Den Kunstraum betritt sie als Erste. Als Einzige. Denn die vierte Stunde dauert noch wenige Minuten, weshalb sie den geräumigen Raum ganz für sich alleine hat.
Für sich und ihre Bilder.
Ihre Gedanken.Ruhig geht sie zu ihrem Platz ans Fenster. Es ist ein schräges Dachfenster, wie in ihrem Zimmer. Seit der Fünften Klasse hat sie immer diesen Platz für sich gewählt. Die ganzen kleinen Kritzeleien sind Zeugen dessen. Geändert hat sich der Raum in den letzten Jahren nicht. Schon immer hat er nach Leim und frischer Farbe gerochen. Einen Geruch den Lucia liebt. Den sie auch jetzt freudig wahrgenommen hätte, wenn sie nicht so vertieft in ihren Gedanken wäre.
Gedanken, die sie nachts nicht schlafen lassen.
Die Leinwände legt sie auf den Tisch vor sich ab, reiht sie aneinander, damit sie auf einen Blick zusammen betrachtet werden können. Nachdem sie ihre Bilder so davorstehend noch eine Weile betrachtet hat, zieht sie den Stuhl zurück um sich niederzulassen.
„Huch, Lucia, du bist ja schon hier.", ertönt eine erschrockene Stimme hinter ihr. Würde das blonde Mädchen sich umdrehen, würde sie ihre Kunstlehrerin erblicken, die in einer Hand einen Becher voller abgenutzter Pinsel hält und sich ihre Haare mit einem Stift zurück geknotet hat. „Wo bleiben denn die anderen?"
„Die anderen haben noch eine Minute Unterricht.", teilt Lucia auf die Uhr schauend mit.
„Und warum bist du denn schon hier?" Die Lehrerin geht zu ihrem Pult und stellt die Pinsel ab.
„Ich bin erst gerade in die Schule gekommen." Früher hätte sich das junge Mädchen bei dieser Aussage geschämt. Vor der Nacht von ihrem Geburtstag.
Lucia bereitet sich auf weitere Fragen vor, die sie ehrlich beantworten wird, aber es kommen keine. Auch ihre Kunstlehrerin hat von der Situation mit ihrem Vater Bescheid bekommen und empfindet es als noch zu 'frisch', um ihr dafür Ärger zu geben. Sie hätte es auch verstanden, wäre Lucia die ersten Tage gar nicht erst zur Schule gekommen.
Schnell wechselt sie also das Thema. „Du hattest deine Arbeiten ja schon vor zwei Wochen abgegeben. Ich habe auch schon eine Note für dich. Möchtest du sie schon wissen?"
Erst jetzt wendet sich das Mädchen ihrer Lehrerin zu. Ihren Arm stützt sie auf der Lehne ihres Stuhls. Lucia weiß, dass sie für ihre erste Arbeit eine Eins von ihr bekommen wird. Und damit hat sie nicht unrecht. „Ehrlichgesagt, nein." Ihre Finger reibt sie aneinander. „Ich habe neue Arbeiten angefertigt. Arbeiten, mit denen ich mich mehr identifiziere. Inzwischen identifiziere. Die alten Werke – sie – sie sind nicht mehr von mir. Das bin ich." Mit ihren beiden Flachen Händen deutet sie auf die Leinwände vor sich. „Das ... das bin ich.", murmelt sie wieder. Ihre Hände zittern dabei. „Ich."
Erst jetzt sieht sich die Kunstlehrerin ihre Schülerin an. Die Farbe in ihren Haaren, in ihrem Gesicht und auf ihrer Kleidung hatte sie gar nicht bemerkt. Sie selbst umgibt immer soviel Farbe, dass sie die teilweise bei anderen schon gar nicht mehr wahrnimmt. Und jetzt wo sie die ganzen Farbreste an Lucia entdeckt, entdeckt sie auch ihre dunklen Augenringe. Die Augenringe und die leicht geröteten Augen. Das zittern ihres Körpers und die Blässe in ihrem Gesicht.
Sie sieht den Schatten ihrer Schülerin.
Sie tritt an ihre Schülerin heran, um sich ihre Werke anschauen zu können. Und ihr bleibt die Luft weg, als sie diese sieht.
„Du hast diese Bilder gemalt?", will sie die Lehrerin versichern. Es sind eindeutig die Pinselstriche von Lucia, denn die Schülerin hatte ihre ganz eigene Technik. Aber der Inhalt ...
Er ist so ...
Brutal.
„Ja." Lucias Hände sind immer noch auf ihre Werke gerichtet. Erst jetzt lässt sie sie langsam sinken. „Es sind meine Gedanken.", flüstert sie. Ihre Lippen bewegen sich kaum. Ihre Mundwinkel ziehen sich nur ein wenig nach oben.
Die Lehrerin presst ihre Lippen zusammen. Sie weiß nicht was sie sagen, geschweige denn denken soll. Natürlich malen einige der Kinder immer wieder Bilder die Gewalt verherrlichen, Blut und Tot zeigen, aber ... es sind nie verstörende Bilder.
Und diese Bilder sind es.
'Was mag sich wohl in dem armen Mädchen abspielen?', denkt sie sich besorgt. ‚Aber dennoch ... es sind wahre Kunstwerke.'
„Woran hast du gedacht, als du die Bilder gemalt hast?" Sie legt ihren Kopf schief.
„An die letzten Tage. Ich habe an alles gedacht."
„Und der Engel?" Der weiße Engel, der aus dem ganzen Blut hervorsticht.
„Das bin ich." Die Stimme wird noch leiser. „Er nennt mich sein Engel. Sein Mal'ach."
Die Lehrerin weiß nicht von wem sie redet. Sie denkt sich ihren Teil. Doch leider liegt sie falsch.
Sie denkt nicht, dass Lucia von dem Monster redet, der die ganzen toten zu verschulden hat.Nein.
Sie denkt sie redet von ihrem Vater.
Sie schiebt die Bilder auf die Situation mit ihrem Vater.Was auch nicht gänzlich falsch ist. Es ist nur nicht alles.
Oh.
Wenn die Lehrerin nur wüsste.Bevor sie Lucia erneut eine Frage stellen kann, wird die Tür zum Kunstraum aufgestoßen und die Mitschüler von Lucia strömen ein. Stimmengewirr dringt durch den Raum, bis die Aufmerksamkeit aller auf Lucia, die Lehrerin und den Bildern gerichtet ist. Sie alle versuchen einen Blick auf die Szene zu werfen, wodurch es wieder ganz leise wird.
„Ach, zum Kunstunterricht kann Lucia also kommen.", bricht Lukas die Stille.
Als Lucia seine Worte wahrnimmt, blickt sie zu ihm auf.
„Und deine Bilder? Willst du wieder mal im Mittelpunkt stehen? Wie letztens in Mathe?" Sein Ton wird immer spöttischer.
Sofort fasst sich Lucia an ihre Wange. Sie schluckt. Ihre Augen funkeln. Nicht mal ihr Vater wüsste jetzt was in ihr vorgeht. Doch sie blinzelt ganz ruhig.
„Oh schaut mal her. Ich bin Lucia. Und ich habe mal wieder ganz tolle Bilder gezeichnet. Ich kriege dafür bestimmt wieder eine Eins Plus mit Sternchen. Achja, und was ich gemalt habe?", er lacht gekünstelt hoch, „ach das. Das sind nur ein Haufen toter Menschen. Oh? Und das?", er deutet auf eine Person auf der größten der Leinwände. Auf die Massen der toten Menschen „Das ist Lukas. Einer meiner Mitschüler."
„Lukas!", ermahnt ihn die Lehrerin. „So wirst du nicht mit deiner Mitschülerin reden."
Immer noch sitzt Lucia ruhig da. Mit einem wissenden Lächeln sieht sie ihn an. „Nein.", spricht sie deutlich. „Das bist nicht du." Sie steht von ihrem Stuhl auf und zeigt auf eine andere der Leichen. „Das. Das bist du. Nein warte -", sie räuspert sich kurz, als hätte sie einen Kloß im Hals. „Das wirst du sein." Und in ihren Augen spiegelt sich etwas wieder, von dem sie vorher immer behauptet hat, dass es das nicht gibt. Doch es sind nur wenige Millisekunden.
Und Sekunden danach bricht sie in Tränen aus.
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Zwischen Schönheit und Selbstsucht (Jeff the Killer FF/ Lovestory)
Fanfiction*Abgeschlossene Geschichte* Für sie sind Menschen weder gut, noch böse. Sie sind Selbstsüchtig. Für ihn ist Schönheit ein Geschenk, eine Tugend. Nur er ist dazu gesinnt sie wahrhaftig zu erkennen. Beide sind klug, perfektionieren die List und glaub...