Kapitel 20 - Zeig es mir

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Stille. Überall nur Stille. Wirre Gedanken prasseln auf mich ein, aber ich bin wie betäubt. Ich weiß nicht was ich tun oder denken soll. Ist dies alles nur ein Traum? Wie in Trance hebe ich meine Hand und sehe sie vor mir. Sie ist verschwommen vor Tränen und vor allem wegen meiner Abgeschlagenheit. Langsam nimmt die Hand Form an. Ich sehe meine fünf Finger, meine angeknabberten Nägel und den restlichen hautfarbenen Nagellack. Es ist alles so, wie es sein soll. Ich fasse mir an den Kopf, streiche sanft über meine Stirn. Die Watte um meinen Kopf fliegt davon; Kopfschmerzen machen sich breit. Was geht hier vor? Krampfhaft schließe ich die Augen. Eins, zwei, drei - ich öffne sie wieder.

Ich sitze im Auto hinter dem Beifahrer, der Scott ist. Neben ihm sitzt mein Bruder, sein blondes Haar ist das einzige, was von den vorbeifahrenden Laternen erleuchtet wird. Und neben mir sitzt die kleine Rothaarige - Annabelle. Ich mustere sie lange, versuche ihr Gemüt zu deuten, aber ihre Miene ist leer. Genau so wie die der anderen. Wir sind alle schockiert. Erschüttert. Hilflos.

Ich will etwas sagen, aber mir fällt nicht ein was und meine Stimme wird sicherlich brechen, sobald ich den Mund aufmache. Also lasse ich es und schaue aus dem Fenster. Es ist tiefste Nacht. Nur der helle Mond mit seinen vielen Sternen hängt am Himmel. Eigentlich eine wunderschöne klare Nacht. Aber für mich ist es die grausamste Nacht meines Lebens.

Langsam fange ich an zu realisieren, was vorgefallen ist. Scott hat mich gewarnt. So oft hat er versucht es mir zu sagen und ich habe ihn nicht ernst genommen. Ich habe ihn ausgelacht, war respektlos ihm gegenüber und hab sein Gesagtes einfach verworfen. Hat er diese Aktion nur gebracht um es mir heimzuzahlen? Warum ausgerechnet wir?

Puzzleteile setzen sich in meinem Kopf zusammen. Die Bezeichnung ‚Hunter' - Jäger. Meine Familie gehört wohl wirklich zu irgendwelchen Geisterjägern; oder eher Vampirjäger. Die Worte von Scott hallen in mir wieder. ‚Die Coopers sind Vampire' - Adam und Alex sind Vampire. Und ich habe es nicht ein Mal gemerkt. Wie auch? Ich dachte, das alles wäre nur pure Fiktion. Es will sich immer noch nicht echt anfühlen. Alles fühlt sich an wie ein schlechter Fantasyroman und ich bin die Protagonistin.

Grob fahre ich mir über meinen Kopf und greife mich an meinen Haaren fest.

„Wieso?", entfährt es mir. Alle Blicke richten sich auf mich - Scott durch den Rückspiegel, Jesper verdreht den Kopf nach hinten zu mir und Annabelle sieht zur Seite.

„Gracy", fängt mein Bruder mit schwacher Stimme an. Sein Blick fällt hilfesuchend auf Scott. Mein Bruder weiß nicht mit mir umzugehen. Der Bruder, der seit über 17 Jahren mit mir unter einem Dach wohnt.

„Ich habe versucht es dir zu erklären, Grace. Aber du bist mit Scheuklappen durch Bloomfield gelaufen. Du hast dir wahrscheinlich schon vorgestellt, wie du mit einem der Vampire zusammen kommst, mit ihm Kinder kriegst. Aber das geht nicht! Ich musste zu sehen, wie du immer weiter in deren Fänge gerätst." Scott krallt sich an seinem Lenkrad fest.

„Aber wie kann das sein?" Alles so irreal! Nicht echt! Scott seufzt.

„In dieser Welt ist alles möglich. Natürlich halten sie sich versteckt. Wir Menschen sind in der Überzahl, also dementsprechend auch die Jäger. Die Hunter sind ein großes Netz aus Vampirjägern...", beginnt Scott, doch ich unterbreche ihn.

„Das will ich alles nicht wissen. Ich will wissen, wie es sein kann... wie es echt sein kann, dass es solche Wesen gibt."

Annabelle legt eine Hand auf meinen Oberschenkel. Keiner kann mir eine Antwort geben.

„Wusstest du von denen?" Ich konnte das Wort nicht aussprechen. Vampire. Nein, es kann keine Vampire geben.

„Ich habe es gesehen. Sobald einer von ihnen in meiner Nähe ist, habe ich es gespürt. Und an dem Abend nach der Party, habe ich gesehen, wie sie die beiden umgebracht haben", murmelt Annabelle. Ihr Blick ist glasig und ich sehe, wie sie sich beherrschen muss, um nicht zu weinen. Sie glaubt es, weil sie es gesehen hat.

Aber ich habe die Bissspuren doch auch gesehen? Warum will es sich einfach nicht echt anfühlen?

Meine Kehle drückt sich von innen zusammen. Ich schnappe nach Luft. Vampire? Mein Onkel wurde umgebracht und sie laufen frei durch Bloomfield. Ein Vampir hat mich angefasst. Adam hat mir beinahe die Zähne in den Hals gerammt und ich fand es auch noch heiß. Wieder schnappe ich nach Luft, aber meine Lungen wollen den kostbaren Sauerstoff nicht aufnehmen. Ich merke nicht, wie ich anfange zu hyperventilieren. Alles verschwimmt vor mir. Ich höre wie Scott auf die Bremsen tritt.

„Grace beruhig dich." Annabelle wedelt hektisch mit der Hand vor meinem Auge rum. Meine Hände umfassen meinen Hals. Luft! Ich öffne die Autotür und stolpere geradewegs auf die Straße hinaus.

Mehrmals hole ich tief Luft. Was soll ich tun? Was ist mit dieser verdammten Welt nur los? Ich laufe los. Meine Beine tragen mich über den Asphalt. Ich höre Annabelle rufen, dann Jesper und zu guter letzt Scott, aber ich laufe. So schnell ich kann, setze ich einen Schritt vor den anderen und nehme keine Rücksicht darauf, dass ein Auto kommen könnte. Als ich Scheinwerferlicht sehe, biege ich in den Wald ab und laufe weiter.

Die kühle Nachtluft schlägt mir entgegen, es fällt mir schwer zu atmen. Doch dieses gedankenlose Laufen fühlt sich befreiend an. Keuchend bleibe ich stehen. Ich sehe die Lichter von Bloomfield vor mir. Der Wind klingt beruhigend in meinen Ohren und die Tannen um mich herum verströmen diesen angenehmen Geruch nach Wald. Langsam laufe ich weiter.

Vampire. Zwei Schritte weiter. Jäger. Noch ein Mal zwei Schritte weiter. Blut. Weiter. Bissspuren. Weiter. Ich schnappe nach Luft. All diese Empfindungen sind nicht zu verstehen. Das kann nicht wahr sein. Wie kann das nur wahr sein? Ich muss einen Vampiren mit eigenen Augen sehen.

Der Waldboden knirscht unter meinen Füßen. Als ich heraustrete, lächelt der Mond mich an. Vorsichtig schleiche ich durch einen Garten um auf die Straße zu gelangen. Meine Tränen sind inzwischen getrocknet und ich fühle mich nicht mehr ganz so labil, wie vor meiner Laufrunde. Die Villa der Coopers ist nicht mehr weit und ich bin fest entschlossen einen der Brüder zur Rede zu stellen.

"Grace?" Eine wohlbekannte Stimme taucht hinter mir auf. Langsam wende ich mich um.

"Adam", murmele ich ungläubig. Nun wird sich alles klarstellen. Ob alles ein reines Missverständnis ist, vielleicht ein Streich des Mörders.

"Was machst du hier?" Adam tritt näher an mich heran. Im Mondlicht kann ich seinen besorgten Blick sehen.

"Ist es wahr?", frage ich gerade heraus und umschlinge mich mit meinen Armen. Habe ich Angst? Oder ist es die kühle Nachtluft, die mir Gänsehaut bereitet?

"Was genau?"

"Du weißt ganz genau, was ich meine, Adam. Sag es mir", hauche ich und trete ebenfalls näher an ihn heran. Er hat das Tier in sich doch nie vor mir verborgen.

"Ich weiß nicht, ob du das möchtest. Schließ doch lieber wieder deine Augen, Gracy", flüstert er kaum hörbar und hebt die Hand in meine Richtung. Ich schüttele den Kopf und kämpfe gegen die ansteigenden Tränen.

"Sag es mir einfach!", schreie ich und ein Schluchzen überfällt mich.

"Ja, es ist wahr." Adam schluckt schwer. Und will noch näher auf mich zu kommen, aber ich schüttele noch hektischer den Kopf und trete einige Schritte rückwärts. Ich atme tief ein. Mein Gesicht verzieht sich. Ich will es sehen. Ich muss es sehen, um es glauben zu können.

"Zeig es mir", hauche ich. Ungläubig sieht Adam mich an. Seine Miene wechselt zu Unentschlossenheit und nervös kratzt er sich an seinem braunen Haarschopf.

"Zeig es mir, Adam." Adam sieht zum Mond. Sein Gesichtsausdruck zeigt einen Kampf mit sich selbst. Er muss es mir zeigen. Langsam wendet er sein Gesicht in meine Richtung.

Ich stolpere einige Schritte rückwärts.

Es ist wahr.

Etwas VerträumtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt