Kapitel 9 - Eins plus Eins macht Zwei

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Ich blicke zurück und sehe immer noch wie Scott sich mit Alex prügelt. Aber Alex steht vor mir. Mein Blick sagt anscheinend alles und ich brauche wirklich lange um die Schlussfolgerung zu ziehen. Alex hat einen Zwilling, der anscheinend Adam heißt. Und Adam ist wohl der böse von beiden oder anders herum. Ich bin verwirrt und stehe wie eine Wurzel fest da und starre Alex oder Adam an.

"Hey Grace", begrüßt er mich, als wäre nichts gewesen. Ich weiß nicht, ob ich antworten oder einfach wegrennen soll. Jesper stellt sich schützend neben mich. Anscheinend hat meine Familie was gegen die Coopers.

"Alex?", frage ich etwas verunsichert und blicke wieder zurück. Er nickt und sieht an mir vorbei.

"Oh", flucht er. "Ich regele das." Entschuldigend lächelt er mich an und drückt mir den Blumenstrauß in die Hand.

"Für dich!" Schnell rennt er an mir vorbei zu seinem Bruder und Scott. Die Blumen in meiner Hand riechen herrlich. Wie der Frühling höchstpersönlich. Vorsichtig rieche ich an ihnen und vergrabe meine Stupsnase in den Blüten. In dem Moment vergesse ich ganz, dass ich gerade herausgefunden habe, dass der Typ, den ich mag ein Zwilling ist und sich gerade mit meinem Cousin streitet.

Jesper reißt sie mir aus der Hand. "Gib sie mir wieder her!", brülle ich ihn an und versuche ihm sie wieder wegzunehmen. Aber er schmeißt sie achtlos in das Gestrüpp um uns herum.

"Die waren nicht für dich", sagt er stumpf und schiebt mich nach vorne zum Weitergehen.

"Ich hasse euer Verhalten!" Tränen schießen in meine Augen und ich fühle mich meines Glückes beraubt.


Am nächsten Morgen finde ich nur schwer den Weg zur Schule. Jeder meiner Schritte geht nur schwer voran. Ich bin weder darauf vorbereitet Scott zu sehen, geschweige denn die Zwillinge. Adam und Alex müssen eineiige Zwillinge sein. Anders kann ich nicht erklären wieso es mir nie aufgefallen ist. Außer der verschiedenen Charaktere sehen beide wirklich ziemlich gleich aus. Also muss ich wohl ihre Verhaltensweisen analysieren.

Damals im Klassenraum konnte es nur Adam gewesen sein, der Böse von beiden, der mich bloßstellen wollte. Auch das auf der Party und dem Friedhof mit diesen vernichtenden Blicken. Derjenige, der mir so nahe gekommen ist und mich magisch anzieht. Und Alex, der Nette von beiden, der mir immer geholfen hat. Damals mit dem Erbrechen und dem Bier. Er wirkt so viel anders als sein Bruder. Nicht so gefährlich und geheimnisvoll.

Das sie Zwillinge sind erklärt auch, warum ich deren Gesichter immer so oft an verschiedenen Orten gesehen hab. Nach langem Nachdenken kann ich mich nur Ohrfeigen. Wieso brauchte ich nur so lange um das zu verstehen?

Meine Gedankengänge lassen mich unaufmerksam werden und ich renne geradewegs auf dem Schulflur in eine Person rein. Bitte, sei es keinen der Zwillinge sein!

"Grace." Es ist Scott, der mich ansieht. Ich starre ihn an oder eher ich starre sein tiefblaues rechtes Auge an.

"Oh gott", entfährt es mir vor Sorge. Doch im nächsten Moment entschließe ich mich dazu, dass er selbst Schuld hat. Er hätte Adam ja nicht angreifen müssen. Ich verschränke die Arme.

"Ich hoffe du hast ordentlich eins auf die Nase bekommen!", sage ich gehässig und hebe die Nase arrogant nach oben. Er zieht beide Augenbrauen hoch.

"Wohl eher aufs Auge, Lämmchen."

"Ich verstehe nicht, wie man so bescheuert sein kann. Was ist dein Grund, dass du die Coopers grundlos angreifst? Ich habe mich lediglich mit Adam unterhalten. Genau so wie mit Alex damals!", erkläre ich den Sachverhalt und erwarte eine Antwort. Ich will natürlich wissen, warum Scott und die Zwillinge sich so verabscheuen.

"Das ist eine lange Geschichte und das geht dich nichts an!" Scott sieht abweisend von mir weg. Er will nicht darüber reden aber meine Wut lässt mich unsensibel werden.

"Bist du eifersüchtig auf die beiden? Weil sie hübscher und muskulöser sind als du? Weil ihnen die Stadt gehört, als Söhne der Bürgermeisterin? Willst du auch so cool und geheimnisvoll sein?" Ich höre mich gerade wie die größte Bitch an, aber in dem Moment bemerke ich es nicht ein Mal. Scott funkelt mich wütend und ungläubig an. Nie hätte ich von mir erwartet, jemanden zu beleidigen, der nur das Gute für mich möchte und Scott kann es wahrscheinlich erst recht nicht fassen. Er sieht uns als eine Familie an, aber ich kenne ihn doch kaum. Doch meine Wut auf die ganzen Geheimnisse und dieses beschützende Verhalten, was ich nicht gebrauchen kann, hindert mich daran ihn beim Weggehen aufzuhalten.

Ohne ein Wort zu sagen, dreht Scott um und geht. Er lässt mich alleine auf dem Flur stehen und ich spüre keinen einzigen Funken Schuld.

"Das war aber ganz schön heftig von dir", murmelt eine bekannte Stimme hinter mir.

"Müsst ihr immer wie Geister hinter einem auftauchen?", fauche ich einen der Zwillinge an und hoffe Adam vor mir zu sehen. Er hat meine Wut wenigstens auch verdient. Aber mir lächelt Alex mit seinen Grübchen in den Wangen entgegen.

"Sorry. Aber an dich kann man sich einfach so gut heranschleichen." Er grinst und ich muss mit Grinsen. "Komm ich bringe dich zum nächsten Unterricht." Ich nehme sein Angebot gerne an und wir gehen den Flur entlang.

"Eigentlich wollte ich dich was fragen, Grace", murmelt er leise und sieht schüchtern auf den Boden. Oh mein Gott, was kommt jetzt? Ich sehe ihn an. Er ist etwas einfacher gebaut als sein Bruder aber vielleicht liegt es auch einfach an seiner netten Ausstrahlung. Ich glaube, wenn ich meiner Familie einen Gefallen tun will, dann verliebe ich mich lieber in den netten Alex.

"Was denn?", frage ich mit zuckersüßer Stimme. Wir gehen an Scott und Jesper vorbei, die sich angeregt unterhalten. Scott sieht mich an und verfolgt mich mit seinem nachtragenden Blick.

"Ich wollte fragen, ob du Lust hast, mit mir Freitag Abend etwas zu machen?" Ich werfe einen Blick nach hinten zu Scott, der es noch gehört haben muss. In dem Moment antworte ich nicht aus Zuneigung zu Alex, sondern eher aus Rache Scott gegenüber.

"Ja klar gerne!", antworte ich extra laut, damit Scott und Jesper es auch wirklich hören.


Am Nachmittag lasse ich mich erst recht nicht zu Hause blicken. Meine Familie soll gerne meine Wut zu spüren bekommen. Stattdessen quartiere ich mich bei Annabelle ein. Ich brauche nun wirklich eine weibliche Meinung.

Nachdem ich ihr meinen ganzen Stress der ersten Woche erzählt habe, fühle ich mich schon längst wie ihre Freundin. "Wusstest du über die beiden Zwillinge Bescheid?", frage ich Annabelle. Sie sieht mich an und legt den Kopf schief.

"Ja natürlich. Jeder weiß über die Zwillinge Bescheid."

"Na toll!", murre ich. "Dann bin ich ja wohl die einzige, die Adam und Alex für eine Person gehalten habe."

"Nicht mal ich habe es geschafft mich so zu blamieren", murmelt Annabelle und kramt auf ihrem Schreibtisch herum. Ich zucke mit den Schultern.

"Leider ist das wohl meine neue Stärke. Wahrscheinlich steht es auch bald in der Zeitung - Grace Harper, die tollpatschige Dummheit Bloomfields." Ich muss über meine Selbstbeleidigung lachen, Annabelle presst nur ihre Lippen zu einem geraden Strich zusammen.

"Zeig mir mal deine Zeichnungen", versuche ich vom Thema abzulenken. Sie nickt leicht und gibt mir ihre Zeichenmappe. Vorsichtig öffne ich sie und werde erschlagen von fast schwarzen Bildern mit roten Farbelementen. Jedes einzelne Bild hat etwas gruseliges an sich. Ich hab gedacht, dass Annabelle irgendwie Animes oder irgendwelche schönen Sachen zeichnet aber das. Diese Bildern strahlen  Gewalt aus. Die Striche sind in alle Richtungen wild gemalt. Ab und zu kann man schreiende Gesichter oder sterbende Menschen erkennen.

Ich sehe Annabelle an und versuche etwas in ihrem Gesicht zu erkennen und ihre Reaktion zu deuten.

Sie hat Angst.

Etwas VerträumtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt