Sonnenuntergang

2.5K 117 6
                                    

Es war Zeit für einen Neuanfang. Zumindest was diese Reise betraf. Die ersten Stunden waren komplett schief gelaufen, doch damit war nun Schluss. Ohne Liams Armband fühlte ich mich um einiges leichter. Es war, als hätte ich die letzte Verbindung zwischen uns gekappt. Meine Trauer machte einem neuen Gefühl Platz: Wut. Wut auf Liam, sein abruptes Verschwinden und all die Stunden, die ich seitdem weinend in meinem Zimmer verbracht hatte. Ich wusste mittlerweile, dass er nicht mehr dieselbe Person war, in die ich mich damals verliebt hatte. Sein kühles Verhalten mir gegenüber zeigte, dass er definitiv nicht unter unserer Trennung litt. Demnach konnte ich auch nicht der Grund für sein verändertes Verhalten sein.

Als ich ihn das nächste Mal beim Frühstück am nächsten Morgen sah, ignorierte ich ihn so gut ich konnte. Problematisch war das ganze allerdings, da wir an ein und demselben Tisch saßen. Liam kam rund zehn Minuten später als alle anderen nach unten und nahm an dem einzig noch freien Platz, schräg gegenüber von mir, Platz. Zu sagen, dass er übermüdet aussah, wäre eine bodenlose Untertreibung. Die Ringe unter seinen Augen waren noch dunkler als gestern und seine Augen selbst sahen aus, als drohten sie alle paar Sekunden zuzufallen. Erst als er den Kopf hob und unsere Blicke sich trafen, realisierte ich, dass ich ihn die ganze Zeit anstarrte. Schnell sah ich in die entgegen gesetzte Richtung, doch zu spät: mein Herz pochte lautstark gegen meine Brust, während wir das Blut ins Gesicht schoss. So viel zum Thema Neuanfang.

Luke, Caro und ich verbrachten den Hauptteil des Tages in der Stadt, während die anderen Jungs sich auf ihr erstes Konzert am nächsten Abend vorbereiteten. Es tat gut, mal etwas komplett anderes zu sehen als unsere Heimat. Mit vollen Einkaufstüten und müden Füßen, kehrten wir am frühen Abend zum Hotel zurück. Da wir nicht wussten, ob die anderen auch schon wieder hier waren, gingen wir erst einmal auf unsere Zimmer. Noch bevor die Tür ins Schloss gefallen war, lag ich schon auf dem Bett. Ich hatte nicht das Gefühl, als würde ich so bald wieder ohne Schmerzen laufen können. Viel Zeit zum Entspannen blieb allerdings nicht. Nur zwanzig Minuten nach unserer Rückkehr, klopfte es an der Tür. Da ich noch immer bewegungsunfähig auf dem Bett lag, öffnete Luke die Tür und ließ Harry herein. „Mia, geht es dir gut?“, fragte er lachend, als er mich entdeckte. Ich streckte nur einen Daumen in die Höhe. „Eigentlich wollte ich fragen, ob ihr Lust habt mit in eine benachbarte Bar zu kommen? Caro hab ich auch schon überredet.“ Luke wirkte begeistert von der Idee, doch ich schüttelte den Kopf. „Ich glaub ich bleib lieber hier und ruh mich aus.“ Sowohl Harry, als auch Luke, sahen mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte Harry, dieses Mal offenbar ernsthaft besorgt. „Ja, ich bin einfach nur total fertig. Ich würde euch nur den Abend verderben, glaubt mir.“ Sonderlich überzeugt wirkten sie beide nicht. „Soll ich lieber bei dir bleiben?“, fragte Luke, aber ich schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Genieß einfach den Abend, okay? Und pass auf Caro auf.“ Nach kurzem Zögern nickte er und ging zur Tür, die Harry bereits aufhielt. „Geh du schon mal vor, ich komm gleich.“, murmelte er an Luke gewandt. Verwundert richtete ich mich auf. „Was ist?“ Harry sah seufzend zu Boden. „Sollte das etwas mit Liam zutun haben… er kommt nicht mit.“ – „Nicht alles hat immer was mit Liam zutun! Meine Füße tun weh, ich bin müde und ich möchte mich bitte einfach nur ausruhen. Das ist absolut nicht böse gemeint.“, fügte ich hinzu, als ich bemerkte wie scharf meine Stimme klang. Harry nickte. „Okay, ich wollte nur sicher gehen. Bis morgen, Mia, ruh dich gut aus.“

Für eine Weile lag ich einfach nur bewegungslos im Bett. Um schon zu schlafen, reichte meine Müdigkeit nicht aus, es fehlte allerdings auch jede Motivation, um noch einmal aufzustehen. Dann jedoch sah ich durch das Fenster, wie die Sonne dem Horizont immer näher kam. Und mit jeder verstreichenden Minute, nahm der Himmel eine magischere Farbe an. Unser Hotelzimmer hatte einen kleinen Balkon, welchen ich nun ausnutze. Draußen war es noch immer angenehm warm, weshalb ich keine Jacke brauchte. Mit angezogenen Knien saß ich auf dem Boden und beobachtete das wunderschöne Naturschauspiel.

Die Sonne war bereits zur Hälfte verschwunden als ich merkte, dass ich nicht alleine war. Drei Balkone weiter saß Liam, doch anstatt ebenfalls den Sonnenuntergang zu betrachten, sah er mich an. Obwohl es mir schwer fiel, brach ich unseren Blickkontakt schnell wieder ab. Ich wusste, dass die Gänsehaut auf meinen Armen absolut nichts mit der Temperatur zu tun hatte.

„Ich wusste nicht, dass du hier geblieben bist.“ Liam sprach nicht sonderlich laut, aber ich konnte ihn trotzdem gut verstehen. Anstatt ihm zu antworten, zuckte ich nur mit den Schultern. Ich meinte ein Seufzen zu hören, was mir jedoch aufgrund der Entfernung zwischen uns nicht sicher. „Kann ich rüberkommen?“ – „Nein!“, entgegnete ich sofort und sah ihn erschrocken an. Hatte er nicht gestern erst versprochen, sich von mir fernzuhalten? „Ich will nur mit dir reden.“ Nervös runzelte ich die Stirn. „Es gibt nichts worüber ich mit dir reden möchte.“ – „Ich rede. Du sollst nur zuhören.“ – „Ich will dir aber nicht zuhören.“, knurrte ich mit zusammen gebissenen Zähnen. „Warum sitzt du dann noch hier und bist nicht schon längst wieder rein gegangen?“ Ertappt sah ich zu Boden. „Ich schaue mir den Sonnenuntergang an.“, erklärte ich, obwohl die Sonne mittlerweile überhaupt nicht mehr zu sehen war. Dieses Mal hörte ich Liams Seufzen laut und deutlich. „Mia, bitte. Es gibt einige Dinge über die wir reden müssen.“ Schnaubend schüttelte ich den Kopf. „Wenn du der Meinung bist, dass wir das müssen, wieso hast du mich dann das letzte halbe Jahr über komplett ignoriert?“ Ohne seine Reaktion abzuwarten stand ich auf, ging zurück ins Zimmer und knallte die Balkontür mit solch einer Wucht zu, dass das Glas im Rahmen wackelte.

Warum ließ er mich nicht einfach in Ruhe? Ich wollte nicht mit ihm reden und er hatte versprochen, sich von mir fernzuhalten. Was hatte sich seitdem geändert? Das Armband. Aber es dürfte ihn wohl kaum verwundert haben, dass ich es nicht mehr haben wollte. Die darauf eingeprägten Worte, die mir einmal so viel bedeutet hatten, waren nun wertlos.  Das Armband war nur noch eine Erinnerung an eine Zeit, die ich unbedingt vergessen wollte. 

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt