Telefonat in der Nacht

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Ich traf meine Entscheidung innerhalb von zwei Sekunden. Um Caro nicht aufzuwecken, schlug ich die Bettdecke zurück und stand schnell aber leise auf. Ohne mein Handy loszulassen griff ich nach der Tagesdecke, die ich wie jeden Abend achtlos auf den Boden geschmissen hatte, schlich mich an Caro vorbei, öffnete die Zimmertür und schloss sie wieder hinter mir. Erst als ich das Wohnzimmer erreicht und in meine Decke eingewickelt auf einem Sessel Platz genommen hatte, führte ich mir das Handy wieder vor die Augen. Wieder brauchte ich nur zwei Sekunden, bis mein Daumen das grüne Hörersymbol nach rechts schob und ich mir das Handy ans Ohr hielt. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie schnell mein Herz pochte. Ich öffnete den Mund, doch kein Laut kam heraus. Die Zeit schien still zu stehen und gleichzeitig fühlte es sich an, als vergingen Stunden.

„Mia?" Atmen. Ruhig atmen.

„Ich höre dich atmen, das ist schon mal ein gutes Zeichen." Atmen. Leiser atmen.

„Wenn du nicht mit mir reden möchtest, kannst du jederzeit auflegen. Ich würde es dir nicht übel nehmen." Wieder öffnete ich den Mund, aber noch immer war ich nicht in der Lage, Wörter oder gar Sätze zu formen. Auch Liam schwieg. Vermutlich wartete er. Er wartete darauf, dass ich entweder auflegte oder etwas sagte. Wie ein normaler Mensch.

„Okay" Liam klang verunsichert. „Ehm, dann rede ich vielleicht erstmal. Ich hoffe es geht dir gut. Ich nehme an, dass du unseren Livestream gesehen hast, Harry meinte er hätte ihn dir gegenüber erwähnt. Wenn wir zu weit gegangen sind, tut mir das leid. Keiner von uns hat damit gerechnet, dass die Fans so schnell zu dem Schluss kommen, dass du mit in der Sache drin steckst. Wir hätten dich trotzdem fragen sollen." Liam sprach so schnell, dass ich Schwierigkeiten hatte ihm zu folgen. „Ich musste einfach etwas tun, weißt du? Es kann nicht sein, dass ich dich in Gefahr bringe und nicht aktiv werde. Außerdem ging es ja nicht nur um dich. Wir alle haben uns in letzter Zeit Sorgen gemacht. Niemand soll unseretwegen in Gefahr schweben. Aber ich wollte sicher gehen, dass es dir gut geht. Klar, ich hätte Harry vorschicken können, aber du bist meine Angelegenheit. Ach verdammt, das klang falsch. Ich wolle einfach derjenige sein, der sich bei dir entschuldigt. Dafür, dass wir dich übergangen haben. Ich hoffe, dass die Situation für dich jetzt nicht noch schlimmer wird... aber so weit ich das bisher überblicken kann, sind die Reaktionen positiv. Ich bin wohl nicht der einzige, dem bewusst ist wie toll du bist. Naja, bin ich nicht, das weiß ich. Deine Familie, deine Freunde, die wissen das natürlich auch. Aber ich meinte... ist ja auch egal. Ich hoffe einfach, es war die richtige Entscheidung. Wenn es richtig und falsch überhaupt gibt. Ich hoffe es war eine gute Entscheidung. So." Liams Wortschwall endete abrupt. Völlig überwältigt starrte ich auf die gegenüberliegen Wand, die nur spärlich vom Mond beleuchtet wurde. Gerade als ich mir ziemlich sicher war, endlich wieder sprechen zu können, stöhnte Liam am anderen Ende der Leitung laut auf.

„Verdammt, Mia. Bitte sag endlich was. Ist alles okay? Ich hätte dich nicht anrufen dürfen, ich weiß. Aber ich muss hören, dass es dir gut geht."

Ich räusperte mich. „Wie geht es dir?"

Schweigen. Offenbar war das nicht die Reaktion, mit der Liam gerechnet hatte.

„Wie bitte?" Obwohl er hörbar verwirrt war, musste seine Höflichkeit nicht darunter leiden.

„Wie geht es dir?", wiederholte ich meine Frage. Erneut herrschte für eine Weile Schweigen. „Gut", sagte Liam dann, aber es klang zögerlich. So schnell würde ich mich nicht geschlagen geben. „Und wie geht es dir wirklich?" Dass ich ihm seine erste Antwort nicht abkaufte, nahm Liam kommentarlos hin. Anstatt mir aber meine Frage einfach zu beantworten, sagte er: „Das kommt drauf an." - „Worauf?" - „Wie geht es dir?" Ich schüttelte den Kopf, wohlwissend, dass Liam das nicht sehen konnte. Natürlich könnte ich weiter darauf bestehen, dass er mir meine Frage vernünftig beantwortete, aber so wie ich Liam kannte, würde das zu nichts führen. Also entschied ich mich dazu, sein Spiel mitzuspielen.

„Gut."

„Hm."

„Und jetzt du.", forderte ich.

„Besser."

„Besser als...?"

„Besser als vor zwei Minuten."

„Aber nicht gut."

Schweigen.

„Nein, nicht gut."

Obwohl ich das bereits gewusst hatte, tat es weh, es von Liam ausgesprochen zu hören. „Möchtest du darüber reden? Eigenlob stinkt, ich weiß, aber ich glaube, dass ich eine ganz passable Zuhörerin bin." - „Die Beste.", war alles, was Liam entgegnete. Als ich schwieg, fuhr er kurz darauf fort: „Deswegen habe ich nicht angerufen. Ich möchte dir nicht zur Last fallen. Ich wollte nur sicher gehen, dass es dir gut geht." Obwohl ich mir ernsthafte Sorgen machte, musste ich die Augen verdrehen. „Tut es, das haben wir doch jetzt geklärt. Außerdem fällst du mir nicht zur Last. Bitte sag mir, wieso es dir nicht gut geht."

„Ich kann nicht mehr, Mia. Ich kann einfach nicht mehr."

„Was kannst du nicht mehr?" Ich versuchte mit aller Kraft, meine Stimme vom Zittern abzuhalten.

„Alles. Ich weiß nicht, wie es weiter gehen soll."

Wäre es hell und hätte ich einen Spiegel, könnte ich nun beobachten, wie die senkrechte Falte auf meiner Stirn Immer tiefer wurde. „Kannst du das irgendwie konkretisieren?" Ich wollte ihm helfen, beruhigende Worte finden, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon Liam sprach.

„Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Die Sache mit dir... die Sache mit Zayn... er ist raus. Endgültig. Dann gab es Probleme zwischen Harry und mir... und durch all das hindurch musste ich funktionieren. Aber ich kann nicht mehr. Ich habe das Gefühl, dass ich... dass ich mich selbst verliere."

Ein riesiger Brocken Schuldbewusstsein stürzte auf mich herab. Wie egoistisch konnte man sein? Warum hatte ich angenommen, dass es Liam ausschließlich meinetwegen nicht gut ging? In seinem Leben schien gerade einiges alles andere als glatt zu laufen. Es ging ihm richtig schlecht, das stand außer Frage.

„Du brauchst eine Pause.", stellte ich fest. „Ihr alle braucht eine Pause. Ihr könnte nicht einfach so weitermachen, wessen bescheuerte Idee war das? Ihr könnt es nicht immer allen Recht machen. Ihr seid auch nur Menschen." - „So einfach ist das nicht. Die Fans wissen doch noch nichts von Zayn. Allein das wird eine Katastrophe. Und wenn wir dann nicht-" - „Nein, Liam", unterbrach ich ihn, „hör auf. Natürlich wird für viele eine Welt zusammen brechen. Aber für euch ist auch etwas zerbrochen. Jeder wird Verständnis haben, wenn ihr euch für eine Weile zurück zieht."

Liam antwortete nicht. Er musste einfach einsehen, dass ich Recht hatte. Nicht hatte etwas davon, wenn er und die anderen Jungs sich kaputt machten, nur um niemanden zu enttäuschen.

„Bitte versprich mir, dass du mit den anderen redest. Bevor ihr alle durchdreht und aufeinander losgeht."

„Auf Harry bin ich schon losgegangen."

„WAS?" Ich musste mich verhört haben. Liam? Harry?

„Ist eine lange Geschichte."

„Erzähl sie mir. Bitte."

Liam seufzte. „Es ist spät. Ich sollte dich schlafen lassen." - „Kommt gar nicht in Frage.", widersprach ich. „Was soll das heißen, du bist auf ihn losgegangen? Habt ihr euch geprügelt?" - „Fast."

Und dann erzählte er mir die ganze Geschichte. Wieder machte sich Schuldbewusstsein in mir breit. Liam und Harry hätten sich meinetwegen fast geprügelt.

„Tut mir leid, dass ich nicht mit dir reden wollte. Mir ging es in der Situation nicht gut und ich wollte nicht, dass du dir noch mehr Vorwürfe machst." - „Es ist dein gutes Recht, nicht mit mir reden zu wollen. Danke übrigens." - „Wofür?" - „Dafür, dass du jetzt mit mir redest."

Für einen kurzen Moment schwiegen wir beide.

„Liam?"

„Ja?"

„Versprichst du mir, dass du mit den anderen redest? Und dass ihr einfach nur an euch selbst denkt? Wenigstens dieses eine Mal?"

„Ich verspreche es dir."

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt