Zeit

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LIAMS SICHT:

Den ganzen Tag über hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als Mia endlich zu küssen. Nun stand sie direkt vor mir, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, und ich konnte den Abstand zwischen uns einfach nicht überwinden. Es wäre so leicht. Nur noch ein paar Zentimeter. Aber was dann? Was, wenn Mia noch immer nicht bereit war? Was, wenn ich mit diesem Kuss wieder alles zerstören würde? Das konnte ich nicht riskieren. Nicht noch einmal. 

Ich seufzte und trat widerstrebend einen Schritt zurück. Obwohl ich sie nicht ansah spürte ich, dass Mias Blick auf mir lag. „Wir sollen zurück gehen.“, murmelte ich, drehte mich um und ging zurück zum Waldweg, bevor ich es mir doch noch anders überlegen konnte. Ohne auf Mia zu warten, begann ich den Weg zurück zum Hotel. Was zur Hölle war los mit mir? Warum hatte ich sie nicht einfach geküsst? Der Tag war perfekt verlaufen und Mia hatte mir mehr als einmal deutlich gemacht, dass sie nach wie vor Interesse an mir hatte. Wieso musste ich immer so ein Feigling sein? Was hätte schon passieren können? Mia war viel zu gutmütig, um mir körperliche Schmerzen zuzufügen. Und selbst wenn sie den Kuss schlicht und einfach nicht erwidert hätte… Na und? Dann hätte ich gewusst, dass sie noch nicht bereit war. Aber jetzt wusste ich überhaupt nichts mehr. Und genau das störte mich. Auf einmal wollte ich unbedingt wissen, was passiert wäre. Wie sie reagiert hätte. Was hatte ich schon zu verlieren? Bevor ich mir zu viele Gedanken machen konnte, drehte ich mich abrupt um und ging zurück zu Mia, die mir mit einigen Metern Entfernung gefolgt war. Ich sah die Verwunderung in ihrem Blick. Doch ich sah auch, dass sie nicht vor mir zurückwich. Vermutlich ein gutes Zeichen. Je näher ich ihr kam, desto schneller pochte mein Herz. Verdammt, ich liebte dieses Mädchen so sehr. Ohne auch nur einen Moment des Zögerns nahm ich ihr Gesicht in meine Hände und presste meine Lippen auf ihre. 

Nur wenige Sekunden später wusste ich, dass ich das Richtige getan hatten. Mia erwiderte den Kuss augenblicklich und in meinem Herz entfachte ein Feuerwerk. Jegliches Zeitgefühl löste sich in Luft auf. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich bis in alle Ewigkeit hier stehen bleiben können, mit Mia in meinen Armen. Doch viel zu schnell holte mich die Realität ein. Eine Realität, in der regelmäßige Luftzufuhr unumgänglich war. Komplett außer Atem lösten wir uns voneinander, ohne uns dabei aus den Augen zu verlieren. Ich wusste, dass sie etwas sagen würde, doch zuerst musste ich ein für all mal klarstellen, was in mir vorging.

MIAS SICHT:

„Mia, ich-“, begann Liam im selben Moment, als auch ich sagte: „Liam, ich-“ Gleichzeitig verstummten wir wieder, nur um kurz danach in leises Gelächter auszubrechen. Schon lange hatte ich mich nicht mehr derart glücklich und sorgenfrei gefühlt. Derart verliebt. „Du zuerst.“, schlug ich vor. Liam lächelte und begann erneut: „Mia, ich weiß, dass ich dir mehr Zeit geben sollte… wollte. Aber ehrlich gesagt, kann und möchte ich das nicht mehr. Wahrscheinlich ist das total egoistisch, aber dann bin ich gerne egoistisch. Mia, ich liebe dich. Das weißt du. Und ich glaube tief in uns drinnen wissen wir beide, dass wir ohne einander einfach nicht so richtig funktionieren. Ja, in Südamerika haben wir uns zu wenig Zeit gelassen und die ganze Sache überstürzt. Aber hey, das ist jetzt auch schon wieder ein paar Monate her. Vielleicht geht es auch jetzt wieder schief, aber vielleicht auch nicht. Und wenn es jetzt nicht funktioniert, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass es auch in ein paar Wochen oder Monaten nicht funktionieren würde. Also lass es uns einfach versuchen. Bitte.“ Komplett sprachlos starrte ich ihn an. Offenbar machte ihn das etwas nervös. „Okay… jetzt du.“, murmelte er und beobachtete mich angespannt. Noch immer etwas baff nickte ich. „Vor ein paar Minuten war ich echt richtig sauer auf dich.“, sagte ich, woraufhin Liams Augen kugelrund wurden. „Als du mich da hinten einfach hast stehen lassen… das war schon etwas unhöflich. Auch die Sache mit dem Bett gestern Abend. Ich biete dir an, die Nacht in einem Bett mit mir zu verbringen und du ziehst es vor, auf einem ungemütlichen Sofa zu schlafen. Es wäre gelogen wenn ich sagen würde, dass mich das nicht gekränkt hat.“ Liam öffnete den Mund, doch ich kam ihm zuvor. „Aber ich weiß ja weshalb du das gemacht hast. Und nach der Sache in Südamerika kann ich verstehen, dass du nichts überstürzen wolltest. Außerdem war immerhin ich diejenige, die um mehr Zeit gebeten hat. Also Schwamm drüber.“ - „Das heißt… du bist jetzt nicht mehr sauer auf mich?“, fragte Liam, offensichtlich noch immer etwas nervös. Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Nein. Mit dem Kuss hast du einiges wieder gut gemacht.“ Alle Anspannung schien in diesem Moment von Liam abzufallen. Ein erleichtertes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Jedoch nur für kurze Zeit, bis er seine Stirn in Falten legte. „Was ist mit dem, was ich gerade gesagt habe? Denkst du wir sollten trotz allem noch warten oder-“ Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen und brachte ihn mit meinen Lippen zum Schweigen. „Oder.“, antwortete ich, nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten. Erneut breitete sich ein Lächeln auf Liams Gesicht aus. „Oder.“, sagte auch er und küsste mich ein weiteres Mal. Dann warf er einen Blick über seine Schulter. „Vielleicht sollten wir jetzt wirklich zurückgehen. Bevor uns noch jemand als vermisst meldet.“

Die Hochzeitsfeier dauerte noch bis spät in die Nacht und die frühen Morgenstunden an. Natürlich verabschiedeten sich besonders die älteren Gäste schon etwas früher, doch ein offizielles Ende war nicht in Sicht. Auch Liam und ich verbrachten noch einige Stunden auf der Tanzfläche. Irgendwann schmerzten meine Beine jedoch so sehr, dass ich kaum noch aufrecht stehen konnte und auch Liam gähnte nach jedem zweiten Satz. Wir verabschiedeten uns von Sarah, Tom und Sam, sowie von einigen anderen Leuten, deren Namen ich schon längst wieder vergessen hatte. 

Liebend gerne hätte ich mich einfach nur noch ins Bett geschmissen, doch ich wusste, dass ich vorher noch irgendwie aus diesem Kleid herauskommen musste. Also machte ich einen kurzen Umweg ins Bad. Als ich wenig später wieder ins Zimmer kam, verfrachtete Liam gerade vorsichtig seinen Anzug in seiner Tasche. Sobald er sah, dass ich wieder da war, deutete er auf das Sofa hinter ihm. „Wahrscheinlich ist es am besten wenn ich trotz allem wieder da schlafe.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Willst du mich verarschen?“ Ich konnte sehen wie schwer es ihm fiel, einen ernsten Gesichtsausdruck beizubehalten. Während er sprach, ging ich langsam auf ihn zu. „In manchen Ländern wird es ohnehin nicht gern gesehen, wenn man vor der Ehe gemeinsam in einem Bett schläft, von daher ist es-“ Er verstummte als ich direkt vor ihm zum Stehen kam. Dann fuhr er langsam fort: „… von daher ist es vielleicht ganz klug weiterhin getrennt-“ Wie schon vorhin im Wald, presste ich auch nun meine Lippen auf seine, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Halt die Klappe.“, murmelte ich und zog ihn zum Bett, ohne meine Lippen dabei von seinen zu nehmen. 

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt