Kapitel 20 - Meine Schwester

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Woche um Woche verging und ich wurde immer deprimierter. Inzwischen kannte ich mich ganz gut in der Wohnung aus, aber es fühlte sich nicht an wie mein Zuhause. Das Loch in meinem Kopf machte mir immer mehr zu schaffen. Und das zog nicht nur mich runter, sondern auch alle anderen um mich herum. Meine Freunde schlugen mir immer wieder vor, was zusammen zu unternehmen. Aber wenn ich dann im Kino saß, konnte ich mich nicht an den letzten Film erinnern, den ich gesehen hatte. Wenn mich jemand ansprach, den ich im letzten halben Jahr kennen gelernt hatte, wurde ich entweder verachtend angeschaut oder krass bemitleidet. 
Wolfsburg war mein Leben gewesen, meine Heimat. Inzwischen fürchtete ich mich davor, meine Wohnung zu verlassen. Ich könnte jemandem begegnen, der mich kannte. Oder ich bekam Panik, wenn jemand mit mir sprach und ich nicht wusste, ob die Person mich kannte oder einfach nur nett war. 
Meine Mutter hatte mir einen Psychologen empfohlen, aber ich war nie hin gegangen. Der konnte meine Erinnerung auch nicht zurückholen.
Es war mehr als ein Monat vergangen und ich hatte mich nicht an ein einziges kleines Detail erinnert. Und inzwischen hatte ich die letzte Hoffnung aufgegeben, dass es je wieder kommen würde. 
Meine Freunde versuchten mir immer wieder auf die Sprünge zu helfen und zeigten mir Fotos oder sonst was, aber das alles machte es nur noch schlimmer. 

"Ich halte es hier nicht mehr aus, Susan", jammerte ich eines Abends. Meine Schwester schaute mich mit traurigen Augen an. Sie hatte mir schon so oft angeboten, zu mir zu kommen. Aber ich wollte nicht, dass sich alle wegen mir so große Umstände machten. 
"Weißt du was, Emmi?"
"Was denn?"
"Ich glaube, du solltest einfach mal raus aus der Stadt. Was hältst du davon, wenn du mich besuchen kommst? Du warst, seit ich hier wohne, noch kein einziges Mal hier. Ich würde dir so gerne die Wohnung zeigen, die Thilo und ich gekauft haben. Wir können zusammen Paris unsicher machen. Mal wieder so richtig Spaß haben!" Sie strahlte mich an und ich ließ mir das durch den Kopf gehen. Eigentlich war die Idee gar nicht so schlecht. Ich vermisste meine Schwester sowieso viel zu sehr!
"Du könntest einfach deine Koffer packen und herkommen. Ganz egal wie lange. Thilo hat bestimmt nichts dagegen. Du hast doch nichts, dass dich da in Wolfsburg hält. Und Kontakt zu deinen Freunden und Mom und Dad hast da ja trotzdem noch über Skype und WhatsApp und was sonst nicht alles."
Was würden die anderen dazu sagen, wenn ich einfach weg fuhr? Konnte ich das Lisa und Mom und allen anderen antun?
"Mensch, Emmi, jetzt denk doch mal ein Mal an dich! Du wirst es nicht bereuen. Komm zu mir, bitte!"
"Okay!" Wieso nicht mal was riskieren? Ich war eh unglücklich hier. In Frankreich kannte mich niemand. Es würde niemandem auffallen, dass ich ein halbes Jahr meines Lebens verloren hatte. Ich wäre dort ein ganz normaler Mensch wie alle anderen. Keine komischen Blicke im Supermarkt, kein Mitleid und vielleicht würde mich das ja auch etwas ablenken. Von der Tatsache, dass ich als eine der Einzigen einen Bus-LKW-Crash überlebt hatte. Vielleicht würden die Albträume aufhören...

Am nächsten Tag stand ich früh auf und lief zu meinen Eltern. Meine Mutter öffnete mir, Dad war schon zur Arbeit. 
"Schön, dass du gekommen bist. Einfach so oder hast du was auf dem Herzen?", lächelte Mom. Wenn sie müsste, was mich alles bedrückte...
"Ich werde gehen. Nach Frankreich zu Susi", sagte ich gerade heraus. Ihr Gesichtsausdruck wechselte von Entsetzen, über Erstaunen bis hin zu einem Hauch von Trauer. 
"Mom, ich halte es hier im Moment nicht mehr aus. Ich will wieder ein ganz normales Leben führen und das kann ich nicht, wenn ich mich nicht wohl fühle."
"Aber du kommst doch wieder...?"
"Ich bleibe erst mal bei Susan, keine Ahnung für wie lange." Mom wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und nahm mich dann in ihre Arme. 
Ich sprach noch lange mit ihr darüber, versuchte ihr irgendwie klar zu machen, was in meinem Kopf vorging. Sie schien schließlich zu verstehen, warum ich gehen wollte, und so konnte ich beruhigt wieder zu meiner Wohnung gehen. 

Aber der für mich viel schwerere Schritt kam erst gegen Abend. Ich hatte meine drei besten Freundinnen zu mir eingeladen. Am Nachmittag hatte ich schon begonnen meine Koffer zu packen. Ich wollte einfach so schnell es geht raus hier aus meinem Gefängnis. 
"Emmi, heeey!" Tabea fiel mir um den Hals, als ich ihr die Tür öffnete. Seit ich den Unfall hatte, war sie noch viel anhänglicher geworden als eh schon. Auch Laura und Lisa begrüßten mich. Sie waren mit demselben Bus zu mir gefahren. 
Als wir ins Wohnzimmer kamen, setzten wir uns alle auf mein Sofa. 
"Also, dann machen wir uns mal einen ganz entspannten DVD-Abend. Was gucken wir zuerst?", grinste Laura. 
"Ehrlich gesagt, war der DVD-Abend nur ein Vorwand, um euch alle her zu holen", seufzte ich und sah betreten auf meine Hände. Sofort wurden alle drei ruhiger und sahen mich an. 
"Ich habe entschieden, dass ich was neues will. Das hier funktioniert nicht so, wie ich es gehofft hatte. Klar, ich finde mich zurecht, aber mehr auch nicht. Ich will morgen schon nach Frankreich zu Susan fliegen", erklärte ich möglichst ruhig. 
"Du gehst?" Tabi hatte sofort Tränen in den Augen. 
"Am liebsten würde ich euch ja mitnehmen, aber ich brauche Abstand von dieser Stadt. Wir können skypen, ihr könnt mich besuchen und ich zeige euch Paris. Aber ich möchte hier weg."
Laura nickte einfach nur und Lisa nahm mich in den Arm. 
"Wir bringen dich zum Flughafen, versprochen", lächelte meine beste Freundin. Ich strahlte sie dankbar an. 
Es dauerte eine Weile, aber schließlich hatte alle drei die Neuigkeit verdaut und es kam doch noch zu unserem DVD-Abend, der quasi zu einer kleinen Abschiedsparty ausartete. 

Am nächsten Tag war ich dann mal wieder die Nervosität in Person. Laura borgte sich das Auto ihres Dads, sodass wir mit meinen zwei riesigen Koffern ganz entspannt zum Flughafen kamen. 
Der Abschied war wirklich nicht leicht, wie der zuvor von meinen Eltern auch schon. Aber sobald ich im Flieger saß, wurde meine Vorfreude immer größer. Ich konnte es gar nicht mehr erwarten, meine Schwester endlich wieder zu sehen. 

Ich fiel beinahe aus dem Flieger, so sehr beeilte ich mich, als ich schließlich in Paris angekommen war. Eigentlich hätten mich die vielen Menschen ein wenig überfordert, aber das war mir alles total egal. Ich wollte zu Susan!

Und als ich sie dann dort stehen sah und sie auch mich entdeckte, ließ ich meine Koffer einfach stehen und rannte auf sie zu.
"Emmi!", rief zu mir entgegen, ehe wir uns schließlich nach all der Zeit wieder in den Armen lagen. 
"Susi", murmelte ich erleichtert und hielt sie eine ganze Weile einfach nur fest. 
"Na los, komm. Lass uns fahren", meinte sie schließlich. Wir sammelten meine Koffer wieder ein und machten uns dann gemeinsam auf den Weg nach Clamart. 

Paris (Julian Draxler FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt