Kapitel 45

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Ich sah wie sich Mister Crewsten Lippen bewegten, hörte jedoch nichts. Die Wände schienen immer näher zu rücken, ich konnte meinen eigenen Herzschlag hören, sogar meine Atemzüge nahm ich deutlich wahr. Ich wusste nicht ob es die Wut oder das Entsetzen war, das mich meine Umgebung so deutlich wahrnehmen ließ. Früher, bevor ich hierher gekommen bin, habe ich immer Bücher gelesen. Dort wurde dieses Gefühl oft als 'Ruhe des Kampfes' beschrieben. Doch immer hatten die Menschen Waffen; Schwerter, Bögen und Dolche, in den Händen. Doch diesmal waren es keine Schwerter, die man gegen mich verwendete. Diese Waffe war viel mächtiger. Sie nutzen meine Liebe als Waffe gegen mich selbst. Dadurch wurde mir jetzt eines klar: Liebe heißt nicht automatisch glücklich sein, Liebe kann viel schneller Zerstörung anrichten. Finn sah mich an und alleine das trieb mir wieder Tränen in die Augen. Wieder sagte er meinen Namen. 'Leo'. Das war mein Spitzname. Nicht 'Lala', 'Lele' oder etwas in der Art. Anfangs dachte ich, dass mir der Name 'Leo' einfach besser gefiel als die anderen, doch mit der Zeit wurde mir die eigentliche Bedeutung klar: 'Leo', eigentlich ein Name für Jungen, sollte für den männlichen Teil der Familie stehen, der fehlte. Ich wusste nicht, wer mein Vater war, ob er noch lebte und wie er hieß. Ich wusste nichts über ihn. Meine Mutter sprach nicht über ihn und Fotos oder sonstiges sind nirgends zu finden. Auch Finn machte das immer wieder zu schaffen. Immer wieder habe ich versucht unseren Vater zu ersetzen, doch es hatte nie gänzlich funktioniert und das würde es auch nie. Selbst wenn wir hier lebenden herauskommen wird die ganze Welt sich für uns beide ändern. Wir müssten in ständiger Angst leben, dass uns nocheinmal so etwas passierte. Angst würde unser Leben bestimmen und ein Leben nur mit Angst ist kein Leben. Es ist eher eine Existenz. Du existierst nur noch - trinkst, isst, schläfst - doch leben wie früher wirst du nie wieder. Als Leben wird der Zustand beschrieben, dass jemand oder etwas nicht tot ist, doch Angst nimmt einem einen Teil von sich selbst, sie tötet einen von innen heraus. Ein leises Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Finn hatte eine Hand gegen die Scheibe gedrückt, seine kleinen Augen glitzerten feucht und eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und lief ihm die Wange hinunter. Ich wollte ihm die Träne wegstreichen, legte aber stattdessen meine Hand an seine. Nur getrennt von einer Glasscheibe, die nicht mal sonderlich dick zu sein schien. So wenige Zentimeter, die mich und Finn trennten. Mir stiegen ebenfalls Tränen in die Augen, die ich jedoch mit viel Kraft unterdrückte. Stark bleiben. Flüsterte ich mir in Gedanken zu. Für ihn. Weitere Tränen rollten Finns Wangen hinunter, seine Schultern bebten und ich konnte mir vorstellen wie sein Schluchzen den Raum erfüllte. 'Alles wird gut.' Formte ich mit meinem Mund und hoffte, dass er mich verstand. "Alles wird gut." Flüsterte ich nochmals. Ich wollte es mir selbst einreden, auch wenn es klar war, dass dem nicht so sein würde. Wenn eines klar war, dann, dass nie wieder alles gut sein würde. Ein leises Geräusch erfüllte den Raum, das Knacken eines Lautsprechers, das mich an die Zeit der Versuche erinnerte. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Kurz drauf ertönte ein leises Räuspern. Dann fing die Stimme an zu sprechen, die ich mehr als alles andere hasste. "Willkommen zu Versuch 9! Heute testen wir die Beziehung zwischen Bruder und Schwester und nebenbei auch noch einige kleinere Versuche. Also liebes Testobjekt 31 und Testobjekt 47, wehrt euch nicht. Lasst es zu." Seine Worte ließen mich erstarren. Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte sprach er weiter. "Na, kommen da alte Erinnerungen hoch, Testobjekt 31?" Finn sah mich fragen und zugleich eingeschüchtert an, doch das nahm ich kaum wahr. Alte Bilder blitzen vor meinen Augen auf, Bilder die ich nice wieder sehen wollte. Carlos, Avery, Kim, John und Mark. Allesamt tot. Gelitten unter den Versuchen dieser Schweine. Meine Unterlippe begann zu zittern, diese Bilder voller Blut und Tod wollten nicht verschwinden. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und schloss die Augen, während ich zitternd ein und aus atmete. Tränen stiegen mir in die Augen und verließen diese fast sofort wieder. Meine Wangen waren schnell nass und mein gesamter Körper zitterte. Ein höhnisches Lachen drang aus den Lautsprechern. "Immernoch so schwach wir vorher. Jedoch wollen wir uns nicht mit der Vergangenheit beschäftigen. Lass und lieber zu unserem heutigen Versuch kommen. Dein Bruder, Testobjekt 47 mit dem Namen 'Finn'", er sagte diesen Namen als wäre er etwas schlechtes, seine Stimme triefte vor Missbilligung. "Wird uns als Testobjekt fungieren, genauso wie du. Du bist aber eher passiv, dich brauchen wir ja noch. Doch... lege es nicht drauf an. Die kann man ersetzen und das ist einfacher als du denkst. Ersetzen ist immer einfacherer als Erneuern." Ich war mir nicht sicher, ob Finn Mister Crewsten Worte ebenfalls hörte, denn er sah für die Situation in der er sich befand relativ entspannt aus. Seine Augen, die besorgt und gleichzeitig ängstlich aussahen, fixierten mich. Ich schluckte. Was wollten sie mit Finn anstellen ? Sie konnten ihn nicht töten, das würden sie nicht tun. Ich würde das nicht zulassen. Niemals. "Also lasst den Versuch beginnen." Finn zuckte zusammen, was darauf schließen ließ, dass er Mister Crewstens Worte gehört hatte. Zumindest seinen letzten Satz hatte er mitbekommen. Voller Panik sahen wir uns in die Augen. Einige Minuten lang geschah rein gar nichts. Mister Crewsten grinste immernoch höhnisch, doch ich glaubte etwas anderes in seinem Blick zu sehen, so etwas wie Vorfreude. Da wurde mir klar, dass das alles hier aussichtslos war. Im nächsten Moment begann Finns Raumteil sich mit Wasser zu füllen.

Testobjekt 31Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt