Kapitel 16 - Lücke

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Irgendwas kratzte am Rande meiner Wahrnehmung. Irgendwas war da, dass mich in Unruhe versetzte. Was war passiert?
Der stechende Schmerz in meinem Kopf machte es mir fast unmöglichen, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles fühlte sich so unwirklich an. Aber da war ein Rauschen, das ich wahrnehmen konnte, eine Art Murmeln.
Ich wollte die Augen aufmachen und sehen, wo ich war, aber ich konnte es nicht. Es war, als würde etwas in meinem Gehirn stecken, das mir den Dienst verweigerte.
Mir war übel und es tat jeder einzelne Knochen weh. Sogar das Denken fiel mir schwer.
Was war passiert? Hatte ich einen Unfall gehabt? War ich jetzt im Krankenhaus und mit Narkosemitteln vollgepumpt? Warum erinnerte ich mich nicht?

Es dauerte noch eine halbe Ewigkeit, bis ich den Kampf gegen dieses Etwas in meinem Kopf gewann und ins viel zu grelle Licht blinzelte.
"Hallo? Können Sie mich hören?", hörte ich eine Stimme wie durch einen Schleier und kurz darauf sah ich eine junge Frau in weißem Kittel, die sich über mich beugte.
"Können Sie verstehen, was ich sage?", fragte sie weiter. Ich nickte leicht, war unfähig zu sprechen.
"Wissen Sie, wie sie heißen?", fragte sie sanft weiter. Wie ich hieß? Natürlich wusste ich das.
"E... Emily", krächzte ich und erschrak mich selbst. Ich klang furchtbar.
"Hallo, Emily. Ich bin Nadine. Du hattest einen Unfall, aber du bist jetzt in Sicherheit, okay?" Wieder nickte ich.

Dann ging die Tür auf und ein älterer Mann in Oberarzt-Kleidung betrat den Raum.
"Ist sie ansprechbar?", fragte er die junge Ärztin neben mir.
"Sie ist gerade aufgewacht. Sie sagt, ihr Name ist Emily."
"Emily, ich bin Doktor Wehber. Ich bin Ihr behandelnder Arzt. Ich werde Sie jetzt einmal kurz durchchecken, okay?"

Er testete gefühlt alles, rang mir irgendwelche Sätze und komische Bewegungen ab, schaute sich die Angaben auf den Bildschirmen an meinem Kopfende an, murmelte dabei ständig irgendwas, das ich nicht verstand. Und schließlich schrieb er alles auf und verschwand dann wieder.

"Gibt es irgendwelche Angehörigen, die ich informieren kann?", fragte dann die Ärztin wieder.
"L... Lisa. Meine... meine beste Freundin Lisa", flüsterte ich.
"Wie heißt sie denn weiter?"
"Dohrmann."
"Okay, und sonst noch jemanden?"
"Meine... meine Mom."
Es war schrecklich, ihr die Daten zu geben. Ich wollte einfach schlafen und nicht sprechen. Es tat weh zu sprechen. Es tat alles weh. 

Später am Abend ging meine Tür ein erneutes Mal an diesem Tag auf. Aber diesmal war es keine Schwester und auch kein Arzt. Es war meine komplett aufgelöste beste Freundin, die mit Tränen in den Augen auf mich zu lief. 
"Oh, Emmi! Mein Gott, du siehst grauenvoll aus", schluchzte sie und nahm meine Hand. 
"Hey, Lisa. Mir geht's gut. Also zumindest fast", lächelte ich halbherzig. 
"Laura und Tabea kommen auch gleich", berichtete sie mir. 
"Was genau ist passiert, Lisa?"
"Du warst in diesem Bus auf dem Weg zum Flughafen. Und dann ist ein LKW in den Bus gekracht. Er hat sich überschlagen und ist von der Straße abgekommen." Ach du Scheiße!
"Ist irgendwem was Schlimmeres passiert?", fragte ich erstickt. 
"Du bist eine der Wenigen, die überlebt haben, Emmi", flüsterte sie und wischte sich weitere Tränen von der Wange. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. 
"Deine Eltern sind auch hier?", wollte sie dann wissen. 
"Ja, sie sind etwas zu essen holen gegangen. Kannst du mal nach meinem Handy sehen? Es liegt da im Schrank. Ich hatte es scheinbar noch in der Hand..."
Sofort stand Lisa auf und lief zu dem kleinen weißen Schränkchen. Sie holte mein Handy heraus und ich sah sofort, dass es dafür wohl keine Hoffnung mehr gab. 
"Das sieht... gar nicht gut aus", bestätigte sie meine Gedanken. "Aber vielleicht funktioniert die SIM-Karte ja noch... Ich ruf mal Laura an, damit sie ihr altes Handy mitbringt, ja?"
"Okay, danke."

Eine halbe Stunde später kamen meine Freundinnen ins Zimmer. Meine Eltern hatten sich gerade verabschiedet und waren nach Hause gefahren, um mir ein wenig Kleidung und alles Weitere zusammen zu packen. 
"Hey, Süße. Wie geht's dir?", fragte Laura sogleich und versuchte, mich umständlich zu umarmen. 
"Naja, den Umständen entsprechend."
"Das ist so grauenvoll", jammerte Tabi und sah mich mit großen verheulten Augen an. 
"Du hast eine neue Frisur. Steht dir", lächelte ich sie an, um ein anderes Thema anzuschlagen. Aber sie war nicht wie erwartet total begeistert, sondern sah etwas verstört zu Lisa. Die wiederum sah mich verstört an. 
"Was?"
"Emily... Tabi hat die Frisur schon seit drei Monaten", meinte Lisa langsam. 
"Hä was? Aber ich sehe die das erste Mal!" Wollten sie mich jetzt auf den Arm nehmen?
"Nein tust du nicht..."
"Was ist das Letzte, an das du dich erinnerst?", fragte Laura vorsichtig. 
"Ähm... wir... wir waren auf dieser Strandparty. Du warst komplett betrunken, Laura. Geht's dir schon wieder gut?"
Alle drei sahen mich einfach nur total überfordert an. 
"Was ist denn los?" Langsam kamen mir die Tränen. Was zur Hölle war hier los?
"Ich hole einen Arzt", flüsterte Lisa und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. 
"Laura?", nuschelte ich verzweifelt. 
"Emmi, das ist sechs Monate her... Es ist Winter. Vor ein paar Tagen war Weihnachten. Es hat heute geschneit draußen", erklärte sie erstickt. 
"Was?!" Wie konnte das bitte sein? Und wo war meine Schwester? Sie konnte mich immer so gut trösten, mich beruhigen. Ich brauchte sie jetzt!
"Wo ist Susan?", fragte ich deshalb leise. "Sie war den ganzen Tag noch nicht hier... Bitte sagt mir, dass sie nicht mit mir in diesem Bus saß!"
"Emily, deine Schwester wohnt in Frankreich. Sie ist da hin gezogen im September", schniefte Tabi und nahm mich dann in den Arm. 
"Nein, nein das kann nicht sein!", heulte ich. Ich weinte unaufhörlich. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Woran erinnerte ich mich denn noch alles nicht? 

"Frau Gartner? Ihre Freundin sagte, Sie leiden an Amnesie?", fragte der Arzt sofort, als er in den Raum kam. Er fragte mich über alles aus, woran ich mich erinnerte und fragte die anderen immer wieder, ob das stimmte. 
Mein Gedächtnis war einwandfrei, nur die letzten sechs Monate waren wie weggefegt. 

Irgendwann später klingelte das Handy von Laura mit meiner SIM-Karte. 
"Gibst du es mir bitte?", fragte ich Laura, die mir ohne zu überlegen das Telefon gab. 
"Nein, Emily! Ich würde nicht...!", warnte Lisa mich, doch ich hatte den Anruf schon entgegen genommen. 
"Hallo?", fragte ich schwach. 
"Emily! Oh Gott, endlich erreiche ich dich! Was ist passiert? Wo bist du? Ich warte seit Stunden am Flughafen auf dich!", rief ein Mann, der scheinbar gerade mit den Tränen kämpfte. 
"Wer... wer sind Sie?" Es machte mir Angst. Ich hatte gar kein gutes Gefühl dabei. 
"Was? Emmi? Ich bin's, Julian!"
"Ich..."
"Was ist passiert, verdammt?" 
"Es... es tut mir Leid, aber ich weiß nicht, wer..."
In dem Moment riss Lisa mir das Telefon aus der Hand. 
"Julian? Hier ist Lisa." Ich sah ihr dabei zu, wie sie sich die Haare raufte und sich auf einen Stuhl an der gegenüberliegenden Wand setzte. 
"Hör zu... Emily hatte einen Unfall. Ein LKW ist in den Bus, mit dem sie zum Flughafen gefahren ist, gekracht. Sie ist im Krankenhaus... Nein, nein es geht ihr soweit gut. Aber... aber sie erinnert sich nicht mehr an die letzten sechs Monate. Es tut mir so Leid, Julian!"

Ich konnte nicht länger zuhören. Es tat so weh. Mir war dieser Julian scheinbar wichtig gewesen. Ich wollte wohl zu ihm fliegen... Es war schrecklich, ihm weh zu tun, auch wenn ich mich nicht erinnerte, wer er überhaupt war. 

Paris (Julian Draxler FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt