier im Hain verscharren."
„Was bleibt uns denn anderes übrig?", warf Kili ein. Er hielt seine finstere Miene schon den ganzen Morgen hinter den dunklen Locken versteckt.
„Können... können wir ihn nicht mit nach Bruchtal nehmen und dort beerdigen?" Linneas Stimme klang brüchig. „Es ist doch bestimmt nicht mehr weit bis dorthin..."
„Nein, höchstens einen knappen Tagesmarsch.", antwortete Fili. „Stimmt, es wäre wirklich ehrenvoller, wenn wir ihn dort begraben. Herr Elrond hätte bestimmt nichts dagegen."
„Und wie schaffen wir ihn dort hin? Wir können ihn doch nicht den ganzen Weg tragen.", gab Kili zu denken.
„Wir müssen uns abwechseln.", schlug ich vor. „Vielleicht legen wir ihn in eine Decke oder so."
„Genau. Wir nehmen einen langen Ast, knoten die Decke unten dran, legen Alex rein und tragen ihn auf den Schultern." Manila schien es auf einmal eilig zu haben, endlich los zu laufen. Sie schnappte sich Linneas Axt und schlug einen dicken Ast von dem Baum, unter dem wir saßen. Kurze Zeit später präsentierte sie stolz ihre Tragekonstruktion. Fili und Kili sahen leicht beeindruckt aus.

Wir brachen unser Lager ab, verwischten alle Spuren und wanderten auf dem Hohen Pass weiter gen Westen. Es wurde ein wolkiger und kühler Tag, der es geradezu drauf anlegte, unsere Stimmung noch weiter zu dämpfen. Einzig und allein die Aussicht, die nächste Nacht mal wieder wohlbehütet in einem richtigen Bett verbringen zu dürfen, trieb uns voran.
Alle paar Stunden wechselten wir uns damit ab, Alex zu tragen. Ich hätte mich am liebsten davor gedrückt, weil es eine grässliche Aufgabe war, aber das wäre unfair den anderen gegenüber gewesen. Das Gesicht des toten Amerikaners hatte eine beängstigend blasse Farbe angenommen (Gut, was erwartete man von einer Leiche auch?) und es wahrte nicht den allseits bekannten, trügerischen Schein des Schlafs.
Die Trage behinderte uns und wir kamen langsamer voran als sonst, deswegen dämmert es bereits, als wir schließlich die Passstelle erreichten, von der die Elbensiedlung sichtbar wurde.
Bruchtal sah wunderschön aus. Die elegant geschwungenen weißen Häuser und Pavillons leuchteten im Licht der Abendsonne. Bei diesem Anblick stahl sich mir eine ungewohnte Friedlichkeit ins Herz. Endlich hatten wir die Möglichkeit, uns von den Strapazen eine Weile zu erholen.
Wir machten uns sofort an den Abstieg, Ethan und Manila, die Alex trugen, hinten dran. Fili und Kili marschierten vorne weg. Als wir endlich die Brücke zum runden Vorplatz passierten, fühlte ich mich ein bisschen wie im Film. Das Licht und die Stimmung, die über dem Tal lagen, waren exakt dieselben. Ob jetzt gleich Lindir die Treppe runter kommen und uns verkünden würde, dass Herr Elrond nicht da wäre? Nein, natürlich nicht. Na ja, wir waren ja auch nicht unterwegs zum Erebor, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
Tatsächlich kam der Halbelb persönlich, um uns zu begrüßen. Er lächelte die beiden Zwerge kühl an und hieß uns alle mit der typisch elbischen Höflichkeit willkommen.
„Wir erwarteten euer Kommen, jedoch glaubten wir, eine größere Gruppe empfangen zu dürfen.", sprach Elrond ruhig.
„Es gab einige Komplikationen.", informierte Fili ihn umgehend. „Wir verloren den Großteil unserer Gruppe bei einem Orkangriff im Düsterwald aus den Augen."
Orks im Grünwald?" Der Herr von Imladris schien ehrlich überrascht. „Wie kann das sein? Seit der Schlacht hatten wir nicht einen Zwischenfall mit diesen niederen Kreaturen. Meine Späher berichteten nur ab und zu von einem großen Trupp Warge, das im Hithaeglir zeitweise für Probleme sorgte."
„Darum müsst ihr Euch jetzt keine Sorgen mehr machen.", knurrte Kili düster und trat zur Seite, sodass Alex sichtbar wurde.
„Bei den Valar, was ist geschehen?"
„Der Wargtrupp hat uns auf unserem Weg bemerkt und sie überfielen uns.", berichtete der Ältere von Thorins Neffen. „Wir haben alle getötet, aber leider musste auch einer unserer Gefährten sein Leben dafür lassen."
Elrond sah Fili scharf an. „Nun, mir scheint, als wäre die Sache weitaus komplizierter, als Ihr sie mir schildert, Meister Zwerg, richtig?" Fili nickte langsam und ich bekam eine Gänsehaut. Woher wusste er das? Elben... Ich hätte am liebsten den Kopf geschüttelt.
„Nun, das stimmt. Wir wären bereit, Euch zu einem geeigneteren Zeitpunkt davon zu berichten."
„Natürlich." Elrond neigte leicht den Kopf. „Aber heute nicht mehr. Ihr seht müde aus und habt eine lange Reise voller Strapazen und Entbehrungen hinter Euch. Heute Nacht sollt Ihr in Frieden schlafen. Gebt uns Euren Gefallenen, wir werden uns um ihn kümmern, sofern Ihr ihn morgen beerdigen wollt."
„Habt Dank." Fili und Kili verbeugten sich sehr zwergentypisch.
Ich schreckte auf, als ich die zwei Elbenfrauen bemerkte, die plötzlich hinter dem Halbelben standen. Ich hatte sie überhaupt nicht kommen sehen.
Sie führten uns rechts neben dem Vorplatz eine ausladende Treppe hinauf in ein flaches Haus mit einem Säulengang in Richtung der Siedlung.
In regelmäßigen Abständen säumten schlichte Türen mit filigranen Klinken den Flur. Manila und ich bekamen gleich das erste der schönen Zimmer.
Gegenüber der Tür erstreckte sich ein langgezogenes, nach außen hin gewölbtes Fenster. Darunter schwang sich eine Sitzbank. An den Wänden rechts und links stand je ein Himmelbett mit hauchdünnen Seidenvorhängen.
„Oh Gott." Ich ließ meine Taschen an Ort und Stelle fallen und stieg in das rechte Bett, ohne auch nur die Stiefel auszuziehen. Und dann brach die erste Nacht an, in der ich nichts träumte, seit wir aus dem Düsterwald gefunden hatten.

Ardatravel - Die Reise nach MittelerdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt