Kapitel 19 - Fällt der Groschen?

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Scott taucht wie ein Schatten hinter mir auf. Ich spüre ihn nahe bei mir stehen - seine Anspannung schon von weitem bemerkbar. Seine Finger fahren behutsam über das Schild.

"Hier ist er", murmelt Scott leise und sieht mich unsicher an. Vorsichtig lege ich meinem Cousin eine Hand auf die Schulter mit der ich leicht zudrücke. Wenn ich ihn schon die letzten Wochen nicht unterstützt habe, dann wenigstens jetzt. Er nickt mir dankend zu und sieht dann zu meinem Bruder. Jesper geht zu der Luke und legt die Hand an den Griff.

"Wollt ihr das wirklich machen?", frage ich mit belegter Stimme und verschränke die Arme vor meinem Körper. Um mich herum sind Schränke voll mit Leichen und die beiden Jungs tun so, als wäre überhaupt nichts daran, jetzt die Ruhe eines Toten zu stören. Was auch immer Scott sich, uns, mir damit beweisen will, er geht wirklich sehr weit dafür.

"Ich brauche Gewissheit, Grace." Scott atmet tief ein. "Und du brauchst sie auch."

Jesper zieht mit einem Ruck an der Tür und öffnet sie problemlos. Kälte strömt aus der Öffnung und ich kann ein Stück weiße Folie sehen. Schockiert stolpere ich etwas zurück. Das ist jetzt der beste Moment um sich zu übergeben, aber eine innere Taubheit hat sich in mir ausgebreitet. Angst lauert tief in mir, aber auch der Unglaube darüber, was wir hier gerade veranstalten. Nervosität, weil ich gleich meinen toten Onkel sehen werde. Es ist alles da, aber so tief in mir drin, dass ich es kaum wahrnehme. Jesper und Scott sehen sich an, bevor mein Bruder den Tisch herauszieht, auf dem eine Person mit einer abgedeckten Plane liegt.

Annabelle steckt den Kopf zur Tür herein. Sie sieht mich an und ihre grünen, treuen Augen, die keinerlei Angst zeigen, spenden mir Kraft. "Keiner in Sicht", flüstert sie und geht wieder hinaus. Ich beneide sie für ihren Beobachtungsposten draußen.

Gebannt starre ich auf Scotts Hand, die sich wie in Zeitlupe zum vorderen Teil des Tuches bewegt. Seine Finger wirken länger und zögerlich. Leichtes Zittern zeigt seine Nervosität. Er greift die Plane und atmet hörbar aus. Ich glaube innerlich hofft Scott, dass sein Vater noch lebt und eine andere Person anstatt seiner dort liegt. In meinem Bauch macht sich ein ungutes Gefühl breit, wie eine innere Anspannung, die sich immer und immer mehr aufbaut. Was will Scott sich damit beweisen?

Ich atme ebenfalls ein, die vergangenen Wochen ziehen an mir vorbei. Scott, wie er seine Vampirbücher liest, wie er versucht mich unter allen Umständen zu beschützen, das seltsame Verhalten der Zwillingsbrüder, die Geheimnisse, die meine Familie vor mir verborgen hält, die Bezeichnung Hunter, Annabelles seltsame Zeichnungen über Blut und den Tod, Scotts allgegenwärtige Besessenheit an den Vampiren, Adams fast schon drohende Annäherungsversuche, die seltsam verstorbenen Jungs, Annabelle, das Medium und nun der Tod meines Onkels. Ich habe die Augen davor verschlossen und in meiner Traumwelt gelebt. Der Traum von einer ganz normalen Highschool mit dem heißen Badboy.

Bevor Scott die Plane wegziehen kann, greife ich seine Hand. "Du musst das nicht tun", flüstere ich.

"Doch. Ich muss das tun. Im Gegensatz zu dir, muss ich die Wahrheit wissen", antwortet er sich kühl und wendet sein Blick wieder auf die verschleierte Person vor uns. Das hat gesessen. Im Anbetracht meiner gerade noch erlebten Zweifel, trifft er mitten hinein. Ich trete einen Schritt beiseite.

Annabelle poltert herein und schließt die Tür leise hinter sich. "Da kommt jemand", murmelt sie mit scheckgeweiteten Augen. "Ich habe Schritte gehört und sehr auf mich bedrohlich wirkende Stimmen."

Scott lässt die Plane los und geht mit langen Schritten zur Tür. Er schiebt Annabelle beiseite und öffnet sie einen Spalt breit.

"Grace, Annabelle in die Ecke", befiehlt Scott kühl und deutet auf die Ecke, die von der Tür bedeckt wird. Wenn wir jetzt erwischt werden, dann können wir gleich ins Gefängnis gehen. Einbruch ins Krankenhaus - eine super Überschrift für einen Artikel. Annabelle und ich stellen uns in die Ecke. Alles geschieht unglaublich schnell. Ich sehe meinen Bruder zu Scott hetzen, dann löschen sie das Licht und ich sehe gar nichts mehr. Ein Klicken dringt zu meinem Ohr durch, welches mich an das Entsichern einer Waffe in Actionfilmen erinnert. Eine Waffe? Eine Schusswaffe? Mein Herz klopft schnell, das Atmen fällt mir verdammt schwer.

"Was habt ihr vor?", zische ich atemlos und greife nach dem was ich als Annabelles Hand vermute. Ihre Hand ist verkrampft und sie schwitzt.

"Blut, Tote, Blut, Tote, Blut, Tote." Annabelle flüstert es die ganze Zeit.

Scott und Jesper antworten mir nicht. Die Tür öffnet sich und ich sehe einen Lichtspalt im Raum. "Warte. Riechst du das?", höre ich eine unbekannte Stimme leise sagen. Die Person vor der Tür hält inne. Ich halte die Luft an.

"Bist du bescheuert? Hier sind lauter Leichen, natürlich rieche ich was", keift eine etwas tiefere Stimme die andere an. Die Tür wird aufgestoßen. Licht erhellt nun den Eingang des Raumes. Die Tür versperrt mir die Sicht, aber ich kann blonde Haare sehen, die sich auf eine der Personen schmeißen. Faustschläge werden erteilt. Das Gerangel hat sich nach draußen auf den Flur verlegt. Prügeln die sich jetzt etwa mit jemandem? Was geht hier vor? Ich will etwas hervor treten, aber Annabelle hält mich zurück.

"Blut, Tote, Blut, Tote, Blut Tote", wiederholt sie leise und mit einer zarten, zerbrechlichen Stimme, immer und immer wieder.

"Hör auf", flehe ich sie flüsternd an. Ein Schrei ertönt, ein lauter, markerschütternder Schrei. Jemand kracht gegen den Untersuchungstisch. Jegliche Kraft entweicht aus meinen Beinen, als ich meinen Bruder auf dem Boden liegen sehe. Er hält sich seinen Arm und keucht. Ich reiße mich von Annabelle los und setze bereits meinen ersten Schritt in seine Richtung. Aber Jesper sieht mich an und schüttelt kaum merklich den Kopf. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt und Blut fließt seine Schläfe herunter. Ist es das alles wert? Meine Ohren sind wie in Watte gepackt, Tränen sammeln sich in meinen Augen und ich sehe alles durch einen Schleier. Was geht hier vor? Ich höre Schläge, leises Keuchen, das Gerangel zweier Personen. Jegliche Szenarien bilden sich in meinem Kopf - spritzendes Blut, herausgefallene Zähne.

Ein Schuss reißt mich aus meiner Watte und ich stolpere nach vorne zu meinem Bruder. Ich halte ihn sicher in den Armen und blicke widerwillig zur offenen Tür.

Scott steht dort. Seine Haltung ist die eines Anführers, respekt- und angsteinflößend. Blut klebt an seinen Händen. Rechts hält er ein blutbeflecktes Messer in der Hand und links die Schusswaffe. Ich sehe keine andere Person. Ich sehe niemanden außer Scott mit seinen Waffen in der Hand. "Was geht hier vor, Scott?", entfährt es mir. Tränen nehmen ihren Weg über meine Wange.

Er antwortet mir nicht und macht das Licht in der Leichenhalle an. "Scott, sag mir verdammt noch Mal was hier vor geht", schreie ich und schluchze laut auf.

Wieder antwortet er mir nicht. Jesper stöhnt auf. "Grace, beruhig dich", flüstert er unter Schmerzen und sieht mich mit den Augen an, die ich schon mein ganzes Leben kenne.

"Sagt mir doch endlich was hier vor geht", wimmere ich und stehe auf. Scott jagt mir Angst ein. Seine Kleidung ist voller Blut, seine Hände, diese Waffe, dieser Kampf - ich kann das alles nicht fassen und stürme auf ihn zu. Scott drückt mich beiseite und geht zu der Leiche, die immer nur ruhig da liegt. Ohne zu zögern mit einer Kälte auf dem Gesicht, die ich noch nie in meinem ganzen Leben bei einer Person gesehen habe, zieht er die weiße Plane von der Leiche. Das Gesicht meines Onkels bleicher als die Farbe des Schnees, blickt mir entgegen. Scott zerrt die Plane weiter weg und der ganze Körper ist sichtbar. Ich schwanke, nur eine zarte Hand hinterm mich daran umzukippen. Meine Kehle zieht sich zusammen, unwillkürlich fasse ich an meinen Hals.

"Was tust du da?", hauche ich und sehe Scott an. Er blickt auf seinen Vater und Tränen sammeln sich in seinen Augen. Seine Finger fahren über Stellen an seinem Körper, jeweis immer zwei Punkte an verschiedenen Körperteilen. Am Hals, am Handgelenk, in der Ellenbeuge. Bissspuren? Ich will und kann es nicht glauben. Das alles muss ein Misssverständnis sein. Ein Schauspiel.

Scott sieht mich an. Seine braunen Augen sehen mich an. Eine Träne fließt seine Wange hinunter, aber nicht weil er traurig ist. Nein ich sehe seine Wut.

"Glaubst du mir jetzt, Gracy?"

Etwas VerträumtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt