Kapitel 16 - Purer Wahnsinn

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"Ich werde dich hier nicht alleine lassen", zische ich Scott zu und greife seinen Ärmel. "Wenn das wirklich gefährliche Typen sind, dann lass uns zusammen abhauen!"

"Nein, Grace. Lauf jetzt!", sagt er in einem so harten Befehlston, dass ich meine Beine in die Hand nehme und in die entgegengesetzte Richtung in die wir eigentlich wollten losrenne.

Meine Schritten hallen auf dem nassen Asphalt wieder. Das Einzige was ich höre ist mein Atem, der bei jedem Atemzug stoßweise aus meinem Mund entweicht. Das Einzige was ich spüre ist mein klopfendes Herz. Ich renne. Noch nie bin ich so schnell gerannt. Die funkelnden Sterne ziehen über mir vorbei, erhellen mir den Weg. Der Wind ist eisig kalt und hindert mich daran richtig Luft zu holen.

Leichtes Seitenstechen macht sich in meinem Oberkörper bemerkbar. Meine Schritte werden immer schwerer, mein Keuchen immer lauter.

Sind sie noch da?

Ich versuche mich umzudrehen, doch die Dunkelheit versperrt mir die Sicht auf das was uns den Weg versperrt hat. Die Laternen sind unnütz mit ihren kleinen flimmernden Lichtern, sie bringen nichts, erhellen nur einen kleinen Punkt um sich herum.

Ich tat das, was man mir geraten hat. Laufen, einfach nur laufen.

Die Straße nimmt kein Ende, meine Ausdauer jedoch schon. Ich weiß nicht was ich tun soll, während meine Glieder immer schwerer werden.

Was wenn er mit all den Behauptungen recht gehabt hat?

Tränen rollen meine Wangen hinunter. Die Dunkelheit empfängt und umhüllt mich, die eisige Kälte legt ihren Schleier über meine Haut. Gedanken schießen in meinen Kopf. Nie habe ich ihm geglaubt. Erinnerungen kommen hoch. Damals auf dem Schulhof hab ich ihm versichert, dass er spinnt. Jedes einzelne Wort hallt in meinem Kopf wieder.

Unter einer Laterne bleibe ich stehen, lehne mich an sie und atme tief durch. Ich höre von hinten langsame Schritte nahen und bin mir fast sicher, dass Scott mir doch gefolgt ist. "Alles ok bei dir, Scott?", frage ich und wende mich zu den Schritten um. Doch derjenige, der mir gegenüber steht, ist nicht blond.

Es ist einer der Zwillinge, der näher kommt und mich lasziv von oben nach unten beäugt.

"Adam", seufze ich.

"Ja, das bin ich in der Tat, Grace." Meinen Namen betont er besonders. Adam sieht mich an und kommt näher. "Was machst du hier so mitten in der Nacht alleine?"

"Ersten: Es ist abends und zweitens, bin ich gerade auf dem Weg nach Hause." Seine gespielte Besorgnis gefällt mir, aber ich rufe mir in den Kopf, dass ich mich doch für den anderen Bruder entscheiden wollte.

"Ist es zu dir nach Hause nicht genau in die Richtung aus der du gekommen bist?", fragt er mit hochgezogener Augenbraue. Als er ins Licht tritt, sehe ich, dass seine Augen bei meinem Anblick brennen. Ich bin froh, dass ich mir bei Annabelle schnell das Gesicht gewaschen habe, bevor wir gegangen sind. Ich zucke mit den Schultern und sehe weg.

"Da waren irgendwelche Schlägertypen oder so. Scott hat gesagt ich  soll wegrennen, also habe ich es gemacht." Adam lacht lauthals auf.

"Scott wollte sich alleine gegen eine Mehrzahl an Schlägertypen stellen? Na der nimmt sich aber was heraus." Sein Lachen verklingt und seine Stimme wird etwas dunkler: "Das heißt, er wird sicherlich ein wenig mehr Zeit brauchen."

Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Ich gehe einen Schritt rückwärts und spüre bereits die Laterne in meinem Rücken. Adam kommt immer näher auf mich zu, sein gieriger Blick mustert mich, als könne er in meine Seele blicken. Dieser Kerl ist einfach nur purer Wahnsinn.

Halt stop, Grace. Ruf dir Alex ins Gedächtnis. Er ist viel liebervoller als...

"Adam", hauche ich, als er mich gegen die Laterne drückt. Kein Abstand mehr zwischen uns, nur noch die Kleidung.

"Scott sollte dich wirklich besser beschützen, Gracy", knurrt er und spielt mit einer schwitzigen Strähne meines Haars und fährt mit den Fingerspitzen über den Schorf auf meinem Kinn. Er atmet mit einem tiefen Zug ein und sieht mich an. Ich weiß, dass er mich gleich küssen wird.

"Ich gehe mit deinem Bruder aus", stottere ich, kann jedoch nicht den Blick von ihm lassen.  Er lächelt verschmitzt, fast schon liebevoll.

"Alex muss es nicht erfahren", murmelt er. "Keiner muss irgendwas erfahren."

Sein Gesicht nähert sich meinem und der vertraute Geruch steigt in meine Nase. Ich muss lächeln und da wird es mir klar. Alex wird nie derjenige sein, den ich lieben werde.

Ich bin bereits verliebt.

Bevor ich etwas erwidern kann, legt Adam seine sanften Lippen auf meine. Sie verschließen sich miteinander, als wären sie dafür bestimmt aufeinander gepresst zu sein. Seine Lippen sind zart und weich und ergänzen sich perfekt mit meinen.

Als ich die Augen wieder aufmache, stehe ich alleine da. Adam ist wie vom Erdboden verschluckt. Wie kriegen die beiden Zwillinge das nur immer hin so schnell irgendwo aufzutauchen? Sie sind doch nicht wirklich?

Ich verwerfe den Gedanken sofort und lache über meine eigene Naivität. Von wegen.

Langsamen Schrittes mache ich mich zurück nach Hause. Scott ist nirgends zu sehen und als ich zu Hause ankomme, ist auch dort keiner mehr wach. Also nehme ich mein Handy und schreibe Scott kurzerhand eine Sms, ob alles in Ordnung ist. Er antwortet schnell zurück, dass er mich morgen früh erwartet. Ich lege mich beruhigt ins Bett und schließe die Augen. Doch anstatt einen klaren Gedanken fassen zu können, schmerzt mein gesamter Körper. Ich sollte wirklich mehr Sport machen und mehr auf mich Acht geben. Dieser Sturz war ja mal aller größter Bockmist.


Am nächsten Morgen, meine Wunden frisch versorgt, stehe ich mit einem Kaffee in der Hand in der Küche von Scotts Familie und schaue mit ihm über die neuste Ausgabe der Bloomfield Time. In großer Schrift steht auf der Titelseite: "Leichen gefunden - Eindeutig Suizid", darunter in dünner Schrift: "Bürgermeisterin Cooper und ganz Bloomfield geschockt".

"Von Wegen Suizid", grummelt Scott leise und sieht seine Mutter vielsagend an.

"Geht ihr jetzt wieder auf Geisterjagd?", frage ich sarkastisch und nehme unschuldig einen Schluck von meinem Kaffee. Der bittere Geschmack rinnt meine Kehle runter und hinterlässt ein wohliges, warmes Gefühl. Wieder Mal wirft Scott mir einen vernichtenden Blick zu.

"Jetzt reicht es langsam Mal, Grace", schimpft Scott und haut auf den Tisch. Ehe ich etwas auf seinen Wutausbruch antworten kann, klingelt es an der Tür und Scotts Mutter gibt mit einem Handzeichen bescheid, dass sie hingeht.

Ich lese den Artikel stumm weiter vor mich hin, Scott tut es mir gleich. Die beiden Jungen sollen sich in eine Garage gesetzt haben, mit laufendem Motor. Das ist wirklich abwegig, fast schon zu Oldschool. Ich kann mir das vor allem bei zwei Freunden, wie es im Text steht, nicht vorstellen, dass sie sich gegenseitig umbringen. Männer sind da doch meistens nicht so sensibel und wollen zusammen in den Tod gehen. Für mich ist das plausibelste, dass die beiden sich geliebt haben und Angst hatten, es der Gesellschaft zu offenbaren und so haben sie sich gemeinsam für den Tod entschieden. Ja, dieser Gedanke gefällt mir.

Ein markerschütternder Schrei weckt uns aus unserem Lesefluss. Scott stürmt sofort in den Flur, sein Stuhl fliegt mit einem lauten Knall nach hinten. So schnell ich kann folge ich ihm und sehe seine Mutter auf dem Boden hockend, sie weint und schluchzt. Ihr ganzer Körper zittert.

"Was ist los?", fragt Scott atemlos die beiden Männer, die an der Tür stehen. Das Gesicht meines Cousins hat jegliche Farbe verloren. Erst dann bemerke ich, dass die beiden Männer Polizisten sind. Ihre Miene ist ausdruckslos, als würden sie nichts und niemanden wahrnehmen. Kein Funken Mitgefühl in ihren Augen.

"Ihr Vater ist auf seiner Arbeit von einer Leiter gestürzt und in Folge seiner Verletzungen vor Ort sofort gestorben. Die Rettungskräfte konnten nichts mehr für ihn tun."

Etwas VerträumtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt