Kapitel 29 - Für den Moment

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"Wo habt ihr denn Teller?", fragte Julian und riss mich aus meinen Gedanken.
"Oh, sorry." Ich trocknete schnell meine Hand ab und holte zwei Teller für unsere Brötchen aus dem Schrank. Ich drückte Julian zwei Gläser in die Hand, schnappte mir das Essen und lief damit voraus ins Wohnzimmer.
"Mach's dir gemütlich. Ich bin sofort wieder da", sagte ich und holte aus der Speisekammer eine Wasserflasche. Dann schaltete ich den Fernseher ein und wir aßen entspannt unser Abendessen.
"Es ist so deprimierend, dass es hier nur französisches Fernsehen gibt", seufzte ich irgendwann.
"Du scheinst die Sprache wirklich nicht zu mögen", lachte Julian.
"Naja, doch schon, aber es ist auf Dauer so anstrengend, sich die ganze Zeit darauf zu konzentrieren."
"Ich hatte in den ersten Tagen auch meine Probleme damit, aber man gewöhnt sich dran", schmunzelte er.

"Warum wollte ich eigentlich an genau dem Tag nach Frankreich?", fragte ich irgendwann in die Stille. Darüber hatte ich bisher mit keinem gesprochen. Ich wusste nur, dass ich nach Frankreich wollte, und auch, dass ich zu Julian wollte, aber warum genau der Tag? Julian schluckte.
"Ich hab dir ein Flugticket zu Weihnachten geschenkt. Ich bin also quasi Schuld an allem..."
"Das hast du wirklich für mich getan? Und die Kette?" Ich sah ihn erstaunt an.
"Ja, klar", lächelte er leicht.
Erst dann wurde mir die Bedeutung seines zweiten Satzes bewusst.
"Warte mal. Du hast dir die Schuld dafür geben?" Mit Entsetzen sah ich, wie er ertappt nach unten schaute.
"Und ich hatte immer Panik vor dem Moment, wenn du es erfährst..."
"Julian, das ist doch totaler Schwachsinn! Da kannst du doch nicht im Geringsten was für! Es ist so lieb, dass du mir dieses Ticket geschenkt hast. Ich könnte dir niemals dafür die Schuld geben!" Ich war so aufgebracht darüber, dass ich fast meinen Teller umwarf.
Julian war ganz still und musterte mich, wie ich ihn anstarrte.
"Bist du dir sicher?", fragte er schließlich.
"Ich könnte dir nie für irgendwas Derartiges die Schuld geben. Dafür bist du viel zu lieb zu mir! Und außerdem konnte das doch keiner ahnen! Wie auch?" Ich sah ihn eine Weile traurig an. Er sollte sich nicht unnötig mit solchen Gedanken quälen. Das hatte er nicht verdient!
Julian sah runter auf das Glas in seiner Hand und als er wieder aufsah, war es, als wäre eine verdammt große Last von ihm gefallen. Seine Augen waren leicht feucht und seine Lippen zierte ein wunderschönes Lächeln.
"Danke, Em", flüsterte er.
Und schon wieder hatte ich das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen.

Aber stattdessen stellte ich meinen Teller auf dem Tisch ab und lief zum Fernseher.
"Fast and Furious oder Men in Black?" Ich hielt beide DVDs nach oben.
"Men in Black", grinste er und machte es sich in der Ecke der Couch gemütlich. Ich legte den Film ein und startete ihn, bevor ich die Deckenlampe ausschaltete und stattdessen eine kleinere Stehlampe anknipste. Dann schnappte ich mir eine Decke und lief zurück zum Sofa. Etwas unschlüssig blieb ich vor Julian stehen.
"Ähm, darf ich...?", überwand ich mich schließlich doch und deutete neben ihn.
"Äh, ja natürlich", meinte er lächelnd.
Also setzte ich mich dicht neben ihn und deckte uns beide mit der Wolldecke zu. Dann lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter und schaute zum Bildschirm.

Wir hatten ungefähr die Hälfte des Films geschaut, als Julian kurz ins Bad verschwand. Kaum dass er weg war, fühlte sich meine linke Seite, an der er eben noch gesessen hatte, schrecklich kalt an. Er strahlte eine so unglaubliche Wärme aus. Ich könnte mein ganzes Leben lang an ihn gekuschelt da liegen und es genießen.
War da also vielleicht doch mehr? Es fühlte sich alles so gut an. Egal ob er mich küsste oder mich einfach nur anlächelte. Er ging mir nicht mehr aus dem Kopf...

"Du tust es schon wieder", grinste Julian da plötzlich neben mir. Ich blinzelte einmal heftig und sah zu ihm hoch. 
"Was mache ich?"
"Du sitzt da, starrst verträumt aus dem Fenster und bekommst nichts mit", lächelte er und setzte sich wieder neben mich. Endlich war er wieder da. 
"Mache ich das öfter in deiner Gegenwart?"
"Auf die Weise hast du meine Handynummer bekommen", schmunzelte er und deckte uns sorgfältig wieder zu. 
"Hm..." Ja manchmal war ich vielleicht etwas abwesend. Aber auch nur, weil mich meine Gedanken ablenkten! Ich konnte da eigentlich gar nichts für! Es war schon früher so gewesen.
Ich konnte mir gut vorstellen, wie es für ihn gewesen sein musste, als wir in diesem Café gewesen waren. Er musste mich für irre gehalten haben. Wie war es wohl gewesen? Hatten wir uns gleich gut verstanden? Vielleicht sollten wir irgendwann noch einmal in dieses Café gehen...

Julians leises Lachen ließ mich wieder aufsehen. Ich schaute ihn an und musste auch lachen. 
"Schon wieder, stimmt's?"
"Was ist denn so wichtig, dass du so in Gedanken bist?", schmunzelte er. Aber er wollte scheinbar gar keine Antwort. Er drückte auf der Fernbedienung auf Play und lehnte sich zurück in die großen Sofakissen.
Irgendwie hatte ich gar keine Lust mehr auf den Film. Stattdessen legte ich einen Arm um ihn und platzierte meinen Kopf auf seiner Brust. Dann schloss ich die Augen und hing weiter meinen Gedanken nach. 

"Emmi!" Nein, Susan, lass mich in Ruhe! Will weiter schlafen...!
"Emily", lachte sie aber und wuschelte mir durch die Haare. 
Ich brummte irgendwas Unverständliches und drehte mich ein Stückchen von ihr weg. Ich wollte mich auf den Bauch drehen, aber erst da wurde mir bewusst, dass ich immer noch mit Julian da lag! Erschrocken fuhr ich hoch und sah erst in sein belustigtes Gesicht und dann in das meiner Schwester. Susan zwinkerte vielsagend. 
"Ich wollte nur Bescheid sagen, dass wir wieder da sind. Wir gehen hoch", meinte sie und grinste mich an. Kaum war sie aus dem Zimmer, sah ich wieder zu Julian und schmollte. Er lachte leise und strich mir die Haare aus dem Gesicht, die Susan mir gerade verwüstet hatte. Ganz kurz überlegte ich, ihn einfach zu küssen, aber ich entscheid mich sofort wieder dagegen. Ich wusste schließlich noch immer nicht, was das mit uns war. 
Julians Hand verweilte an meiner Wange, aber bevor es doch so weit kommen konnte, rutschte ich von ihm weg und setzte mich gerade hin. 
"Ich wollte doch gar nicht einschlafen", jammerte ich und lächelte ihn schließlich bitter an. "Jetzt sehe ich bestimmt schrecklich aus", seufzte ich. An seinem Lächeln sah ich, dass ich Recht hatte. 
"Deine Wimperntusche ist verwischt. Aber so ein Emo-Look steht dir", scherzte er. Nur in Filmen konnte sowas gut gehen. Im echten Leben wachte man auf und sah scheiße aus, auch wenn man nur fünf Minuten weggenickt war!
"Du bist böse!", beschwerte ich mich und hieb halbherzig nach ihm. 
"Hey, du musst nicht gleich handgreiflich werden", lachte er, setzte sich ebenfalls auf und hielt meine Handgelenke fest. Unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Wenn er mich jetzt küsste, würde ich es zulassen. Mein Herz realisierte die Spannung zwischen uns sofort und schlug sogleich etwas schneller. Und zugegeben - ein kleiner Teil meines Herzens wünschte sich nichts mehr als das.
Aber bevor es soweit kam, schaute er nach unten und biss sich auf die Unterlippe. 
"Es ist spät, ich sollte langsam nach Hause", meinte er dann. 
"Okay..." Ich fand das zwar gar nicht toll, aber ich ließ es zu, dass er vom Sofa aufstand und sich dabei umständlich von der Decke befreite. Ich schlurfte ihm hinterher in den Flur und beobachtete schweigend, wie er seine Schuhe zuband und seine Jacke anzog. Dann stand er etwas unschlüssig an der Tür, ehe er sie öffnete. 
"Bis bald", lächelte er. 
"Wann ist bald?", fragte ich und lief zu ihm, auch wenn es arschkalt draußen war. 
"Ich hab dieses Wochenende ein Auswärtsspiel. Ich bin ab übermorgen ein paar Tage nicht da. Aber ich schreibe dir, wenn ich wieder in Paris bin", versprach er. 
"Pass auf dich auf."
"Du auch..."
Und dann packte ich seine Jacke, stellte mich auf Zehenspitzen und küsste ihn. Julian erwiderte den Kuss sofort. Nur der Türrahmen in meinem Rücken verhinderte, dass ich umfiel, so berauschend war dieser Moment. Für diesen einen Moment war ich glücklich. Für den Moment war alles perfekt. Da waren nur Julian und ich. Kein Unfall. Kein Chaos. Nur wir.
Ich hielt mich irgendwie an seiner Jacke fest, während ich mit geschlossenen Augen jede seiner Berührungen genoss.
"Tschau", murmelte Julian schließlich an meinen Lippen und ließ mich dann viel zu früh wieder los. 

Paris (Julian Draxler FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt