Drohungen

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Fünf Tage lang schaffte ich es, dem Thema Zusammenziehen komplett auszuweichen. Jedes Mal wenn sich das Gespräch in die Richtung entwickelte, lenkte ich Liam mit all den mir zu Verfügung stehenden Mitteln ab. Bis jetzt erfolgreich. Obwohl Liam immer wieder ins Studio oder zu irgendwelchen Presseterminen musste und ich mit meinem Studium mehr als gut beschäftigt war, schafften wir es, uns jeden Abend wenigstens ein paar Stunden lang zu sehen. Auch am Freitag war ich wieder bei Liam. Allerdings waren wir beide derart erschöpft, dass wir nur reglos vor dem Fernseher lagen, in dem irgendeine Kochshow lief. Meiner Einschätzung nach, würde es nicht sehr lange dauern, bis ich einschlief. Doch soweit kam es nicht. Denn das laute Schrillen der Haustürklingel ließ mich abrupt hochschrecken. Liam reagierte etwas schwerfälliger. Stöhnend rieb er sich die Augen und bewegte sich ansonsten überhaupt nicht. „Soll ich aufmachen?", fragte ich lächelnd und strich ihm über die Wange. Liam gab nur ein leises „Hm" von sich, welches ich jedoch als Zustimmung deutete. Also stand ich auf und ging zur Haustür. Ein kurzer Blick auf den Bildschirm, der die Aufzeichnungen der Überwachungskameras zeigte, sagte mir, dass Harry auf dem Gehweg vor dem Tor stand. Etwas überrascht öffnete ich per Knopfdruck die Pforte. Wieso hatte Liam nicht erwähnt, dass Harry vorbei kommen wollte? Ich wartete kurz und öffnete dann die Haustür. Harry war noch ein paar Meter entfernt, hob jedoch die Hand und winkte mir zu. „Mia, ich wusste gar nicht, dass du hier bist.", sagte er, sobald er vor mir stand. „Und ich wusste nicht, dass du herkommen wolltest.", entgegnete ich grinsend. Aber Harrys Miene blieb ernst. „Ist Liam da?" - „Klar, komm rein.", murmelte ich verwundert und trat beiseite. „Harry? Was machst du hier?" Liam war offenbar mittlerweile aufgestanden und stand nun im Türrahmen zum Wohnzimmer. Anscheinend überraschte Harrys Besuch in ebenso sehr wie mich. „Wir müssen reden.", verkündete dieser und sah dabei Liam an. „Unter vier Augen, wenn es geht." Nun warf er mir einen kurzen, entschuldigenden Blick zu. Ich sah zu Liam, der nur ahnungslos mit den Schultern zuckte. Ohne weiter nachzufragen nickte ich und ging zurück ins Wohnzimmer. Hoffentlich würde Liam mir später erzählen, was los war. Ich setzte mich auf das Sofa und drehte die Lautstärke des Fernsehers höher, sodass ich gar nicht erst in Versuchung kam, dem Gespräch der beiden Jungs zu lauschen.

LIAMS SICHT:

„Okay Harry, was zur Hölle ist los? Wieso hast du Mia weg geschickt?", fragte ich irritiert. Endlich war ich an einem Punkt angekommen, an dem ich keine Geheimnisse mehr vor Mia hatte. Wieso wollte Harry das wieder ändern? „Weil es um sie geht.", entgegnete er leise und sah sich um. „Können wir nach oben gehen?" Etwas beunruhigt nickte ich und ging ihm voran die Treppe hinauf und in mein Musikzimmer. Die Schalldämmung hielt ich zwar für komplett unnötig, aber Harry wirkte ernsthaft aufgewühlt. Etwas, das nicht sehr oft geschah. „Es geht um Mia? Wie meinst du das?", fragte ich, sobald Harry die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er griff in seine Jackentasche und holte sein Handy heraus. „Ich nehme an, das hast du noch nicht gesehen.", vermutete er und hielt mir das Handy hin. Mit gerunzelter Stirn sah ich auf den Bildschirm. „Twitter? Stell dir vor, das kenne sogar ich." Harry verdrehte die Augen, offensichtlich genervt. „Lies.", befahl er mir nur. Jetzt sah ich etwas genauer hin. Eine Reihe von Beiträgen wurden angezeigt, allesamt mit einer Gemeinsamkeit. „Was soll das heißen? #FreeLiam?" Verwirrt hob ich den Kopf. „Lies genauer." Ich sah wieder auf das Handy. Unter einem der Beiträge war ein Foto verlinkt. Sobald ich es öffnete, blieb mein Herz für einen kurzen Moment stehen. Es war eines der Bilder, die am letzten Wochenende vor Mias Wohnung entstanden waren. Allerdings hatte irgendwer das Bild bearbeitet, sodass nun ein rotes Kreuz über Mias Gesicht zu sehen war. Mit zitternden Fingern schloss ich das Foto wieder und las den dazugehörigen Beitrag. ‚Wann begreift Liam endlich, dass diese Schlampe ihn niemals glücklich machen wird? Er ist schon jetzt total abgemagert. #FreeLiam' Kopfschüttelnd gab ich Harry sein Handy zurück. „Lächerlich.", murmelte ich und schnaubte. Aber Harry wirkte nach wie vor todernst. „Der Hashtag hat mehr als 300.000 Beiträge. Und der hier gehört noch zu den harmlosesten." Seufzend steckte er sein Handy weg. „Liam, da sind Morddrohungen bei." Erneut stockte mein Herz für den Bruchteil einer Sekunde. Dann winkte ich ab. „Du weißt doch, dass man sowas nicht zu ernst nehmen darf. Das sind Fans, die übertreiben im Internet eben manchmal." - „Mag sein. Aber ich habe hierbei echt kein gutes Gefühl. Mias Adresse kursiert auf sämtlichen Internetseiten. Was wenn manche diese Drohungen echt ernst meinen und dort nach ihr suchen?" Sofort schüttelte ich den Kopf. „Niemand will Mia umbringen. Das ist kompletter Schwachsinn." Harry zuckte mit den Schultern. „Umbringen vielleicht nicht." - „Komm schon, Harry! Meinst du nicht, dass du etwas übertreibst?" Er seufzte und verzog das Gesicht. „Vielleicht. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Und lass Mia möglichst selten aus den Augen." Unbeabsichtigt entwich mir ein Schnauben. „Wie stellst du dir das vor? Du weißt genauso gut wie ich, dass unser Terminplan momentan total überfüllt ist. Ich verbringe doch jetzt schon so viel Zeit wie möglich mit ihr." Harry nickte und sah mich unglücklich an. „Ja, ich weiß. Aber sie sollte sich besser nicht nachts alleine draußen vor ihrer Wohnung aufhalten. Kann sie nicht eine Weile hier bleiben? Nur bis sich die Situation etwas beruhigt hat." Zweifelnd hob ich die Augenbrauen und schüttelte dann den Kopf. „Das ist glaube ich keine so gute Idee. Das Thema ist momentan etwas... riskant." Noch immer hatte ich keine Antwort von Mia auf meine Frage erhalten. Immer wenn ich das Thema ansprach, fiel sie auf einmal mit unvorhersehbarer Leidenschaft über mich her, was mich meist alles andere als störte. Aber ich realisierte durchaus, dass sie dem Gespräch auswich. „Warum ist dir das alles so wichtig?", fragte ich Harry nun mit gerunzelter Stirn. „Warum machst ausgerechnet du dir solche Sorgen um meine Freundin?" Er verdrehte die Augen. „Du bist nicht der einzige, dem etwas an Mia liegt. Außerdem glaube ich, dass du für mich dasselbe tun würdest, wenn die Situation umgekehrt wäre." Langsam nickte ich. „Ja, würde ich." Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: „Danke Harry. Ganz egal wie ernst die Situation letztendlich ist. Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast." Zum ersten Mal seit seiner Ankunft war das Anzeichen eines Lächelns auf seinem Gesicht zu sehen. „Ist doch selbstverständlich. Und jetzt lass uns wieder nach unten gehen, bevor Mia sich Sorgen macht."

Harry blieb noch eine Weile, was mich vor einem direkten Gespräch mit Mia bewahrte. Doch ich spürte ihren fragenden Blick immer wieder auf mir und wusste, dass ich mich ihren Fragen früher oder später stellen musste. Ich wollte sie nicht anlügen, aber ich wollte sie auch auf keinen Fall unnötiger Weise in Panik versetzen. Es reichte, wenn ich mir Sorgen machte. Als Harry sich schließlich verabschiedete, hatte ich eine Entscheidung getroffen. Noch bevor Mia etwas sagen konnte, fragte ich: „Bleibst du das Wochenende bei mir? Das wäre doch eine gute Möglichkeit, die Sache mit dem Zusammenziehen einmal auszuprobieren. Anstatt nur darüber... nachzudenken." Ich schenkte ihr ein schiefes Lächeln, auf das sie mit einem schuldbewussten Blick zu Boden reagierte. Zu meiner Überraschung nickte sie kurze Zeit später. „Klar, warum nicht?"

Es war nur ein Wochenende. Aber es war ein Anfang. Und sie würde in Sicherheit sein, das war die Hauptsache.

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt