.:Kapitel 61:.

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NOEL POV


Mexico City, Heiligabend 2005

"Noel, du musst jetzt gehen, mein Kleiner", weist mich die Oberschwester an. Zögernd nicke ich, führe das letzte Stück Torte in meinen Mund und setze den Teller auf den Nachtisch ab. "Ich komme Morgen wieder, Granny", flüstere ich, ihr ins Ohr und hauche ihr ein Kuss auf die Schläfe.

"Wer? Bist du das Henry?", murmelt sie bevor sie die trüben Augen wieder schließt. "Nein", wispere ich, halte einen Moment inne und hüpfe dann von ihrem Bett runter. Henry ist mein im Koreakrieg gefallener Großvater. Da meine Granny Demenz Krank ist verweilt sie in der Vergangenheit. Selten erinnert sie sich an die Gegenwart. Manchmal passiert es aber, dass sie für einen Moment klare Gedanken hat und sich wieder an mich erinnert. Leider war es heute nicht der Fall.

"Komm gut Heim!", sagt die Oberschwester während sie den Tropf meiner Granny wechselt und ich nicke freundlich. Auf dem Flur wurden die Lichter schon gedämmt. Wie immer habe ich die Besuchszeit überzogen. Die jüngeren Schwestern winken mir hinter der Scheibe zu und ich erwidere es. Das Altersheim ist sozusagen mein zweites zu Hause. Seit meine Granny vor 2 Jahren eingewiesen werden musste, verbringe ich die meiste Zeit nach der Schule hier und gehe nur zum Schlafen in dieses Haus.


******


Ich reibe meine durchgefrorenen Hände aneinander, in der Hoffnung sie etwas zu wärmen und beobachte die zwielichtigen Männer die wieder einmal vor unserem Haus rumlungerten. Es waren zwar andere Männer, jedoch hatten sie dasselbe Ziel. Geld. Das ihnen meine Mama höchstwahrscheinlich schuldete. Dabei bekam sie, neben ihrem Job, genug Ziehgeld von meiner Granny für mich und schaffte es trotzdem nicht.

Sie werden wohl allzu schnell nicht verschwinden. Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch und schleiche mich unauffällig davon. Die Straßen sind leer. Alle sind Daheim bei ihren liebsten. Ungewöhnlich sogar für Schuldeneintreiber am Heiligabend vor der Matte zu stehen.

Zum Altersheim kann ich nicht zurück. Ich habe wohl keine andere Wahl, als dorthin zu gehen. Schnell überquere ich den Zebrastreifen und laufe durch die festlich geschmückten Straßen.

Meine Granny war streng katholisch und wir haben zwar Weihnachten gefeiert, aber es gab keine Bescherung. Nicht mal mein Geburtstag am selben Tag, wodurch ich übrigens den Namen „Noel" bekam, war Grund genug für sie.

Obwohl ich noch nie in meinem Leben ein Geschenk wie meine Altersgenossen ausgepackt habe hege ich, keinen Groll gegen sie. Dank meiner Granny hatte ich überhaupt eine Chance zum Leben. Auch wenn sie wirklich streng war, hatte sie mich geliebt und bis zu meinem 8-Lebensjahr war alles Perfekt. Dann wurde sie leider Krank und die Frau, die mich niemals wollte wurde das Sorgerecht aufgezwungen. Meine leibliche Mutter. Letztendlich wegen des Geldes willigte sie ein mich aufzunehmen. Doch ließ mich immer wieder spüren, wie ungewollt ich doch war. Am ersten Tag unserer Begegnung erzählte sie mir mit einem Schmunzeln auf den Lippen, dass sie immer wieder auf ihren Bauch einschlug, als Granny ihr verboten hatte mich abzutreiben. Aber ich hartnäckiges Ding wollte einfach wohl nicht sterben.

Ich versuchte sie zu verstehen. Eine 14-jährige wurde durch einen Schabernack, mit ihrer Freundin wer die meisten Kerle im Zug bis zum nächsten Bahnhof vögelt schwanger. Die Wette hatte sie zwar verloren, jedoch war ich ihr Trostpreis. Das ist bestimmt nicht leicht gewesen zu verdauen.

Der Türsteher, mit dem Schlangen Tattoo am Hals vor dem Neon-Pink beleuchteten Eingang schaut mich prüfend an und winkt mich durch. Was komisch ist denn sonst muss ich immer draußen auf sie warten.

Laute Musik empfängt mich, wozu sich Mädchen in knappen Outfits an der Stange rekeln. Schallendes Gelächter ertönt und manche Mädchen sitzen auf Männerschößen. Es riecht nach Alkohol, Parfüm, Tabak und Schweiß. Ja, meine Mama gehört in diese Welt. Sie ist eine Stripperin.

1. Straight but obsessed by him (boyxboy) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt