Zukunft

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Liam sah nicht auf, als ich zu ihm trat. Trotzdem war ich mir sicher, dass er sich meiner Anwesenheit durchaus bewusst war. Schweigend setzte ich mich neben ihn. Für eine Weile betrachtete ich ebenfalls die bereits schlafende Stadt, dann wanderte mein Blick in Liams Richtung. Zwischen seinen Fingern hielt er eine nicht entzündete Zigarette. Angewidert runzelte ich die Stirn. „Es stimmt also, dass du rauchst?“ Liam zuckte mit den Schultern und sah mich weiterhin nicht an. „Ich versuche es mir abzugewöhnen.“ Ich wusste nicht, ob es sich dabei nur um ein leeres Versprechen oder tatsächlich die Wahrheit handelte. „Können wir reden?“ – „Ich dachte du willst nicht mit mir reden?“, entgegnete Liam in kühlem Ton. „Will ich auch nicht. Aber ich muss wissen, weshalb du dich von mir getrennt hast, damit ich das ein für allemal hinter mir lassen kann. Also bitte beantworte mir nur diese eine Frage: Wieso hast du dich von mir getrennt?“ Doch Liam schüttelte den Kopf.

„Nein Mia, beantwortete du mir bitte eine Frage. Was hast du für deine Zukunft geplant?“ Mit dieser Frage hatte ich so überhaupt nicht gerechnet, dass ich ihn für eine Weile einfach nur irritiert ansah. „Was hat das denn jetzt mit unserer Trennung zutun?“, fragte ich, als ich endlich meine Stimme wieder fand. „Beantworte einfach meine Frage.“ – „So wie du meine beantwortet fast?“ Liam sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und sagte nichts. Schließlich stöhnte ich genervt auf. „Noch nichts Bestimmtes. Irgendwann werde ich bestimmt studieren, aber wann genau weiß ich noch nicht.“ Ich zuckte mit den Schultern. „So, jetzt wo wir das geklärt haben sag mir bitte, weshalb du mit mir Schluss gemacht hast.“ Liam wandte den Blick ab. Ungeduldig und nervös zugleich wartete ich darauf, dass er mir endlich den Grund nannte. „Ich habe deine Bewerbung gesehen. Für die Universität. In Deutschland.“ Entgeistert starrte ich ihn an. Wovon redete er und was hatte das mit unserer Trennung zutun? „Welche Uni?“, fragte ich verwirrt, obwohl mir noch immer der Zusammenhang fehlte. „Ich weiß nicht mehr genau welche Stadt es war. Die Bewerbung lag auf deinem Schreibtisch als ich das vorletzte Mal bei dir zuhause war.“, erklärte er schulterzuckend. Jetzt erinnerte ich mich. Tatsächlich hatte ich im Januar angefangen meine Bewerbungen zu schreiben. Dennoch wusste ich weiterhin nicht, worauf genau Liam hinaus wollte. „Und weiter? Wo genau liegt das Problem?“ Liam schüttelte seufzend den Kopf. „Bis dahin hatte ich einfach immer nur die Zeit bis zu deinem Abitur im Blick. Und dass wir uns danach endlich öfter sehen könnten. Dann habe ich aber realisiert, dass dein Leben natürlich trotzdem in Deutschland weitergeht, dass du studieren wirst und dass wir nur ein paar gemeinsame Monate haben würden.“ – „Was hast du denn erwartet? Dass ich nichts aus meinem Leben machen will und dir für immer hinterher reise?“, fragte ich wütend. Wenn er das tatsächlich dachte, hatte ich mich stark in ihm getäuscht. Doch Liam schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht! Ich habe nur vorher nicht darüber nachgedacht. Aber ich möchte, dass du eine schöne Zukunft hast, dass du deine Träume verwirklichen kannst… Ich würde dir dabei nur im Weg stehen.“ – „Mir im Weg stehen? Wie kommst du denn auf so einen Schwachsinn?“, entgegnete ich, noch immer nicht wirklich besänftigt. „Ich bin nie Zuhause, Mia! Diese Tour dauert mehrere Monate und das nächste Jahr ist auch schon komplett ausgebucht. Ich hätte es nicht ausgehalten, dich derart selten zu sehen. Fernbeziehungen liegen mir nicht! Und selbst wenn ich dann mal Zuhause bin, bist du noch mehrere tausend Kilometer von mir weg. Dich zu bitten nach London zu ziehen, wäre verdammt egoistisch und alles andere als fair, deshalb habe ich es gelassen. Glaub mir, das war keine leichte Entscheidung. Aber es hätte auf Dauer nicht geklappt und ich wollte uns beide schützen. Deshalb habe ich es lieber direkt beendet.“ Seine Stimme war immer lauter geworden, dementsprechend gespenstisch war die nun folgende Stille. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Vielleicht hättest du lieber mit mir reden sollen, anstatt einfach so diese Entscheidung zu treffen.“ – „Und was hätte das gebracht?“, fragte er ohne mich anzusehen. „Du hättest nur gesagt, dass wir eine Lösung finden werden und erst mal den Sommer genießen sollen.“ – „Oder vielleicht hätte ich dir gesagt, dass ich mich an mehreren Universitäten beworben habe. Unter anderem in London.“

Alle Farbe schien aus Liams Gesicht zu weichen. „Was? Aber… wieso?“ Ich schnaubte. War das etwa nicht offensichtlich? „Vielleicht weil ich auch nicht so richtig Lust auf eine ewige Fernbeziehung hatte? Weil auch ich es furchtbar fand dich so selten zu sehen? In London hätten wir uns wenigstens eine Art gemeinsames Zuhause aufbauen können. Aber nein, zieh einfach irgendwelche voreiligen Schlüsse und verschwinde aus meinem Leben. Super Idee, echt.“ – „Wurdest du angenommen?“, fragte Liam leise. Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Noch habe ich weder eine Absage noch eine Zusage erhalten. Aber das spielt ja jetzt sowieso keine Rolle mehr.“ Stöhnend fuhr Liam sich mit einer Hand durch die Haare. „Hätte ich das gewusst-“ – „Du hättest nur mit mir reden müssen!“, unterbrach ich ihn. „Aber nein, auf den Gedanken bist du natürlich nicht gekommen. Stattdessen bist du einfach gegangen und hast mich ohne Erklärung zurückgelassen. Weißt du eigentlich was ich mir für Vorwürfe gemacht habe? Ich dachte, ich hätte irgendetwas falsch gemacht. Ich dachte, dass du mich nicht mehr liebst. Dass alles meine Schuld ist.“ – „Nein, Mia.“, murmelte Liam. „Ich werde dich immer lieben.“ Vor Wut begann ich am ganzen Körper zu zittern. „Nein. Du liebst mich nicht. Wenn man jemanden liebt, dann schmeißt man nicht einfach die gesamte Beziehung hin, nur weil man Angst vor der Zukunft hat. Das ist feige. Offensichtlich hatte ich damals im Flugzeug doch recht mit meinem ersten Eindruck von dir. Ich dachte du hättest es kapiert, als du dich endlich gegen Jack zur Wehr gesetzt hast. Aber anscheinend traust du dich noch immer nicht, irgendwelche Risiken einzugehen.“ – „Ich habe alles für unsere Beziehung riskiert! Alles!“, entgegnete er und wurde erneut lauter. Zustimmend nickte ich. „Genau das meine ich ja! Und dann hast du alles einfach so hingeschmissen, nur weil dir eingefallen ist, dass auch ich Pläne für meine Zukunft haben könnte. Wieso hast du nicht mit mir darüber geredet, Liam? Wieso nicht?“ Erschöpft schüttelte er den Kopf. „Ich weiß es nicht. Es war bescheuert. Ich hätte niemals gehen dürfen.“ Wir beide schwiegen für eine Weile. Dann stand ich auf. „Nein, hättest du nicht. Aber diese Erkenntnis kommt ehrlich gesagt etwas spät.“ Auch Liam erhob sich und griff nach meiner Hand. „Mia, es tut mir leid. Ja, ich war ein Idiot. Aber bitte lass es mich irgendwie wieder gut machen.“ Doch ich entzog meine Hand seinem Griff. „Nein. Dafür ist es zu spät. Das letzte halbe Jahr… war nicht einfach, glaub mir. Aber es hat mir gezeigt, dass wir beide tatsächlich keine gemeinsame Zukunft haben können. Ich brauche jemanden wie Luke. Jemanden, der immer für mich da ist, auf den ich mich verlassen kann.“ Liam war offensichtlich nicht bereit, so schnell aufzugeben. Entschlossen schüttelte er den Kopf. „Nein, Mia. Ich werde nicht behaupten, dass du Luke nicht liebst. Aber du kannst mir nicht erzählen, dass wir beide keine gemeinsame Zukunft haben könnten.“ – „Doch, Liam. Genau das erzähle ich dir.“ Er verschränkte die Arme und sah mich herausfordernd an. „Wenn du das tatsächlich denkst… dann kannst du mir sicherlich auch sagen, dass du absolut nichts mehr für mich empfindest.“ Stumm erwiderte ich seinen Blick. Es wäre so einfach. ‚Ich empfinde nichts mehr für dich. ‘  Aber dieser Satz wollte nicht über meine Lippen kommen. Liam hob die Augenbrauen. „Mia? Sag, dass du mich nicht mehr liebst und ich verspreche, dass ich dich in Ruhe lasse. Und dieses Mal werde ich mich an das Versprechen halten.“ Langsam öffnete ich meinen Mund. Doch ich brachte keinen Laut zustande. 

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt