Risse

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LIAMS SICHT

Ein weiterer Tag im Studio, ein weiterer Tag an dem wir so tun mussten, als sei alles in bester Ordnung. Aber das war es nicht. Der Riss war nicht nur zu sehen, er war vor allem zu spüren. Zayn würde nicht zurückkommen. Seine Entscheidung stand fest und auch wenn auf vertraglicher Ebene noch einiges zu klären war, mussten wir uns damit abfinden von nun an nur noch zu viert Musik zu machen. Die Fans hatten keine Ahnung. Oder vielleicht ahnten manche etwas, doch offiziell war die Neuigkeit noch nicht. Wir alle waren nicht gewappnet für die Welle an Aufmerksamkeit, Spekulationen und Trauer, die uns erwartete, sobald die Wahrheit publik gemacht wurde. Zwischen Zayn und Louis herrschte komplette Funkstille, vermutlich weil die Freundschaft zwischen den beiden am engsten war. Harry und Niall versuchten positiv nach vorne zu blicken und steckten all ihre Energie in das neue Album, das noch in den Startlöchern stand. Als Zayn vor einigen Monaten hatte durchblicken lassen, dass er nicht mehr weiter machen konnte, dass er seine Zukunft nicht in unsere Band sah, war mein Verständnis gering gewesen. Doch obwohl seine Gründe für den Ausstieg für mich nicht nachzuempfinden waren, beneidete ich ihn nun. Er konnte sein Leben von nun an gestalten wie immer er wollte. Er war frei. Wenn er wollte, könnte er für einige Monate untertauchen. Von der Bildfläche verschwinden. Ein tatsächliches Privatleben haben. Der Neid war groß, aber ich konnte Zayn nicht folgen. Denn noch größer als der Neid war die Verbundenheit zu Harry, Louis und Niall. Wir mussten zusammenhalten. Das einzige, was mehr wog als die Freundschaft zu den dreien war die Liebe zu Mia. Doch Mia war nicht mehr Teil meines Lebens. Zumindest versuchte ich mir das einzureden. Wie sehr sie immer noch in meinem Herzen und jeder anderen Faser meines Körpers verankert war, versuchte ich auszublenden. Ich musste funktionieren, für unsere Band, mehr zählte momentan nicht.

Harrys Wagen stand schon vor der Tür, was mich kurz zögern ließ. Seit dem Tag, an dem Mia mich verlassen hatte, war die Situation zwischen Harry und mir angespannt. Ich wusste, dass ihn keine Schuld traf. Dennoch konnte ich den Gedanken nicht abschütteln, wie anders alles hätte laufen können, wenn Harry mich an dem Tag nicht ins Studio geholt hätte. Harry fühlte sich schuldig und es war nicht fair, ihm dieses Gefühl nicht zu nehmen. Aber ich war noch nicht so weit. Ich konnte der Wahrheit noch nichts ins Auge blicken. Für seine Geduld war ich ihm unendlich dankbar und ich konnte nur hoffen, dass er das insgeheim wusste.

Seufzend stieß ich die Tür zum Studio auf. Lange würden wir bestimmt nicht alleine bleiben. Der Aufnahmeraum war leer, doch aus der kleinen Küche drangen Stimmen. Erleichtert ging ich auf die Tür zu. Also waren wir doch nicht nur zu zweit. Doch als meine Hand bereits auf dem Türknauf lag, wurde mir bewusst, dass ich nur eine Stimme hörte. Harry schien zu telefonieren. Auch nicht schlecht, so waren wir nicht zum Gespräch gezwungen. Ohne anzuklopfen betrat ich den Raum.

„Bist du dir sicher?", fragte Harry seinen Gesprächspartner in diesem Moment. Er hatte mir den Rücken zugedreht. „Tut mir wirklich leid, Mia. Das wollte ich nicht."

Die Tür knallte lautstark hinter mir zu, Harry drehte sich zu mir um und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Ich hielt die Luft an, während sich in meinem Kopf alles zu drehen begann. In der Küche gab es keinen Spiegel, aber Harrys Blick verriet, dass ich alles andere als begeistert aussah. „Warte bitte kurz, ich ruf dich gleich zurück.", sagte er tonlos in sein Handy, ohne den Blick von mir abzuwenden. Kommentarlos streckte ich die Hand aus. Harrys Augen folgten der Geste und nun mischte sich Verwunderung in seinen Blick. „Bleib kurz dran.", sagte er nun und ließ das Handy dann sinken. „Was hast du vor?", fragte er mich leise, so dass Mia ihn unmöglich verstehen konnte. Ich sagte kein Wort und ließ meine ausgestreckte Hand nicht sinken. Es war schwierig, einen klaren Gedanken zu fassen, ich wusste einfach nur, dass ich mit Mia sprechen musste. All die Überwindung die es mich gekostet hatte, in den letzten Wochen keinen Kontakt zu ihr aufzunehmen, war in diesem Moment vergessen. Das Handy mit Mia am anderen Ende der Leitung war nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich musste ihre Stimme hören. Ich musste wissen, dass es ihr gut ging.

„Das ist kein guter Zeitpunkt." Harrys Stimme zitterte nun leicht, als hätte er Angst vor irgendetwas. Ganz langsam verbanden sich die einzelnen Punkte in meinem Kopf. Er hatte sich bei Mia entschuldigt. Er hatte irgendetwas getan, wofür er sich bei ihr entschuldigen musste. „Gib mir das Handy. Jetzt." Es waren die ersten Worte, die seit meiner Ankunft meinen Mund verließen und sie waren überraschend fest. Irgendetwas an meinem Tonfall oder meinem Gesichtsausdruck schien Harrys Widerstand zu brechen. Langsam hob er das Handy wieder an sein Ohr. „Mia? Liam ist hier." Ich konnte nicht ausmachen, ob und was am anderen Ende gesprochen wurde. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte Harry: „Nein. Er möchte mit dir reden." Jetzt lag alles in Mias Hand. Entweder sie willigte ein, dann würde ich in wenigen Sekunden ihre Stimme hören. Oder aber sie sagte nein. Wie ich damit umgehen würde, wusste ich nicht. „Ja, vermutlich.", entgegnete Harry und runzelte die Stirn. Es machte mich fast verrückt, nicht zu wissen was Mia sagte. Warum telefonierte sie überhaupt mit Harry? War es das erste Mal oder sprachen die beiden regelmäßig miteinander? Wer hatte wen angerufen? Ich musste wissen, was hier lief.

„Das lass mal meine Sorge sein." Harrys Gesichtsausdruck war unmöglich zu deuten. Leise sagte er: „Bis bald.", dann ließ er das Handy sinken und sein Daumen berührte den roten Hörer. Ich konnte nicht klar denken. Wutentbrannt stürzte ich mich auf Harry und drängte ihn an die Wand. „Was zur Hölle sollte das?" Meine Stimme war lauter als geplant und um einiges aggressiver. Ich hatte erwartet, dass Harry ruhig bleiben würde, aber stattdessen stieß er mich mit aller Kraft von sich, sodass ich ein paar Schritte zurück taumelte. „Sie wollte nicht mit dir sprechen, Liam." - „Wieso hast du mit ihr gesprochen? Mia geht dich nichts an." Noch immer sprach ich viel zu laut für den kleinen Raum in dem wir uns befanden. „Ich darf sprechen mit wem ich will. Mia ist nicht nur dir wichtig, okay?" Auch Harry wurde jetzt lauter. Etwas, das nicht sehr häufig vorkam. Mit langsamen Schritten ging ich wieder auf ihn zu. „Achja? Ich darf keinen Kontakt zu ihr haben, aber du schon? Was soll der Mist, Harry?" - „Das kannst du nicht vergleichen." Nur noch wenige Zentimeter befanden sich zwischen uns. „Worüber habt ihr gesprochen? Wofür hast du dich entschuldigt?" Mit fest zusammengepressten Lippen schüttelte Harry den Kopf. „Das geht dich nichts an." Fünf Worte, die das Fass zum Überlaufen brachten. Erneut knallte Harry gegen die Wand. Meine Faust schnellte durch die Luft. Doch sie erreichte Harrys Gesicht nie. Ein Arm schlang sich um meine Brust und jemand zerrte mich in die entgegengesetzte Richtung. Gleichzeitig schob sich eine Person zwischen Harry und mich und breitete die Arme zwischen uns aus. „Geh da weg, Niall.", zischte ich. „Und du, Louis, lass mich sofort los." Keiner von beiden hörte auf mich. Stattdessen schoben und zogen sie mich nun mit vereinten Kräften zu einem der Stühle, die um den winzigen Küchentisch herum standen. „Ich glaube wir sollten reden.", sagte Niall, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte abwartend zwischen Harry und mir hin und her. „Freiwillige vor."

Don't let me go..Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt