Kapitel 38 - Vorstellung vs Realität

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Es war fast ganz dunkel. Nur schemenhaft konnte ich meine Umgebung wahrnehmen. Julian schlief neben mir und hielt mich noch immer im Arm.
Eine Weile beobachtete ich ihn, bis er sich schließlich regte und ich sein Blinzeln wahrnahm. 
"Hey", lächelte er, als er bemerkte, dass ich auch wach war. "Warum schläfst du denn nicht?", fragte er leise und nahm meine Hand. Ich zuckte nur die Schultern und lächelte ihn an. 
Julian sagte daraufhin auch nichts mehr. Er sah mich im schwachen Mondlicht einfach nur an, bis er sich schließlich zu mir rüber lehnte. Seine Lippen fanden meine und ich schloss die Augen. Ich erwiderte seinen Kuss sofort und kuschelte mich dichter an ihn. 
"Darf ich das ab jetzt öfter?", murmelte er an meinen Lippen, ließ aber nicht von mir ab.
"Ja", hauchte ich nur und zog ihn am Nacken noch näher an mich ran. 

Das helle Licht im Raum ließ mich heftig blinzeln, bis ich es aufgab und meine Augen wieder schloss. Ich schielte noch einmal vorsichtig ins Helle. Ich lag alleine in Julians Bett. War das etwa nur ein Traum gewesen? Ich konnte es nicht sagen. Es hatte sich so echt angefühlt...
Und wo war Julian überhaupt? 
Ich stand auf und fuhr mir durch die Haare, um sie ein bisschen zu bändigen. Dann verließ ich das Zimmer und ging erst einmal Richtung Wohnzimmer. Ich würde es einfach von Julians Reaktion abhängig machen, ob es nun ein Traum war oder nicht. Aber wenn, dann war es ein verdammt schöner Traum gewesen!

"Hey, guten Morgen", lächelte Julian da plötzlich und ich erschrak mich fürchterlich. Er stand lachend in der Küche und grinste mich schadenfreudig an. 
"Erschreck mich doch nicht so!", jammerte ich, musste aber auch lachen. 
"Cappuccino?"
"Oh ja, ganz viel!"
Würde er jetzt auf mich zu kommen, direkt vor mir stehen bleiben und mich küssen? Ich sah in meinem Kopf sein Lächeln, ich schmeckte den Kuss, ich spürte die Gänsehaut, die ich dadurch bekam und ich hörte wie er "Das darf ich jetzt ja" in mein Ohr flüsterte. Oh, ich würde zusammenklappen vor lauter weichen Knien. 
"Was ist los?" Ich blinzelte heftig und sah Julian an, der etwas besorgt vor mir stand und mir eine Tasse entgegenhielt. 
"Nichts. Nichts..." Ich nahm schnell die Tasse und meine Vorstellung zerplatzte wie eine Seifenblase in meinem Kopf. Okay, es war ein Traum gewesen!
"Ich hol uns schnell was vom Bäcker, okay?", fragte er dann und lief schon in den Flur. 
"Ja, klar, gerne..." Schon ein paar Sekunden später war Julian aus dem Haus verschwunden. 

Seufzend ließ ich mich auf einen Stuhl fallen und starrte die Tasse an. Warum musste das nur ein blöder Traum sein?!
Ich schlurfte ins Bad und duschte in Rekordzeit. Dann föhnte ich meine Haare und starrte mich dabei im Spiegel an. Ich sah jetzt schon vor mir, wie Julian wieder in die Wohnung kam und ein euphorisches "Frühstück!" zu mir rief. Ich konnte mir allzu gut vorstellen, wie er schnell Jacke und Schuhe auszog und dann in die Küche kam. Vielleicht würde ich einen Kuss auf die Wange bekommen, bevor er für uns Frühstück machte...

"Em?" Er klopfte an die Tür. 
"Ja?"
"Frühstück ist fertig. Kommst du?"
Ich legte den Föhn beiseite. Inzwischen waren meine Haare dreimal trocken. Ich schlüpfte noch schnell in einen Pulli und lief dann zu ihm. Auf dem Küchentisch lag all das, was ich am Morgen brauchte. Croissants, Brötchen, Marmelade, Nutella und alles war gut. Julian war nicht zu sehen, aber ich setzte mich trotzdem schon und naschte von einem Croissant. 
Julian kam gleich darauf und tippte auf seinem Handy herum. Am Tisch angekommen, legte er es darauf und lief zum Schrank, um zwei Gläser und etwas Wasser zu holen. 
"Fang ruhig schon an", lächelte er mir von der Küchenzeile aus zu. 
"Hab ich schon", grinste ich überlegen und schnappte mir das restliche Croissant. Julian setzte sich lachend mir gegenüber.
"Was hast du denn heute noch vor?", lächelte ich unschuldig. 
"Ich hab in einer Stunde Training. Marco hat eben geschrieben, dass es vorverlegt wurde", seufzte er und nahm sich ein Brötchen. 
"Susan holt mich dann bestimmt ab."
"Wenn das nicht zu umständlich ist? Ich fahre dich sonst auch." Ich schüttelte kauend den Kopf. Ich wollte so lange wie möglich hier bleiben. 

Wir aßen gemütlich zusammen und verfielen dann in ein langes Gespräch. 
"Patrick, mein Bruder, hat gefragt, ob ich in nächster Zeit mal nach Deutschland komme", erzählte er dann. 
"Und wirst du?"
"Ich hab überlegt, ob du vielleicht mitkommen magst?" Ich schaute ihn kurz mit großen Augen an, bevor ich schluckte und dann gar nichts sagte. 
"Um ehrlich zu sein, liegt mir meine Mom in den Ohren, weil sie dich unbedingt kennen lernen will", gestand er dann und lächelte etwas zerknirscht. 
"Kennt sie mich noch nicht?", fragte ich vorsichtig nach. 
"Nein, wir waren auch vor dem Tag nie in Gelsenkirchen. Aber abgesehen von meinen Eltern könnte ich dir meine Heimatstadt zeigen. Wir könnten auch nach Dortmund fahren und ein paar Freunde besuchen oder einfach die Stadt unsicher machen." Er verstummt und sah mich beinahe vorsichtig an, als hätte er Angst, was Falsches gesagt zu haben. 
"Ich würde wirklich gerne mitkommen!", lächelte ich deshalb und sofort entspannte er sich. 
"Dann werde ich mal gucken, wann ich mal ein paar Tage entbehren kann."
"Weißt du, was ich wirklich schön finde?"
"Was?" Er sah mich neugierig an. 
"Hier in Frankreich konnte ich mit diesem blöden Unfall endlich abschließen. Es ist fast so, als hätte es ihn nie gegeben." Julian lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln. Er sah schnell auf den Tisch runter und schluckte schwer. 
"Ich wollte dir Paris zeigen. Ich war so stolz auf mein neues Zuhause. Weißt du... als ich am Flughafen stand und alle gekommen sind nur du nicht... Es hat sich fast so angefühlt, als hätte ich mir dich nur eingebildet. Und dann irgendwann kam die Panik. Ich habe Stunden am Flughafen verbracht, bis ich dich endlich erreicht habe...", murmelte er und sah mich wehmütig an. 
"Wie war das für dich, als ich... als ich dich nicht erkannt habe?", flüsterte ich bedrückt. 
"Das kann man nicht in Worte fassen! Es war einfach schrecklich..."
Er sah aus dem Fenster und schien weit weg zu sein. Hätte ich das Thema doch bloß nicht angefangen! Ich hätte mich zu gerne selbst geohrfeigt. 
"Aber weißt du was?"
Ich sah zu ihm und wagte es nicht, etwas zu sagen. 
"Es macht mich umso glücklicher, dass du hier jetzt vor mir sitzt. Ich habe dich nicht verloren, das ist das Wichtigste. Es sind so viele Menschen ums Leben gekommen, aber du nicht. Du lebst und bist genau hier." Ich griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand und drückte sie fest. Ich war selbst dankbar dafür, dass mein Leben nicht ein so frühes Ende genommen hatte. Aber in diesem Moment wusste ich, dass Julian noch viel dankbarer dafür war. Vielleicht war er ja der Engel, der mich beschützt hatte. 
"Du bist der wundervollste Mensch den ich kenne, Julian!", lächelte ich und sah in seine braunen Augen. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen und verweilte dort. 
"Ich..."
Mein Handy klingelte. Viel zu gerne hätte ich es gegen die Wand geworfen. Stattdessen sah ich Julian entschuldigend an und nahm den Anruf meiner Schwester entgegen. 
"Hm?"
"Ich bin da. Komm runter", meinte sie. 
"Ja, ich komme..."
"Ich kann auch wieder fahren, wenn du nicht willst", lachte sie. 
"Nein, nein. Warte eben..."

Kurz darauf stand ich mit meinem Koffer im Flur und zog mir meine Jacke über. 
"Also dann sehen wir uns bald", schmollte ich und sah zu ihm hoch. Er nickte nur und sah mich dabei mit einem undefinierbaren Blick an. 
Es war, als würde dieser Kuss zwischen uns schweben, der Kuss, der dann auch meinerseits alles besiegeln würde. Aber keiner von uns machte den ersten Schritt. Und so verließ ich das Gebäude lächelnd und weinend zugleich als seine Fastfreundin, die zu blöd war, um ihm zu sagen, dass er seinen Kampf schon lange gewonnen hatte. 

Paris (Julian Draxler FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt