Grund zum Feiern

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Vergleichen Sie die Beziehung zwischen dem jungen Werther und Lotte mit der Idee einer gesunden Beziehung zu heutiger Zeit.

 Stöhnend griff ich nach dem gelben Reclam Buch, das ich nach dem heutigen Tag ganz bestimmt nie wieder anfassen würde. Dass die Beziehung zwischen Werther und Lotte alles andere als gesund war, stand außer Frage. Der Selbstmord Werthers sollte Beweis genug sein. Doch welche Beziehung war denn heutzutage gesund? Irgendwer wurde immer verletzt. Gut, vielleicht hatte Goethe mit seinem Roman etwas übertrieben. Aber im Prinzip hatte er Recht: so etwas wie ein Happy End existierte nicht. Nicht damals und ganz bestimmt nicht heute. Kopfschüttelnd verdrängte ich die Gedanken an meine persönlichen Erfahrungen zu diesem Thema und suchte nach passenden Textbelegen. Ein Blick auf die Uhr versetzte mich in leichte Panik. Noch zwei Stunden. Jetzt ging es um alles oder nichts.

Und dann war es vorbei. Der letzte Satz geschrieben, der letzte Punkt gesetzt. Mit zitternden Händen gab ich die Klausur ab. Bis zur nächsten und gleichzeitig letzten Prüfung dauerte es noch ein paar Wochen. Solange konnte ich mich ausruhen. Und Die Leiden des jungen Werther endlich verbrennen.

„Wie ist es gelaufen?“, fragte Caro, die ihre Klausur bereits vor einer guten halben Stunde abgegeben hatte und nun vor dem Raum auf mich wartete. Ich zuckte mit den Schultern. „Ich denke ganz gut. Aber bei Werther weiß man nie.“ – „Warum hast du auch das Thema ausgewählt? Exillyrik war viel einfacher als dieses krankhafte Beziehungsdrama.“ Schweigend ging ich neben meiner besten Freundin her. Selbst ihr gegenüber konnte ich nicht zugeben, dass ich die Gefühlsausbrüche Werthers manchmal ziemlich gut nachvollziehen konnte. Auf einmal blieb Caro abrupt stehen. Verdutzt sah ich sie an. „Caro, was ist-?“ Doch sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. Nach einer Weile fragte sie: „Riechst du das?“ Ich hob die Augenbrauen. „Was? Den Müll?“ Tatsächlich standen wir gerade in der Nähe eines Mülleimers, der bereits überquellte. Caro öffnete die Augen und schlug mir auf den Arm. „Nein, nicht den Müll. Diese Freiheit!“ Sie breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. „Wir sind frei, Mia. Endlich frei.“ – „Aber unsere mündliche Prüfung-“, begann ich ihr zu widersprechen, doch mit nur einem Blick brachte sie mich zum Schweigen. „Bis dahin haben wir noch fast einen Monat Zeit. Und außerdem kannst du die halbe Stunde nicht mit diesen Drecksklausuren vergleichen. Das Schlimmste haben wir hinter uns und das muss gefeiert werden!“ Stöhnend setzte ich mich wieder in Bewegung. „Eigentlich wollte ich die nächsten Wochen erst einmal durchschlafen.“, sagte ich, aber davon wollte Caro nichts hören. „Kommt gar nicht in Frage! Heute wird gefeiert, ob du es willst oder nicht.“ – „Mal sehen…“, murmelte ich. Doch innerlich wusste ich genau, weshalb mir absolut nicht nach Feiern zumute war.

Liam lag auf meinem Bett und blätterte in einem meiner Schulbücher umher. „Ich verstehe kein einziges Wort von dem was hier steht.“, stellte er mit gerunzelter Stirn fest. Dann hellte sich seine Miene plötzlich auf. „Du könntest mir Deutsch beibringen!“ Lachend nahm ich ihm das Buch aus der Hand. „Erst einmal muss ich lernen. Und mir meine Bücher wegzunehmen ist keine sonderlich große Hilfe.“ Er streckte mir grinsend die Zunge raus. „Dafür bin ich eine riesige Motivation. Denn wenn du all das hinter dir hast, kannst du endlich mit mir nach London kommen.“ Da hatte er in der Tat Recht. Noch gut ein halbes Jahr, dann war ich mit der Schule fertig. Mit anderen Worten: noch ein halbes Jahr, dann würde ich Liam sehr viel regelmäßiger sehen. Er hatte mir angeboten, dass ich ihn jederzeit auf der nächsten Tour begleiten konnte und versichert, dass ich in London sowieso jederzeit willkommen war. „Ich muss zugeben, ich vermisse dein Bett.“, sagte ich und sah aus dem Fenster. Die Erinnerung an meine erste Nacht in seiner Wohnung war noch immer glasklar. Es hatte fast eine Minute gedauert, bis ich überhaupt ein Ende des riesigen Bettes gefunden hatte. „Und ich vermisse dich in meinem Bett.“, entgegnete Liam mit einem schiefen Grinsen. Seufzend nickte ich. „Ein halbes Jahr. Dann bin ich frei.“ Liam richtete sich auf, sein Gesichtsausdruck auf einmal sehr entschlossen. „Wenn du deine letzte Prüfung geschrieben hast, komm ich sofort nach Deutschland. Und dann feiern wir. Deine Freiheit. Uns.“

„Erde an Mia! Hallo, jemand zu Hause?“ Wie wild fuchtelte Caro mit einer Hand vor meinem Gesicht herum. Erschrocken zuckte ich zusammen. „Tut mir leid, ich war grad in Gedanken. Was hast du gesagt?“, fragte ich ohne wirkliches Interesse. Zu präsent war die Erinnerung an den Abend, den ich soeben noch einmal durchlebt hatte. „In welchen Club willst du nachher gehen?“, widerholte Caro ihre Frage, offensichtlich ziemlich genervt von meiner Unaufmerksamkeit. „Caro, ich bin heute wirklich nicht in Feierlaune.“ Mit verschränkten Armen stellte sie sich direkt vor mich. „Okay Mia. Was ist los? Hat der olle Werther dich etwa so sehr traumatisiert, dass du jetzt dauerhafte Depressionen mit dir umher trägst?“ Es war nur eine Frage der Zeit, bis Caro von selbst auf die Wahrheit kommen würde. Im Prinzip konnte ich es ihr also auch direkt sagen. „Es gab nur einen Grund, weshalb ich unbedingt endlich mein Abitur schreiben wollte. Um mehr Zeit mit Liam zu verbringen. Aber dieser Grund hat sich ja nun leider in Luft aufgelöst. Und jetzt wo ich nicht mehr lernen muss, habe ich auch nichts womit ich mich von dieser Tatsache ablenken kann. Ich sehe also nicht ein, weshalb ich diesen Moment feiern sollte.“ Caro schwieg. Und schwieg. Und schwieg. Dann sah sie zu Boden. „Mia…“, murmelte sie leise, „Ich weiß, dass du noch immer darunter leidest. Aber es wird ganz bestimmt nicht dadurch besser, dass du dich in deinem Zimmer verkriechst und gar nichts tust. Was du jetzt brauchst, ist Ablenkung. In Ordnung?“ Langsam nickte ich. „Du hast ja Recht. Es ist nur… schwierig. Wir haben so oft über diesen Moment gesprochen. Er sollte jetzt hier sein. Aber das ist er nicht.“ – „Wer sollte hier sein?“ Erschrocken drehte ich mich um. Luke stand direkt hinter mir und sah mich fragend an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Du!“, sagte ich schnell. „Wir haben uns schon gewundert wo du bleibst.“ Ich warf Caro einen warnenden Blick zu, doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf, um mir zu versichern, dass sie nichts sagen würde. Lukes Lächeln wurde breiter. „Hier bin ich.“, verkündete er, gab mir einen flüchtigen Kuss und griff dann nach meiner Hand. „Und, wie ist es bei euch gelaufen?“

Liam war Vergangenheit. Und es war höchste Zeit, dass ich das endlich akzeptierte. 

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HI :)

Ich weiß, dass es einen ziemlich heftigen "Schnitt" gibt, vom letzten Kapitel von 'I want you to stay.." zu diesem Kapitel. Aber wie gesagt: es sind acht Monate vergangen. Was in der Zwischenzeit geschehen ist werdet ihr schon noch erfahren, keine Sorge :) Jetzt erst einmal freue ich mich auf eine schöne gemeinsame Zeit mit euch ;) Ich werde versuchen regelmäßig zu schreiben, kann aber nichts versprechen! 

Lots of looooove :)

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt