Kapitel 19 - Jemanden zum Reden

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"Und dann hast du ihn weg geschickt?", fragte meine Schwester mich mitfühlend über Skype.
"Ja, ich hab das nicht ausgehalten..."
"Aber du hast doch seine Nummer, oder?"
"Ja, wieso?"
"Lösch sie nicht! Behalt sie. Irgendwann würdest du es bereuen, wenn du ihm seine Chance nicht gibst", riet sie mir.
"Meinst du?"
"Ja, ich glaube, er ist einer der Wenigen, die dich da raus holen können."

Es war irgendwie so komisch gewesen, als er hier bei mir war. So als würde mein Unterbewusstsein wissen, dass ich keine Angst vor ihm haben musste. Ich fand es nicht einen Moment lang unangenehm, dass er da war. Ich fand es auch nicht schlimm, dass er mich geküsst hat. Ich hab nichts dabei empfunden, aber es war okay.

Lisa hatte mir erzählt, dass sie ihm auf dem Flur noch einmal begegnet war. Er war wohl ziemlich fertig. Er hatte Tränen in den Augen, als er ihr sagte, dass er das so niemals gewollt hatte. Ich wusste nicht, ob es falsch von mir war, ihn erst einmal ein bisschen aus meinem Leben auszuschließen. Aber andererseits hatte es auch nicht wirklich viel Sinn, wenn ich nicht bereit dafür war. Ich war noch nicht bereit dafür, den letzten Monat mit ihm aufzuarbeiten. Ich wusste nicht, was auf mich zu kommen würde, wenn ich nach Hause kam. Von meiner Mom wusste ich, dass ich in Susans alte Wohnung gezogen war, aber alles ein wenig umgestellt hatte. Ich würde schon Schwierigkeiten haben, mich dort zurecht zu finden, wie sollte ich dann mit meinem "Freund" umgehen, an den ich keinerlei Erinnerung hatte. 

Bei meiner Arbeit hatte ich mich auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen. Lisa meinte, ich sollte kündigen, das wäre eh nicht gut genug für mich gewesen. Ich hatten meinen Job immer gemocht, aber irgendwie hatte sie schon Recht. Mir fehlten dort die Herausforderungen. Aber es hatte trotzdem Spaß gemacht. Deshalb war ich unentschlossen und hatte keine Ahnung, deshalb beließ ich es erst einmal bei dem Urlaub.

Drei Wochen verbrachte ich in dem blöden Krankenhaus, bis ich endlich nach Hause durfte. Es war ein Schock, in meine Wohnung zu gehen, aber ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Meine Mutter war sowieso schon viel zu überfürsorglich. Nur mit großer Mühe und Not schaffte ich es, sie am zweiten Tag davon zu überzeugen, dass sie ruhig nach Hause gehen konnte. 
Kaum war sie gegangen, saß ich weinend auf dem Sofa und trauerte meinen Erinnerungen hinterher. 
Ich brauchte jemanden zum Reden. Susan arbeitete zu dieser Zeit und meine Mom würde mir vermutlich wenig helfen können. Also rief ich bei Lisa an. Ich ließ das Telefon ewig lange klingeln, aber sie hob nicht ab. Na klasse! Laura und Tabea waren heute auch unterwegs. So ein Mist!
Also lag ich da einfach weiter alleine und starrte die Decke an. Plötzlich kam mir Julian wieder in den Sinn. Ob ich ihn anrufen konnte? Hatte er Training oder sowas? Und wollte er überhaupt mit mir sprechen?
Ich rang eine ganze Weile mit mir, starrte den grünen Hörer an und drückte schließlich darauf. Jedes einzelne Tuten kam mir vor wie eine Ewigkeit. 
"Draxler", meldete er sich aber schließlich. 
"Hey", schniefte ich leise. 
"Emily?" Sofort klang er besorgt, vermutlich weil ich - mal wieder - weinte. Ich nickte, obwohl er das ja gar nicht sehen konnte.
"Ich glaube, ich brauche grad einfach nur jemanden, damit ich nicht alleine bin", murmelte ich schließlich. 
"Ich bin für dich da, Kleine. Wo bist du? Bist du schon wieder Zuhause?", wollte er wissen.
"Ja, seit gestern... Ich erkenne meine eigene Wohnung nicht wieder!", schluchzte ich auf. 
"Es wird alles gut. Du wirst dich bald wieder zurecht finden", versuchte er verzweifelt, mich zu beruhigen.
"Ich wollte mir vorhin eine heiße Schokolade machen. Ich weiß noch nicht mal, wo ich Schokolade habe! Hatte ich überhaupt Schokolade?"
"Ich kenne niemanden, der Schokolade mehr verehrt als du! Ich weiß aber auch nur, dass du dafür mal auf einen Stuhl geklettert bis."
"Also doch der Süßigkeitenschrank? Hab ich dann einfach alles aufgebraucht und muss nur welche kaufen?" So langsam wurde ich ein wenig ruhiger. Ich stand auf und schnappte mir ein Taschentuch, um mir die Tränen weg zu wischen. 
"Dann geh los und hol dir welche", forderte er sanft. 
"Okay... Ist es eigentlich okay, dass ich anrufe? Ich meine, wenn du keine Zeit hast oder nicht mit mir sprechen willst, dann..."
"Nein, nein, ich freu mich, dass du angerufen hast! Ich wollte dich so oft anrufen in den letzten Tagen, aber ich hatte Angst, dass du das nicht willst", gestand er. Ich weiß nicht... wollte ich, dass er sich ab und an bei mir meldete?
"Darf ich dich zum Einkaufen mitnehmen?"
"Na klar", lachte er. 
"Und du hast wirklich nichts Besseres vor?"
"Nein, ich sitze gerade auf meiner Terrasse in der Sonne. Ich war zu faul, um heute noch los zu gehen. Ich bin vor einer halben Stunde vom Training zurück gekommen", erzählte er mir. 
"Wie gefällt es dir denn?" Ich versuchte umständlich meine Jacke anzuziehen und dabei nicht das Handy durch die Gegend zu schmeißen. 
"Es ist toll hier! Ich fühle mich wirklich wohl mit dem Team."
"Das ist schön zu hören", lächelte ich und es freute mich wirklich. Es war gut, dass durch mich nicht auch sein Leben den Bach runter ging. 
"Geht es dir denn jetzt wieder gut? Also, hast du noch Schmerzen?"
"Es geht inzwischen. Mein Arm ist noch immer verbunden, weil da so viele Glassplitter drin waren. Und einen Marathon würde ich auch nicht überleben, aber ansonsten geht's mir schon besser."
"Das ist schön! Fährst du dann jetzt mit dem Bus in die Stadt? Oder ist bei dir in der Nähe auch ein Supermarkt?"
"Ich gehe zu Fuß. Ich fahre nicht Bus..." Ich hatte mir geschworen, nie wieder in so ein Ding einzusteigen. Ich bekam schon Panik, wenn einer an mir vorbei fuhr. 
"Tschuldige, ich wollte nicht..."
"Nein, ist schon gut. Ich werde einfach nie wieder mit so einem Ding fahren", seufzte ich und verließ das Haus. Julian wusste wohl genau so wenig wie ich, was er dazu sagen sollte. Generell wurden wir immer schweigsamer. Was konnte ich ihm auch schon großartig sagen. Vielleicht war es ja doch eine blöde Idee gewesen, ihn anzurufen. Anderseits ging es mir inzwischen deutlich besser, als vor dem Telefonat. 

"So ich bin wieder Zuhause", berichtete ich ihm und stellte meinen Einkauf auf den Küchentisch. Ich nahm die Kopfhörer aus meinem Telefon und sprach wieder normal. 
"Dann mach dir jetzt mal deine Schokolade", schmunzelte er. 
"Bist doch nur neidisch", neckte ich ihn ein wenig und lauschte dann seinem Lachen. An das Lachen könnte ich mich wirklich gewönnen. 
"Geht's dir wieder besser?"
"Ja, danke dir!"
"Immer! Ruf mich bitte wieder an, wenn du jemanden zum Reden brauchst, ja?", bat er mich. 
"Wenn ich dich damit nicht nerve..."
"Du nervst mich nicht", meinte er mit einem leichten Seufzen. Irgendwie hatte das niedergeschlagen geklungen. War es eben doch so oder lag es an dem Satz? Ich traute mich nicht zu fragen. 
"Also dann, danke", murmelte ich. 
"Darf ich mich wieder bei dir melden? Dir mal schreiben oder so?" Die Hoffnung in seiner Stimme brachte mich zum Lächeln. 
"Ja."
"Okay."
"Mach's gut!"
"Werde schnell wieder ganz gesund."
"Ich versuch's."
"Dann bis bald", lächelte er. 
"Bis dann..."

Paris (Julian Draxler FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt