Vernunft

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Drei Wochen waren vergangen, seit ich Liam verlassen hatte. Körperlich ging es mir von Tag zu Tag besser, der seelische Fortschritt hinkte deutlich hinterher. Meine Eltern waren mittlerweile selbstverständlich informiert und versuchten mit aller Macht, mich von einer Rückkehr nach Deutschland zu überzeugen. Doch ich spürte, dass das Kapitel London für mich noch nicht abgeschlossen war. Die Möglichkeit, in London zu studieren und zu leben, konnte und wollte ich weiterhin wahrnehmen und genießen. Schon bevor Liam in mein Leben zurück gekehrt war, hatte ich mir ein Leben in dieser Stadt aufgebaut und dieses Leben würde ich nun weiterführen.

Dass Liam meine Entscheidung anscheinend kommentarlos hinnahm, erweckte in mir gemischte Gefühle. Einerseits war ich erleichtert über das Ausbleiben jeglicher Kontaktversuche, denn so musste ich mich nicht rechtfertigen und es bestand nicht die Gefahr, unter Liams Überzeugungskünsten einzuknicken. Andererseits, entgegen allem logischen Denken, verletzte mich sein nicht vorhandener Wille, um mich zu kämpfen. In mir wuchs der Verdacht, dass Liam schon länger Zweifel an der Richtigkeit unserer Beziehung gehegt hatte und insgeheim möglicherweise froh war, dass ich ihm die endgültige Entscheidung abgenommen hatte. Mir war bewusst wie albern dieser Gedanke war, doch ich konnte ihn nicht abschütteln.

Alex hatte sich in der Zwischenzeit in mehr als einer Situation als wahrer Freund entpuppt. Seine Suche nach einem neuen Mitbewohner hatte er augenblicklich auf Eis gelegt. Obwohl es schon mehrere Interessenten für mein ehemaliges Zimmer gab, versicherte er mir, dass er niemandem zusagen würde, wenn ich das Zimmer doch weiterhin bewohnen wollte. Nichts wäre mir lieber gewesen, als das Angebot anzunehmen, aber es sprachen einfach zu viele Gründe dagegen. Auf emotionaler Ebene waren es die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit die ich dort mit Liam verbracht hatte. Auf rationaler Ebene war es die Tatsache, dass die Adresse den Paparazzi bekannt war, mittlerweile möglicherweise auch manchen Fans. Das Risiko ständig erkannt oder gar belagert zu werden, wollte ich nicht eingehen. Und mein Versprechen an Liam hatte ich auch ernst gemeint. Ich würde mich nicht in Gefahr begeben und das schloss leider eine Rückkehr in meine alte Wohnung aus. Alex Verständnis für meine Entscheidung gezeigt und mir Hilfe bei der Suche nach einem neuen Zimmer zugesichert. Bis dahin war ich weiterhin bei seinen Eltern zuhause willkommen, denen ich mittlerweile jedoch Miete zahlte und im Haushalt half, auch entgegen ihrer Proteste.

Wie Liams Fans auf unsere erneute Trennung reagiert hatten wusste ich nicht. Ich wusste nicht einmal, ob diese Information bereits an die Öffentlichkeit gedrungen war. Jegliche Internetseiten oder Zeitschriften, die sich mit derartigen Themen befassten, mied ich konsequent. Für meine Sicherheit wäre es ohne Frage am besten, wenn alle Bescheid wussten und mich nicht mehr mit Liam in Verbindung brachten. Aber das würde dauern. Monate, vielleicht Jahre. Noch war ich in den Augen vieler Fans die Person, die ihnen Liam weggenommen hatte.

Genau 25 Tage nach meinem Entschluss rief Harry an. Beim ersten Mal ließ ich mein Handy klingeln, bis die Mailbox ansprang. Der Name auf dem Display ließ mein Herz rasen, während der Rest meines Körpers erstarrte. Wieso rief Harry mich an? War Liam etwas zugestoßen? Nein, das hätte ich mitbekommen. Jeder englische Nachrichtendienst hätte sofort darüber informiert. Möglicherweise wollte Harry sich auch einfach nur nach meinem Befinden erkunden. Oder... oder es war gar nicht Harry, der mich anrief. Was wenn Liam mich von Harrys Handy aus anrief, um sicher zu gehen, dass ich ranging? Wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, er hinterließ keine Nachricht. Dafür klingelte mein Handy einige Minuten später erneut. Ich atmete tief durch und stelle mich darauf ein, jederzeit wieder aufzulegen, bevor ich mit dem Daumen den grünen Hörer nach rechts wischte. Ich hielt mir das Handy ans Ohr, brachte jedoch keinen Ton heraus. Für einen Moment herrschte Stille.

„Mia?" Erleichterung und Enttäuschung zugleich. „Harry, hey.", meldete ich mich mit bemüht fester Stimme. Liam wollte also nachwievor nicht mit mir sprechen. Ich wusste, dass ich ihm dankbar dafür sein sollte, dass er meiner Bitte nachkam, aber rationales Denken war nicht immer einfach. „Hi... wie geht es dir?" Obwohl ich Harry nur hören und nicht sehen konnte, merkte ich ihm sein aufrechtes Interesse an. „Jeden Tag besser.", antwortete ich wahrheitsgemäß. Zumindest auf das Körperliche bezogen. „Das freut mich. Heilt alles so, wie es soll?" - „Mein Arzt ist zufrieden." - „Gut... sehr gut." Wieder herrschte Stille. „Es tut mir leid, Harry.", murmelte ich schließlich leise. „Was tut dir leid?" - „Dass ich dich da mit reingezogen habe. Der Anruf... ich wollte dich nicht anlügen. Ich bin gegangen, weil ich einfach nicht zulassen konnte, dass-" Ich verstummte mitten im Satz. Hatte Liam den anderen überhaupt von seinem Plan erzählt? Oder hatte er ihn sofort verworfen, nachdem meinen Brief gelesen hatte? „Ich weiß.", entgegnete Harry und unterbrach damit meine Gedanken. „Du wolltest nicht zulassen, dass er seine Zukunft zerstört." Ich stutzte kurz. „Hast du... hast du meinen Brief gelesen?" - „Ja. Liam hat mich angerufen, als er... als du... an dem Abend.", erklärte Harry. „Ich bin dir nicht böse, Mia. In deiner Situation hätte ich vermutlich genauso gehandelt." Erleichtert atmete ich auf. Egal was in den letzten Jahren zwischen Liam und mir vorgefallen war, Harry hatte nie Partei ergriffen. Er war immer für mich da gewesen. Es war gut zu wissen, dass ich ihn nicht als Freund verloren hatte. Es kostete mich jede Menge Überwindung, doch irgendwann brachte ich die Worte über meine Lippen: „Wie geht es ihm?" Seinen Namen konnte ich nicht nennen, musste ich aber auch nicht. Harry würde wissen, wen ich meinte. Er schwieg. Dann seufzte er. „Was möchtest du hören, Mia?" Ich spürte den Kloß in meinem Hals. Harry Gegenfrage war aussagekräftiger als eine Antwort. Leise, aber laut genug damit Harry mich verstand, murmelte ich: „Ich möchte, dass es ihm gut geht." Wieder seufzte Harry am anderen Ende der Leitung. „Ich weiß. Ich auch." Der Kloß in meinem Hals wurde spürbar größer. „Ich bin nicht gegangen, um ihn zu verletzen. Es war die einzige Lösung, die ich gesehen habe." - „Das weiß ich, Mia. Wie gesagt, ich hätte genauso gehandelt." - „Weiß er das auch? Oder... oder hasst er mich jetzt?" Ich hörte selbst, wie albern diese Worte klangen. Liam ging es offenbar nicht gut und ich machte mir Sorgen darüber, wie er von mir dachte. „Tief drinnen weiß er glaube ich, dass deine Entscheidung richtig war. Oder zumindest vernünftig. Aber aus seiner Sicht hast du ihm die Möglichkeit genommen, dich zu beschützen. Er macht sich natürlich noch immer Vorwürfe für das, was dir passiert ist und jetzt muss er damit klar kommen, dass er... naja, dass er dir nur Schutz bieten kann, in dem er dich eben nicht beschützt." Harry stockte kurz. „Verstehst du?" - „Ja... klar.", entgegnete ich. „Aber er hasst dich nicht, Mia." Für einen kurzen Moment klang Harry fast etwas amüsiert. „Es fällt ihm einfach nur schwer, deine Entscheidung zu akzeptieren. Ob sie nun richtig war oder nicht. Und natürlich macht er sich Sorgen um dich." - „Das muss er nicht.", antwortete ich schnell. „Ich passe auf mich auf, wirklich. Sollte ich irgendetwas auffälliges bemerken, wende ich mich sofort an die Polizei." - „Das ist beruhigend zu wissen. Aber wenn man jemanden so sehr liebt, ist es glaube ich schwierig, diese Sorgen abzuschalten." Augenblicklich schossen mir Tränen in die Augen. Harry schwieg, während ich versuchte, mein Schluchzen zu unterdrücken. „Mia? Bist du noch da?", fragte Harry irgendwann. Ich presste eine Hand vor den Mund, unfähig zu antworten. Einige Sekunden vergingen, dann schien Harry zu verstehen. „Oh nein. Mia, so war das nicht gemeint. Ich wollte dir kein schlechtes Gewissen machen. Deshalb habe ich nicht angerufen." Die Worte drangen an mein Ohr, prallten jedoch sofort wieder ab. Was hatte ich getan? Wie konnte meine Entscheidung richtig sein, wenn sowohl Liam als auch ich darunter litten? Ich hatte den Menschen, die sich Fans nannten, das Feld überlassen, ich hatte sie gewinnen lassen. Aber was wäre passiert, wenn ich bei Liam geblieben wäre? Hätte er mich jemals wieder alleine aus dem Haus gehen lassen? Hätte er sein Vorhaben wahr gemacht und seine ganze Zukunft meinetwegen zerstört?

Vermutlich gab es in dieser Situation kein richtig und kein falsch. Meine Entscheidung war vernünftig. Aber sie brach mir das Herz. Immer und immer wieder. 

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt