Kapitel 30 - Irgendwie anders

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Je länger ich in den nächsten Tagen über mein letztes Treffen mit Julian nachdachte, desto surrealer wurde das alles. Ich hatte am nächsten Tag lange mit Susan darüber gesprochen. Sie hatte mir am Ende geraten, lieber wieder ein Stück zurück zu rudern, wenn ich mir nicht ganz sicher bei der ganzen Sache war. Ich war völlig unentschlossen. Einerseits wollte ich ihm ja nahe sein, andererseits hatte ich Angst davor. Irgendwie war es ein Stück weit so, als wäre ich nach dem Unfall als neue Person aufgewacht, die aber dem Drehbuch der alten Emily folgt. So, als hätte ich keine Wahl.

Genau sechs Tage nach unserem letzten Treffen, hatte er mir geschrieben, ob ich Zeit hätte, mich mit ihm zu treffen. Ich hatte eingewilligt, was auch sonst.
Ich stand schon so gut wie fertig in meinem Zimmer, als mein Handy klingelte.
>Julian<
"Hey, Julian", begrüßte ich ihn.
"Ja, äh, hey, nicht ganz Julian."
"Kevin?"
"Jap..."
"Warum rufst du von Julians Handy aus an?"
"Weil er gerade vor mir steht und mich ansieht, als wollte er mich umbringen", druckste er herum.
"Spuck's aus, Kevin! Was hast du verbrochen?", grinste ich.
"Also ein paar Freunde kommen zu Besuch. Und denen habe ich von dir und Jule erzählt. Also weil ihr halt auch Deutsche seid und so. Und irgendwie habe ich denen dann versprochen, dass ich euch mitbringe. So als kleine Gruppe Deutsche in Paris." Okay...? 
"Was sagt Julian dazu?"
"Ich sag ja, er würde mich super gerne umbringen", grinste Kevin zerknirscht. 
"Gib ihn mir mal..."
"Hey", murmelte Julian gleich darauf. 
"Hey. Gehen wir mit?" Eigentlich fand ich die Idee gar nicht so schlecht. Ich brauchte unbedingt mal wieder gleichsprachige Gesellschaft. Aber eigentlich waren wir ja allein verabredet. 
"Kevin, wir machen einen Deal", meinte Julian da. Kevins Antwort konnte ich leider nicht verstehen. "Wir kommen mit und dafür gehen Emily und ich dann auf deine Kosten im Eiffelturm essen!" Ja, da war ich doch dabei!
"Er hat ja gesagt", lachte Julian. Hatte er zwar bestimmt nicht, aber Julian hatte das jetzt wohl so beschlossen. 
"Okay, wo gehen wir denn dann heute hin?"
"Irgendeine Bar am Stadtrand. Ich würde vorschlagen, dass Kevin uns beide abholt und fährt." Kaum hatte er das gesagte, begann er zu lachen. Kevin hörte ich im Hintergrund rummeckern. 

Aber schließlich stand Kevin dann doch bald vor meiner Tür. Julian war noch nicht dabei. 
"Hey, tut mir echt Leid, Em...", setzte er gleich an. 
"Alles gut, Kevin! Ich hab kein Problem damit, ein paar Leute zu treffen, die mich verstehen", grinste ich und auch er musste lachen. 
"Emmi?" Ich drehte mich um zu meiner Schwester, die im Flur aufgetaucht war. 
"Hm?"
"Du kannst später ruhig anrufen, wenn ich dich abholen soll", lächelte sie. 
"Ich bringe sie wieder nach Hause, keine Sorge", meinte Kevin. Susan nickte nur, winkte und ging wieder ins Wohnzimmer. 
"Können wir?", fragte Kevin dann. 
"Jap!" Ich zog nur noch meine Jacke zu und folgte ihm dann zu seinem Auto. 

Erst unterwegs wurde mich klar, dass ich gleich das erste Mal bei Julians neuem Appartement sein würde. Irgendwie machte mich das nervös. 
Wir parkten davor und statt einfach kurz anzurufen, schlug Kevin vor, bis zur Tür zu gehen. Der Weg bis zu Julians Wohnung war irgendwie merkwürdig. Ich sollte inzwischen doch wenigstens mal wissen, wo er wohnte, oder?
Ich klingelte und hielt die Luft an. 
Beinahe sofort wurde sie aufgerissen. 
"Bin gleich so weit. Kommt rein", meinte Julian abgehetzt und lief auch schon von der Tür weg. Kevin machte eine Handbewegung, die mir verdeutlichte, dass ich vor ihm gehen sollte. Also betrat ich das Appartement und schaute mich neugierig um. 
"Ich sagte, ihr sollt reinkommen und nicht an der Tür stehen bleiben", sagte Julian da lachend und tauchte wieder auf. Er trug ein weißes Hemd, bei dem er gerade den letzten Knopf zuknöpfte. 
"Hast du verpennt?", lachte Kevin und ging an mir vorbei zu Julian ins Wohnzimmer. Die beiden begrüßten sich per Handschlag. 
"Nein, eigentlich nicht. Ich hab nur irgendwie länger gebraucht, als gedacht", meinte er Schulter zuckend. 
"Dann kann ich ja noch was trinken", schmunzelte Kevin und lief zur Küche. Ich stand im Türrahmen und sah mich weiter um. Es war sehr modern eingerichtet, vielleicht ein bisschen zu schlicht, aber schick. 
"Schön hier", lächelte ich und ging noch ein paar Schritte in den Raum rein. Ich blieb vor Julian stehen und hielt inne. Auch Julian wusste nicht so recht, was es jetzt machen sollte. Schließlich standen wir da wie zwei Trottel, zu blöd, um den anderen richtig zu begrüßen. Aber irgendwie war es anders, als noch vor sechs Tagen, als ich wie eine Klette an ihm klebte.
"Also, ich... hole dann mal meine Sachen", meinte er schließlich und lief quer durch den Raum in ein anderes Zimmer. 
"Was war das denn gerade?", fragte Kevin hinter mir und sah mich skeptisch an. Das wusste ich doch selbst nicht!
"Keine Ahnung", nuschelte ich deshalb nur und sah aus dem Fenster zum Eiffelturm. 
"Was ist zwischen euch gelaufen? Julian war die letzten Tage total durch den Wind", meinte er und sah mich besorgt von der Seite an. 
"Gar nichts... gar nichts ist da gelaufen!", sagte ich eine Spur zu gereizt und drehte mich um, um wieder zur Haustür zu gehen. Doch ich blieb abrupt stehen, als ich Julian und seinen verletzten Blick sah. Nein, nein so hatte ich das doch nicht gemeint! Verdammter Mist!
"Julian...", setzte ich an, aber auf sein Kopfschütteln hin, hielt ich inne. Er sah auf sein Handy in seiner Hand. 
"Ist schon okay. Ich werde dich ab jetzt in Ruhe lassen." Etwas zu energisch steckte er das Handy weg und gab Kevin ein Zeichen, dass er los wollte. 
"Ich kann gerne gehen, damit ihr reden..."
"Ich will nicht reden, bitte, fahr einfach los", seufzte Julian und ging voraus. 
Mein schlechtes Gewissen zerfraß mich, als ich sah, wie Julian deprimiert seine Schuhe zuband und uns dann die Tür aufhielt. Kevin ging ohne ein weiteres Wort nach draußen. Auch ich verließ Julians Wohnung und kämpfte mit den Tränen. 
Als ich den Kampf endlich gewonnen hatte, lief ich ein bisschen schneller, um Julian einzuholen, der mich inzwischen überholt hatte. Ich griff nach seiner Hand und drehte ihn dadurch zu mir. Ich hielt seine Hand fest und sah in diese viel zu traurigen Augen. Aber da war auch Wut in ihnen. 
Er entzog mir seine Hand und steckte sie in seine Jackentasche. 
"Was willst du, Emily? Was? Mal sind wir Freunde, mal willst du nichts mit mir alleine machen, weil ich ja viel zu viel über meine Gefühle für dich nachdenke, mal fällst du mir um den Hals, klebst diesen ganzen, verdammten Film lang an mir, küsst mich, als wäre ich dir der liebst Mensch der Welt und jetzt ist nie was passiert? Ist das dein verdammter Ernst?! Ich hab so scheiße viel Geduld mit dir gehabt, weil ich dich liebe, verdammt! Aber entscheide dich endlich, ob du mich jetzt magst oder lieber doch nicht. Ich hab keinen Nerv mehr für dieses ewige Hin und Her!"
Er drehte sich um und ging. Und dann hielt mich nichts mehr. Ich begann zu weinen und absolut nichts würde dagegen helfen. Julian hatte so Recht! Ich war furchtbar unfair ihm gegenüber. Und ich hasste mich selbst dafür. 
Inzwischen war ich mir nicht mehr sicher, ob ich bei dem Unfall nicht auch meinen gesunden Menschenverstand verloren hatte. Und die Fähigkeit zu lieben. 

Paris (Julian Draxler FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt