Der Notfallplan

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Ich könnte ...
Ich muss nur ...

Meine linke Hand führt die Scherbe an meinen rechten Unterarm. Kurz lache ich, über die Ironie, die mir erst jetzt auffällt. Früher hieß es, weibliche Linkshänder wären vom Teufel besessen. Er nennt mich nicht einmal beim Namen, weil er keinen Vergleich mit Lucifer und mir zulässt.

Weiß er, dass ich Linkshänder bin?

Ich zittere. Die spitze Kante müsste nur in mein Fleisch schneiden. Vielleicht dann auch in der anderen Seite, dann würde es schneller gehen. Ich müsste mir meinen Kopf dann nicht mehr über ihn zerbrechen.

Es wäre ... so befreiend.

Die angestaute Luft in meinen Lungen atme ich aus, im selben Moment lasse ich das tödliche Werkzeug aus meiner Hand fallen. Die Scherbe zerbricht in zwei Teile. Und das alles wie in Zeitlupe.

Ich kann mich jetzt nicht umbringen.
Es würde zwar meine Probleme lösen, aber es wäre auch Selbstsüchtig.

Mein ganzer Körper sträubt sich dagegen.

Denn ... ich würde meine Mutter zurücklassen. Meinen Vater. Eltern haben es nicht verdient, dass ihr Kind vor ihnen stirbt. Und meine Schwester würde während ihres Studiums in Kanada davon erfahren. Meine Großeltern, Freunde und gute Bekannte. Es wäre falsch. Auch wenn ich jetzt so gerne frei wäre.

Außerdem ... wer weiß was er dann meiner Familie antut?

Den spitzeren Teil der Scherbe hebe ich wieder vom Boden auf, krame aus dem Handtuchschrank ein kleines dünnes Putztuch und wickle es darin hinein. Vom Badezimmer gehe ich in mein Zimmer, ziehe mir einen schwarzen Pullover und eine schwarze Jogginghose an und stecke das Päckchen in einer meiner Hosentaschen. Es ist mein Notfallplan. Dann laufe hinunter ins Wohnzimmer und wieder hinauf.

„Lucia?", ruft Mum zu mir hoch.

„Ja?", rufe ich hinunter. Wieder gehe ich ins Badezimmer.

„Bist du fertig? Deine Pizza ist schon kühl und du warst ja gerade wieder unten ..."

„Gleich. Ich habe mich nur geschnitten."

„WAS?" Ich höre, wie sie die Treppen hoch stürmt.

Ich schnappe mir die Flasche mit Alkohol und gieße mir den Rest über meine Hand. Mit Schock geweiteten Augen sieht sie sich die Szene im Badezimmer an.

„Was ... ist passiert?"

„Ich habe ausversehen deinen Taschenspiegel fallen lassen. Als ich alles wegräumen wollte, habe ich mich selber in die Hand geschnitten. Ich wollte die Wunde mit dem Sliwowitz reinigen, den ich gerade geholt habe, dabei ist mir aber ein Teil der Flasche in der Dusche umgekippt und den Rest nun über meine Hand. Tutmirleidmum." Ich senke meinen Blick.

Hoffentlich glaubt sie mir.



Der einzige Grund, warum meine Mutter sauer auf mich war, war der, dass ich sie nicht gleich gerufen habe, als ich den Spiegel fallen ließ. Schließlich hätte mir sonst was passieren können. Manchmal wüsste ich gerne, wieso sie in einigen Situationen so überfürsorglich ist und in anderen wieder nicht.

Ich bin verdammt froh sie zu haben.

Sie verarztete meine Wunde, gab mir Fiebersaft, brachte mich zu Bett und sang ein altes Gute Nacht Lied vor. Die Pizza holte sie mir hoch und verließ dann den Raum, um mir ein wenig Ruhe zu geben. Danach setzte ich mich im Bett an meine Geschichtshausaufgaben und dann an die Chemieausarbeitung, um meine 12 Punkte halten zu können. Ich brauchte länger als sonst, auch für die Matheberichtigung, da meine Gedanken nicht bei mir waren. Und gerade für das Fach Kunst, einer meiner Liebsten Fächer, brachte ich nichts auf Papier. Zum Glück habe ich dafür noch ein wenig Zeit.

Und dann fing ich an zu weinen.



„Mum?" Meine Stimme klingt wieder wie die eines kleinen Mädchens. Meine Augen sind sicher noch rot.

„Püppi?", sie blickt von ihren Zeitschriften auf. „Püppi, was ist denn los? Komm her." Ihre Arme öffnet sie und auf der Couch macht sie Platz.
Ich tapse zu ihr und lege mich in ihre Arme. Das unwohle Gefühl in meinen Körper verstärkt sich, aber ich ignoriere es. Ich will jetzt bei meiner Mama sein. „Ich weiß nicht was los ist.", nuschle ich, „Können wir zusammen Fernsehen sehen?"

„Alter Kindervideos?" Das mag ich so an ihr. Sie drängt mich fast nie zu antworten und nimmt sich immer Zeit für mich.
Ich nicke in die Umarmung hinein und sie macht wahllos ein Video an. Wir lachen, machen uns über die Klamotten lustig, die ich als Kleinkind unbedingt tragen wollte und schwelgen zusammen in Erinnerungen.
Ein lautes Piepen ertönt. Ich zucke zusammen.

„Seit wann bist du denn so schreckhaft? Das ist doch nur die Eieruhr."

„Was machst du denn leckeres?"

„Kuchen. Für die Krankenschwestern im Krankenhaus, die sich um deinen Dad kümmern. Ich würde ihnen gerne für ihre Arbeit danken. Ich bin gleich wieder da." Sie steht auf und verlässt das Wohnzimmer. Auch ich rapple mich auf und gehe in mein Zimmer. Vielleicht fällt mir ja etwas für Kunst ein, während ich die Videos mit Mum schaue. Während ich nach meinen Zeichenblock greife, fällt mein Blick auf meinen Nachttisch.

Dort liegt mein Handy.

Und ich bin mir sicher, dass es zuvor da noch nicht lag.


 

„Was ist Mum?" Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, sitzt sie mit offenen Mund da.

„Ich wusste nur nicht, dass dein Vater das Video gespeichert hat.", spricht sie leise.

„Was ist denn damit?"

„Ich habe deinen Vater gesagt, dass ich mich an den Tag nicht erinnern möchte."

„Mum? Was ist los?" Ich trete näher an sie heran. Langsam mache ich mir Sorgen. „Mum?"

Ich sehe wie sie schluckt. Im selben Moment vibriert mein Handy. Resigniert nehme ich es aus meiner Hosentasche. All meine Kontakte sind gelöscht, all meine Nachrichten. Alle, bis auf eine. Und die wurde gerade erst gesendet. Angespannt tippe ich auf das kleine Nachrichten Symbol.

>Viel Spaß beim Film.<

Ich muss mich zusammenreißen, damit ich mein Handy nicht gegen die Wand schmeiße.

Womit habe ich das verdient?

Auch ich starre nun gespannt auf den Bildschirm. Mein Herz sackt mir in die Hose. Meine Erinnerungen vermischen sich mit den des Films.

„Das ist doch ..."

Zwischen Schönheit und Selbstsucht (Jeff the Killer FF/ Lovestory)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt