Kapitel 4 - Aus Hund wird Wolf

423 31 25
                                    

Schweißgebadet wache ich auf. Jesper hat mich mal wieder gezwungen ein Horrorfilm mit ihm zu schauen. Er hat mich damit überzeugt, dass es sich um einen richtig guten Film mit Fantasiewesen handelte. Am Ende wurden alle Protagonisten von irgendwelchen Kreaturen aufgefressen. Und nachts suchten diese widerlichen Wesen mit ihren Klauen und den langen Zähnen meine Träume auf.

Mein Zimmer ist noch komplett leer. Ich kam noch nicht dazu die Kartons auszuräumen. Das einzige was bereits steht, ist mein Bett, der Rest ist noch fein säuberlich eingepackt. Ich lasse mein Blick über die weiße Decke über mir gleiten. Eine neue Stadt, ein neuer Anfang. Ich will neu anfangen und über meinen Schatten, der ein schüchternes Mädchen widerspiegelt, springen.

Die erste Schulwoche habe ich bereits ohne Komplikationen geschafft. Ich bin zum Theaterklub gegangen und habe mich den Leuten dort vorgestellt. Doch alle haben bereits ihre Rollen und Texte und so blieb ich wie immer im Hintergrund. Ich darf die Kulisse gestalten und Souffleuse spielen. Scott hat mich weiterhin sicher durch die Schule geführt und mich vor allem von dem unbekannten Jungen aus meinem Mathekurs ferngehalten.

Nach langen und ausgiebigen Beobachtungen während der Mittagspause, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass dieser Kerl ziemlich beliebt ist. Und irgendwie scheint er immer und überall zu sein. Seine grauen stechenden Augen. Ich kann auf nichts anderes achten, geschweige denn an etwas anderes denken.

Und das erste was ich mir für den heutigen Wochenendtag vornahm, ist etwas was ich nie von mir gedacht habe. Ich will joggen gehen. Ja, joggen in einer Sporthose mit richtigen Sportschuhen. Motiviert schlage ich die Decke weg und stehe auf. Dem Blick aus dem Fenster nach muss es ungefähr acht Uhr in der Früh sein und eigentlich keine Aufstehzeit für mich.

Ich gehe fest davon aus, dass ich die erste bin, die heute ihren Hintern nach unten ins Erdgeschoss bewegt. Aber meine Mutter ist bereits dabei das Familienfrühstück vorzubereiten und Paps sitzt bereits am Tisch und ließt die Bloomfield Time.

Ernsthaft, diese kleine, dennoch dicht bevölkerte Stadt, hat eine eigene Zeitung. "Na Paps, steht etwas über den neuen Busch im Stadtzentrum in der Zeitung?", begrüße ich meine Eltern und gebe meinem Vater ein Kuss auf die Wange, während ich einen Blick über seine Schulter werfe.

Auf der aufgeschlagenen Seite blickt mich eine Frau mittleren Alters an. Sie trägt ein richtiges Business Outfit und sieht dabei sogar noch ziemlich hübsch aus. Am schönsten finde ich ihre langen braunen Locken, die ihr bis unter den Busen reichen und ihr sehr hellen Augen unterstreichen. Unter dem Bild in dicker schwarzer Schrift steht: Bürgermeisterin Cooper kündigt neues Projekt an. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Man ist die jung. Was will so eine junge hübsche Frau als Bürgermeisterin einer so kleinen Stadt. "Was hast du denn vor, Schätzchen?", fragt mich meine Mutter und beäugt mein Outfit kritisch.

"Na was wohl? Mit einer Jogginghose schmeißt man sich aufs Sofa und guckt fernsehen nicht wahr, Mum?" Ich lächele gespielt.

"Manchmal weiß ich nicht, wo deine Erziehung geblieben ist", sagt sie in ihrer kindlichen Stimme und wedelt mit dem Kochlöffel. "Deine ironische Art kann ich nicht einschätzen, Gracy."

"Musst du auch nicht, Mum. Ich gehe natürlich laufen", sage ich und nicke selbstsicher.

Mein Vater blickt von der Zeitung auf. "Du willst Sport machen?" Er lacht und sorgt dafür, dass ich schmolle.

"Ja. Ich muss doch irgendwie diesen Ort hier erkunden!" Meine Eltern sehen sich an und lächeln zufrieden. Ja, ihr habt das bekommen, was ihr erwartet habt. Das eure Kinder in einer kleineren Stadt viel mehr aufblühen als in einer großen.

Ich setze meinen Fuß aus der Haustür und atme die frische Morgenluft ein. Über Nacht hat es geregnet und von den Bäumen fallen noch vereinzelt dicke Tropfen. Doch heute Morgen scheint bereits die Sonne und beschenkt die Natur mit ihrem Licht. Ich laufe los und bereute bereits nach den ersten Schritten, dass ich überhaupt auf die dämliche Idee gekommen bin Sport zu machen.

In einem recht angenehmen Tempo laufe ich an dem Haus vorbei in dem Scott wohnt. Er winkt mir aus dem Küchenfenster und grinst mich bescheuert an. Damit wird er mich sicherlich am Montag aufziehen. Die anderen Häuser sind genau so unscheinbar wie jedes andere. Unsere Straße endet und ich biege auf einen ungepflasterten Weg ab. In der Ferne kann ich Kirchenglocken hören und das Gestrüpp um mich herum wird dichter.

Ich muss mein Tempo etwas drosseln, während ich weiter den Weg lang laufe. Meine Atmung geht bereits schwerer und Schweißperlen laufen über meine Stirn. Ein Tor taucht vor mir auf. Nirgends steht, dass es sich hier um ein Privatgrundstück handelt, also drücke ich kurzerhand die Klinke runter und laufe weiter hindurch. Ich kneife meine Augen zusammen und sehe lauter Grabsteine. Das Gestrüpp wird weniger und ich stehe auf einem Friedhof.

Die Bilder von dem Horrorfilm schießen plötzlich in meinen Kopf und der Friedhof kommt mir gruseliger vor als er es eigentlich ist. Wolken schieben sich vor die Sonne und verdunkeln alles um mich herum. Wind kommt auf. Muss das jetzt sein? Ich gehe langsam weiter, meine Beine schlottern vor Anstrengung.

Irgendwas bellt oder heult in meiner Nähe und ich drehe mich erschrocken um. Tatsächlich streut dort ein Hund, oh Gott nein. Was wenn es ein Wolf ist? In dem Film waren die Kreaturen auch irgendwelche Wölfe mit ihren Krallen und Zähnen. Und auch wenn es ein Hund ist, könnte dieser hier ein bissiger Hund sein. Wie er die Zähne fletscht und langsam auf mich zukommt. Bin ich gerade seine Beute? Ich stolpere rückwärts über einen kleinen Grabstein.

Mit einem Satz lande ich auf meinem Rücken und stoße mir dem Kopf an irgendeiner dämlichen Engelsstatue.

"Hau ab!", schreie ich dem Wolf, Hund, was auch immer entgegen und reibe mir meinen Kopf.

"Ich hab keine Angst vor dir du dämliches, bissiges Vieh!" Langsam rappele ich mich auf. Der Wolf starrt mich weiterhin an. Inzwischen bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass es sich um ein Wolf handeln muss. Ein freilaufender Hund ohne Halsband - Fehlanzeige. Und so groß wie das Ding ist, muss es ein Wolf sein.

Ein Pfeifen ertönt und dieses riesige Tier bewegt sich von mir Weg. Aus den Bäumen tritt ein Mädchen mit einer Leine in der Hand. Also doch Hund.

Etwas VerträumtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt