Flugzeugmädchen

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Ich wagte einen Blick in Liams Richtung und erkannte sofort, dass er damit nicht gerechnet hatte. Für einen kurzen Moment wirkte er irritiert, bevor er sich wieder zu fassen schien.

„Du hast dich entschieden? Für oder gegen was genau? Mich? Unsere Beziehung?"

Ich nickte, schwieg jedoch. Liam wirkte angespannt. „Darf ich erfahren, wie diese Entscheidung ausgefallen ist?"

„Darfst du. Aber vorher möchte ich dir eine oder mehrere Fragen stellen." Nun, wo ich die Oberhand in unserem Gespräch hatte, war ich deutlich entspannter. Liam schwieg, sah mich nur abwartend an, woraus ich schloss, dass er bereit für meine erste Frage war.

„Du dachtest, dass ich meine Entscheidung noch nicht getroffen hätte. Und trotzdem bist du jetzt hier, anstatt abzuwarten bis ich wieder in London bin. Wieso?"

„Nach unserem letzten Gespräch war ich mir ziemlich sicher, dass du noch immer Gefühle für mich hast, und die Entscheidung über unsere gemeinsame Zukunft eher von anderen Dingen abhängig machen wolltest." Einerseits war ich froh, dass Liam offenbar bemüht war, meine Frage aufrichtig zu beantworten, andererseits reichte mir seine Antwort nicht ganz aus.

„Aber es wäre doch so oder so meine Entscheidung gewesen, oder nicht?", fragte ich nach. „Deine Anwesenheit hätte mich sicherlich beeinflusst."

Liam nickte langsam. „Ja, es ist deine Entscheidung. Und wenn du gesagt hättest, dass du dir nicht sicher bist, ob deine Gefühle für eine Beziehung mit mir ausreichen, hätte ich dir alle Zeit der Welt gegeben, um dir darüber klar zu werden. Aber das hast du nicht gesagt. Und deshalb habe ich beschlossen, dass ich von jetzt an um dich kämpfen werde."

„Wenn du das so sagst, klingt das alles ziemlich einfach und logisch", murmelte ich. „Obwohl es in Wahrheit viel komplizierter ist."

„So kompliziert finde ich das gar nicht", widersprach mir Liam. „Junge liebt Mädchen, Mädchen liebt Junge. Beide machen Fehler. Teilweise so große Fehler, dass alles auseinander bricht. Aber sie finden wieder zueinander. Weil sie sich lieben. Dann mischen sich andere Menschen in die Beziehung ein, mehr als einmal, doch auch dadurch wird die Liebe nicht weniger. Ganz im Gegenteil." Sanft legte Liam eine Hand unter mein Kinn und drehte vorsichtig mein Gesicht in seine Richtung. „Junge liebt Mädchen, Mädchen liebt Junge", wiederholte er. „Ganz einfach."

Selten war der Drang, ihn zu küssen, derart stark gewesen. Liams Augen leuchteten wie lange nicht mehr, er wusste was er wollte, daran bestand kein Zweifel. Ich riss mich zusammen und fragte: „Wieso ausgerechnet jetzt? Wieso hast du mich nicht einfach angerufen oder hast mich besucht? Wieso tauchst du auf einmal in diesem Flugzeug auf?"

Das Feuer in Liams Augen vermischte sich mit Schalk. „Ich fand die Idee ziemlich witzig." Mit dieser Erklärung hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Noch bevor ich nachfragen konnte, griff Liam nach dem Anhänger meiner Kette. „Du bist mein Flugzeugmädchen, weißt du nicht mehr?" Sofort erinnerte ich mich an meine erste Begegnung mit Liams Freundin Sarah, die diese Bezeichnung ins Leben gerufen hatte. Als sei diese Erklärung nicht ausreichend, fügte Liam hinzu: „Wir haben uns in einem Flugzeug kennen gelernt. Deshalb dachte ich, dass ein Flugzeug auch der richtige Ort wäre, um dir das hier zu geben." Er griff wieder in die Innentasche seiner Jacke, dieses Mal holte er jedoch etwas heraus.

Ob medizinisch möglich oder nicht, in diesem Moment hätte ich darauf schwören können, dass mein Herz für einige Sekunden aufhörte zu schlagen. Liam positionierte die kleine Schachtel auf meinem Knie, wo ich sie einfach nur anstarrte. Dann griff ich danach – nicht, um sie zu öffnen, sondern um sicher zu gehen, dass sie nicht durch mögliche Turbulenzen auf den Boden fiel. Wie in Zeitlupe hob ich meinen Kopf und sah nun Liam an, der sich mit seinem gesamten Oberkörper in meine Richtung gedreht hatte.

„Liam...", begann ich, mit brüchiger Stimme, doch er hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.

„Nein, lass mich ein paar Dinge sagen", bat er, wofür ich durchaus dankbar war. „Vielleicht kennen wir uns noch nicht lange genug und vielleicht sind wir generell zu jung, um über ‚für immer' zu reden. Aber für mich fühlt es sich an, als seist du schon immer in meinem Leben gewesen und ich möchte mir ehrlich gesagt kein Leben mehr ohne dich vorstellen. Unsere Beziehung hatte ihre Höhen und Tiefen, das möchte ich überhaupt nicht leugnen, aber das Problem waren zu keinem Zeitpunkt fehlende Gefühle. Die waren immer da, von beiden Seiten. In unserem letzten Gespräch habe ich gesagt, dass das viele Hin und Her bedeutet, dass es etwas gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Dabei bleibe ich, aber ich möchte das trotzdem nicht mehr. Ich möchte, dass du ein für alle mal weißt, wie viel du mir bedeutest. Ich möchte mein Leben mit dir verbringen, für dich da sein, wann immer du mich brauchst."

Nach meinem zwischenzeitigen Herzstillstand, pochte es nun so schnell, als liefe ich gerade einen Marathon. Ich spürte, dass mir der Mund aufgeklappt war, doch ich wusste nicht, wie ihn wieder hätte schließen können. In meinem Hinterkopf wuchs die Vermutung, dass ich noch immer im Bett lag und schlief und das alles hier nur träumte. Es konnte unmöglich wahr sein.

Liam nahm mir die Schachtel aus der inzwischen schweißnassen Hand. Ohne mich aus den Augen zu lassen, klappte er den Deckel auf. Ein schmaler silberner Ring kam zum Vorschein, verziert mit einem blütenförmigen Diamanten. Erst als er vor meinen Augen verschwamm, realisierte ich, dass ich weinte.

„Mia", sagte Liam und sofort wanderte mein Blick vom Ring zu seinem Gesicht. „Mia, ich liebe dich und ich verspreche, dass ich dich immer lieben werde. Möchtest du mich heiraten?"

Ich brachte kein Wort zustande, doch mit aller Kraft schaffte ich es, meinen Kopf auf und ab zu bewegen, so schnell ich konnte. Sehen konnte ich inzwischen überhaupt nichts mehr, doch das war auch nicht nötig. Als Liams Lippen voller Leidenschaft auf meine trafen, waren meine Augen geschlossen. Ich wollte nicht, dass dieser Kuss jemals endete, doch Liam löste sich überraschend schnell wieder von mir. Jedoch nur, um den Ring aus der Schachtel zu nehmen und mir an den Finger zu stecken. Er passte wie angegossen. Ungeduldig zog ich sein Gesicht wieder zu mir heran und presste meine Lippen von Neuem auf seine. Ich spürte, wie er im Kuss lachte. Erneut löste er sich von mir und strahlte mich an. Eilig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht um endlich wieder klar und deutlich sehen zu können. Für ein paar Minuten grinsten wir uns einfach nur an und sahen dabei mit großer Wahrscheinlichkeit ziemlich idiotisch aus. Aber das war egal. Nie in meinem Leben war ich so glücklich gewesen wie in diesem Moment.

„Ich glaube, du schuldest mir noch eine Antwort", sagte Liam irgendwann, ohne dass das Grinsen von seinem Gesicht verschwand. Mit hochgezogenen Augenbrauen hielt ich meine Hand mitsamt Ring in die Höhe. „Ist das nicht Antwort genug?" Liam lachte. „Dein Nicken war ziemlich unmissverständlich, ja. Aber ich meine mich zu erinnern, dass du schon vorher eine Entscheidung getroffen hattest."

„Achso, das meinst du", entgegnete ich und ließ die Hand wieder sinken, um den Ring besser betrachten zu können. Er war wunderschön. „Ja, ich hatte mich tatsächlich dafür entschieden, unserer Beziehung noch eine Chance zu geben – ob du es glaubst oder nicht." Ich konnte nicht aufhören zu grinsen. „Aber was genau hättest du getan, wenn ich mich anders entschieden hätte?"

„Ich hab vorher mit dem Gedanken gespielt, mir von irgendwo einen Fallschirm zu besorgen, für den Fall der Fälle", sagte Liam und grinste, stolz auf sein eigenes Wortspiel. „Aber mal ehrlich... mir ist echt das Herz in die Hose gerutscht, als du meintest, du hättest deine Entscheidung schon getroffen. Das hat mich kurz aus dem Konzept gebracht."

Ein wenig schuldbewusst zog ich eine Grimasse. „Tut mir leid. Ich konnte ja nicht ahnen, was du vorhattest." Und erst nach einem weiteren Blick auf meine Hand wurde es mir so richtig bewusst.

„Wir werden heiraten", murmelte ich, fassungslos.

„Wir werden heiraten", bestätigte Liam.

Ich griff nach seiner Hand und lehnte mich an seine Schulter. Wir befanden uns irgendwo im Luftraum zwischen Großbritannien und Deutschland, in einem wackligen Flugzeug, auf ungemütlichen Sitzen ohne Beinfreiheit. Doch ich war Zuhause. 

ENDEEEEEEEEE

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt