Feige

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Ich wusste nicht was ich tat. Vor wenigen Sekunden hatte mein Plan noch so perfekt gewirkt. Liam zu küssen war weder ihm, noch Luke gegenüber fair, aber es würde mir beweisen, dass meine Gefühle für Liam nicht mehr aktuell waren. Sie existieren nur in meiner Erinnerung.

Doch sobald unsere Lippen sich berührten wusste ich, dass ich einen riesigen Fehler machte. Luke zu küssen war schön. Vertraut, liebevoll, angenehm. Dieser Kuss war damit nicht vergleichbar. Obwohl mir auch Liams Lippen mehr als vertraut waren, fühlte es sich an, als berührten sie meine zum allerersten Mal. Und dennoch herrschte eine geradezu perfekte Harmonie. Für einen kurzen Augenblick war Liam offenbar derart überrascht, dass er überhaupt nicht reagierte. Doch dann erwiderte er den Kuss mit solch einer Leidenschaft, wie ich sie bei Luke nie erlebt hatte. Klares Denken war absolut unmöglich. Ich wusste nicht einmal wie viel Zeit vergangen war, bis Liam auf einmal einen Schritt zurück trat. Sein Brustkörper hob und senkte sich in schnellem Tempo, während er mich mit geweiteten Augen ansah. „Was zur Hölle wird das?“, fragte er. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Ich… ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich besser…“ Ohne den Satz zu beenden, drehte ich mich um und griff nach der Türklinke. Aber so weit kam ich erst gar nicht. „Oh nein, du bleibst hier.“, protestierte Liam und zog mich zum Bett. „Setzen.“, befahl er und sah mich streng an. Ich wusste, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Liam nahm neben mir Platz, ließ mich dabei jedoch keine Sekunde aus den Augen. „So und jetzt erklärst du mir bitte, weshalb du mitten in der Nacht in mein Zimmer kommst und mich küsst. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte.“ Auf seinem Gesicht war die Andeutung eines Lächelns zu erkennen. Vermutlich hatte es nicht viel Sinn, irgendwelche Lügen zu erzählen. „Ich wollte mir selbst etwas beweisen. Aber das war eine bescheuerte Idee.“ Liam runzelte die Stirn. „Was wolltest du dir beweisen?“ Wieder schüttelte ich den Kopf und vergrub ihn anschließend in meinen Händen. „Es ist so idiotisch.“, murmelte ich. „Bitte sag es mir einfach.“ – „Ich dachte wenn ich dich küsse und dabei nichts empfinde, könnte ich mir endlich sicher sein, dass ich keine Gefühle mehr für dich habe.“, erklärte ich leise. Für eine Weile herrschte absolute Stille. Dann entgegnete Liam: „Okay, das ist wirklich komplett bescheuert.“ Ich wagte es nach wie vor nicht, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. „Kann ich jetzt gehen?“, fragte ich stattdessen, obwohl ich die Antwort bereits kannte. „Kommt gar nicht in Frage. Erst sagst du mir, ob dieses… Experiment erfolgreich war.“ Nun sah ich ihn doch an. Und hob die Augenbrauen. „Was denkst du denn?“ Liam zuckte mit den Schultern. „Ich denke, du solltest einfach aufhören deine Gefühle zu leugnen.“ – „Und was bringt das? Nur weil ich eventuell noch etwas für dich empfinde, heißt das noch lange nicht, dass ich Luke nicht mehr liebe!“ Langsam nickte er. „Mag sein, aber es heißt, dass wir eventuell doch eine gemeinsame Zukunft haben könnten.“ Entschieden schüttelte ich den Kopf. „Nein! Was soll denn das für eine Zukunft sein? Es ist nicht das erste Mal, dass du voreilig eine schwerwiegende Entscheidung getroffen hast, ohne vorher mit mir zu reden. Auf so ein Verhalten kann man doch keine Beziehung aufbauen!“ Nun wirkte Liam ernsthaft verwirrt. „Wie meinst du das? Wann habe ich mich sonst noch derart bescheuert verhalten?“ – „Damals in London, als du Luke zum ersten Mal begegnet bist. Du hast sofort angenommen ich hätte etwas mit ihm, hast mich beleidigt und dich einfach nur wie ein Arsch verhalten.“ – „Mia, das ist eine halbe Ewigkeit her! Ich dachte, dass hätten wir längst geklärt.“, protestierte Liam verärgert. „Das war doch auch kein Vorwurf! Es zeigt mir nur, dass du offenbar nicht daraus gelernt hast. Und das wiederum zeigt mir, dass ich mir nicht sicher sein kann, dass so etwas nicht wieder passiert.“ – „Doch, kannst du! Ich habe noch nie etwas so sehr bereut, wie diesen verdammten Fehler. Hätte ich mit dir geredet, wäre alles komplett anders gelaufen und daraus habe ich gelernt, glaub mir!“ Aber ich stand kopfschüttelnd auf. „So einfach ist das nicht. Es hat sich einiges verändert im letzten halben Jahr, ich habe mich verändert. Es war ein riesiger Fehler hierher zu kommen. Ich hätte dich niemals küssen dürfen.“ – „Doch. Darfst du jederzeit.“, erwiderte Liam, der mittlerweile ebenfalls aufgestanden war. Ohne auf seine Worte einzugehen, griff ich nach der Türklinke. „Du willst also einfach so tun, als sei das hier nie passiert?“ Ich hielt inne, drehte mich jedoch nicht zu ihm um. „Ich habe keine Ahnung. Vielleicht?“ Liam trat neben mich, doch anstatt mich aufzuhalten, hielt er mir die Tür auf. „Aber mich nennst du feige.“, murmelte er kopfschüttelnd. „Was würdest du denn an meiner Stelle tun?“, fragte ich und bereute es sofort. Liam legte nur den Kopf schief und sah mich vielsagend an. „Das weißt du ganz genau. Aber das spielt überhaupt keine Rolle. Es ist deine Angelegenheit, deine Entscheidung. Wenn du so tun möchtest als sei es nie passiert, werde ich es ganz bestimmt auch nicht erwähnen. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht passiert ist. Und solltest du doch die richtige Entscheidung treffen und endlich zu deinen Gefühlen stehen, sag mir Bescheid.“ Schweigend erwiderte ich seinen Blick. Und je länger ich in seine dunkelbraunen Augen sah, desto schneller pochte mein Herz. Die Tür stand noch immer offen. Sollte in diesem Moment jemand den Flur entlang gehen, würde er uns sofort sehen, wie wir einander in die Augen blickten und nichts um uns herum wahrnahmen. Liams Gesicht kam immer näher und erst als ich bereits seinen Atem spüren konnte, wurde mir bewusst, was hier gerade geschah. „Liam, ich… ich kann das nicht.“ Ich legte meine Hand auf seine Lippen und drückte ihn sanft zurück. Mit geschlossenen Augen trat er einen Schritt weiter in sein Zimmer. „Gute Nacht, Mia.“ Er drehte mir den Rücken zu und ich wusste, dass es Zeit war zu gehen. Als ich bereits auf halbem Weg zu meinem Zimmer war, hörte ich seine Stimme. „Mia, warte.“ Ich blieb stehen und drehte mich langsam zu ihm um. Liam stand im Türrahmen seines Zimmers und sah mich mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an. Sein Mund war leicht geöffnet, als wolle er etwas sagen. Dann jedoch verzog er das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Vergiss es, nicht so wichtig. Schlaf gut.“ Ohne meine Reaktion abzuwarten, trat er zurück in sein Zimmer. Erst etwa eine Minute nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, drehte ich mich wieder um und ging langsam weiter den Flur entlang. Liam hatte Recht. Mein Verhalten war feige. Aber wie sollte es mir gelingen, eine Entscheidung zu treffen? 

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt