Kapitel 17 - Du solltest weinen

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"Ich möchte meinen Vater sehen", sagt Scott mit einem Befehlston in der Stimme. Ich kann keine Trauer in seinem Gesichtsausdruck sehen, keine einzige Träne fließt seine Wange hinunter.

"Das geht leider nicht, Junge", sagt der Polizist stumpf und wendet sich ab. Der andere wendet sich fast synchron mit ihm um. Grob rempelt Scott einen von ihnen an, doch sie ziehen nicht ihre Waffen.

"Wer sagt das?", fragt mein Cousin gereizt. Ich sehe, dass er am liebsten auf die Polizisten losgehen möchte. Die Polizisten warten kurz mit ihrer Antwort.

"Sie sind nicht befugt." Beide gehen auf ihren Polizeiwagen zu, doch Scott versperrt ihnen den Weg. Seine Muskeln sind vor Wut angespannt. So reagiert mein Cousin also auf Trauer. Anstatt zu weinen, macht er andere dafür verantwortlich. Ich gehe zu meiner Tante und lege meinen Arm um ihre Schultern, während ich weiter das Szenario im Vorgarten beobachte.

"Wenn Sie mir nicht auf der Stelle sagen, wo mein Vater ist und wieso ich ihn nicht sehen darf, dann wird es Konsequenzen geben!", knurrt Scott und baut sich vor den beiden Polizisten auf. Oh Gott, was wenn Scott wegen Widerstand gegen Beamte festgenommen und weggesperrt wird?

"Ihr Vater ist bereits auf dem Weg in die Pathologie. Dort haben Unbefugte kein Zutritt. Es tut uns sehr leid", gibt einer der Polizisten monoton die Information. Sie machen einen Bogen um Scott, dessen Gesicht ein unnatürliches Rot angenommen hat. Die Polizisten fahren davon. Scott steht immer noch dort. Inzwischen sehe ich, dass seine Augen feucht geworden sind. Er versucht sie weg zu atmen, sein Brustkorb hebt und senkt sich stetig. Scott schließt die Augen, entspannt seine Fäuste und kommt dann bedrohlich und selbstsicher auf mich zu. Verwirrt über die Situation stehe ich wie erstarrt da. Scotts Mutter steht auf und sieht ihrem Sohn entgegen.

"Hilfst du mir Grace?", fragt Scott mich. Sein Blick lässt kein nein zu. Also nicke ich, obwohl ich gar nicht weiß worum es geht. Mein Onkel ist tot. Ein Familienmitglied ist tot. Ich fühle mich schlecht, weil ich nicht weinen kann, aber ich kannte diesen Mann kaum.

Scott umarmt seine Mutter, die in seine Schulter schluchzt. "Was ist hier los, mein Junge?", wimmert sie und versucht sich ihre fließenden Tränen abzuwischen. In Scotts Blick sehe ich, dass er nicht an den wahren Grund von dem Tod seines Vater glaubt. Es muss da etwas anderes geben. Er verabschiedet sich von seiner Mutter und wir gehen auf die Straße.

"Was hast du vor, Scott?", frage ich ihn und versuche mit seinen energischen Schritten mit zu halten.

"Erkläre ich dir gleich", sagt er knapp, "wir müssen deinen Bruder noch holen und Annabelle."

"Was hat Annabelle damit zu tun? Scott, dein Dad ist", ich halte kurz inne, "er ist tot. Du solltest weinen und um ihn trauern und nicht, keine Ahnung, irgendwelchen Gespenstern hinter her jagen."

Scott bleibt abrupt stehen. Langsam wendet er sich zu mir nach hinten. Er holt tief Luft und will etwas sagen, doch er kann es nicht. Ich weiß, dass er mich anschreien will und ich ihm glauben soll, aber ihm fehlt die Kraft. Eine einzelne Träne rollt dem Hitzkopf über die Wange. Mir fällt nichts anderes ein, als ihn in den Arm zu nehmen. Einige Minuten stehen wir so da. Ich fasse einen Entschluss, ja ich glaube ihm nicht. Es gibt keine übernatürlichen Wesen und mein Onkel ist von der Leiter gestürzt. Aber wenn Scott unbedingt eine Bestätigung braucht um seine Seele ruhen zu lassen, dann helfe ich ihm halt.

"Komm", murmele ich zu ihm und wähle die Nummer von Annabelle. Ich spreche mit ihr ab, dass wir sie in fünf Minuten abholen werden. Annabelle fragt nicht, was los ist. Scott würde jetzt sagen: Wahrscheinlich weiß sie es schon längst. Er ist immer noch davon überzeugt, sie sei eine Art Medium. Jemand der Visionen hat und sie dann aufschreibt oder aufmalt. Für mich ist das Quatscht. Meine Freundin hat einfach nur eine sehr ausgeprägte Fantasie, genau so wie Scott. Wir klopfen an unserer Tür und meine Mutter öffnet sie. Ich sehe, dass sie ebenfalls geweint haben muss. Ihre Augenringe sind grau und das leichte Mascara verwischt.

"Ist Jesper da?", frage ich leise. Auch meine Mutter fragt nicht, was wir vorhaben. Und mal wieder fühle ich mich als diejenige, die gar nichts weiß. Die Einzige, die überhaupt etwas hinterfragt. Jesper kommt aus dem Wohnzimmer und schiebt unsere Mutter sanft von der Tür weg.

"Geh zu Dad", raunt er ihr zu und nimmt seine Jacke und Schuhe. Fertig angekleidet folgt er uns nach Draußen.

"Mein Beileid, Scott. Dein Vater war ein guter Mann", murmelt Jesper und klopft unserem Cousin brüderlich auf die Schulter. Wir setzen uns in den Wagen von Scotts Familie, ein kleiner Golf.

Schweigend fahren wir bis zu Annabelles Haus, vor dem die kleine Rothaarige bereits wartet. Annabelle steigt mit ins Auto und sieht mich an, dann sieht sie zu Scott und gibt ihm ein Blatt Papier. Scott nimmt es mit zitternden Händen entgegen und schaut es an. Mit der flachen Hand schlägt er aufs Lenkrad und brüllt auf. Tränen laufen über seine Wange und er lässt seinen Körper gegen seinen Sitz knallen.

"Jesper", raune ich und sehe meinen Bruder an. "Tu doch etwas!"

Mein Bruder legt eine Hand auf Scotts Schulter. "Wir finden heraus was geschehen ist. Das verspreche ich dir. Ich schwöre es dir auf mein schlagendes Herz, bis zum bitteren Ende oder dem vergönnten Anfang." Es klingt so, als zitiert mein Bruder etwas. Doch ich erkenne trotz meiner super Filmkenntnisse nicht woher. Annabelle senkt den Blick.

Scott holt ein Mal tief Luft und sieht dann mit seinen rot geschwollenen Augen zu uns. "Wenn die Polizisten in einem recht gehabt haben, dann darin, dass mein Vater in der Pathologie gelagert wird. Ich vermute im nächsten Ort im Krankenhaus", erklärt er mit zitternder Stimme. Mein Bruder nickt.

"Ich bin dabei", sagt er und sieht dann zu mir und Annabelle. Anny nickt zu meiner Überraschung ebenfalls.

"Meine Familie hat dir versprochen, euch zu helfen", flüstert sie. Ich runzele die Stirn, was soll diese Bemerkung schon wieder?

"Ihr seid mir eine Erklärung schuldig, Leute", fordere ich und beuge mich nach vorne. Das Auto setzt sich in Gang.

"Bald Gracy, bald", antwortet mein Bruder leise. Ich schüttele den Kopf und sehe aus dem Fenster. Wir fahren an dem bunten Bloomfield-Schild vorbei und ich sehe eine Gestalt dahinter stehen. Kurz glaube ich, dass es Adam ist, aber ich verwerfe den Gedanken wieder. Nur weil Adam überall in meinen Gedanken ist, heißt es nicht, dass er auch jeder Schatten oder Baum sein muss, den ich sehe.

"Also fahren wir jetzt ins Krankenhaus, marschieren mal eben so in die Pathologie um 23 Uhr Abends und suchen den Leichnam von meinem Onkel", murmele ich und schüttele den Kopf. Was gebe ich da wirres Zeug von mir? Was haben wir da nur vor?

Nach ungefähr 30 Minuten Fahrt über eine dunkle Landstraße, fahren wir in einen Ort hinein. Es muss ein etwas größeres Städtchen als Bloomfield sein. Scott steuert den Wagen auf einen mittelgroßen Parkplatz. Das Krankenhaus baut sich vor uns auf.

Und diese verdammte Mission beginnt.

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